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Das lange Schweigen

"Das musste raus, endlich!" Mit dieser Fanfare kommentiert der Nobelpreisträger im Interview sein spätes Bekenntnis der Mitgliedschaft bei der Waffen-SS. "Das musste raus!"

Von Hajo Steinert |
    Klingt wie "Alles muss raus!" Ein typischer Satz aus unserer Warengesellschaft. Liest man auf den Schaufensterscheiben, wenn mit Sonderpreisen zum Schlussverkauf geblasen wird. Natürlich ist auch das vor der Buch-Veröffentlichung mit Lebenserinnerungen des Autors im Zeitungsinterview vorab herausposaunte Bekenntnis des Autors in eine Jugendsünde den Marktgesetzen der Warengesellschaft geschuldet, Teil einer Marketing-Strategie, als deren Handlanger die Frankfurter Allgemeine Zeitung agiert.

    Hätte man ein Interview mit dem Autor nicht nach dem Erscheinen des Buches führen und drucken können? Dürfen sich die Leser nicht unvoreingenommen ein Bild machen von der angeblichen Brisanz gewisser Passagen in diesem Buch? Erst der Text, dann die Fragen – eine gute alte Sitte literarischer Kommunikation wurde mal wieder über Bord geworfen. Vor dem Text der Talk – so lautet heute die Devise.

    Wann immer in den vergangenen Jahren ein neues Buch von Grass aktuell auf den Markt kam, gab es kurz vor Erscheinen ein strategisch scharf inszeniertes Medienspektakel, eine Begleitmusik, die an Lautstärke dem eigentlichen, durchaus nicht immer glanzvollen literarischen Ereignis – der Text selbst, und die darauf folgende Literaturkritik – weit überlegen war. Und alle machen dabei gerne mit: der Verlag - klar, er will gut verkaufen -, der Autor selbst und leider auch die ‚fellow travellers’ in den Medien, die in der Diskussion dieses Wochenendes, wie erhofft, hitzig die Frage diskutieren, ob es moralisch verwerflich sei, dass Günter Grass als Siebzehnjähriger der Waffen-SS beigetreten sei und heute erst, als 79-jähriger, das Geständnis ableistet.

    Natürlich ist allein die Tatsache, dass der damals Siebzehnjährige das Abenteuer suchte und irgendwie bei einer Einheit der Waffen-SS landete, von uns, die wir den Nationalsozialismus und seine Verführungsapparate nicht erlebt haben, weder moralisch noch politisch zu verurteilen. Mehr als Fragen stellen ist uns kaum erlaubt. Mehr als befremdlich ist allerdings, dass ausgerechnet Günter Grass, ein Autor der sich Zeit seines schriftstellerischen Lebens gegen das Vergessen und Verdrängen der Umstände des Zweiten Weltkrieges ausgesprochen hat, erst heute sein Schweigen bricht. Er selbst spricht von Schweigen, es ist aber ein Verschweigen, dass er erst jetzt, viel zu spät, beendet hat. Immer wieder hätte es eine Möglichkeit für ihn, der bei allen sich ihm bietenden politischen Top-Themen, gerne in der Sprache des Mahners und Moralapostels auf den Plan tritt, immer wieder in den letzten Jahrzehnten hätte es für ihn die Möglichkeit gegeben, eine Aussprache über sein jugendliches Abenteurertum und die damit durchaus verbundenen biografischen, psychologischen und politischen Implikationen zu suchen.

    Mit einem früheren Bekenntnis zur Mitgliedschaft in der Waffen-SS hätte er zur Entkrampfung von ideologisch oft genug eklig verkrusteten politischen Diskussionen über den Umgang mit unserer Vergangenheit beitragen können. Zum Beispiel, als Helmut Kohl und Ronald Reagan 1985, von der internationalen Öffentlichkeit kritisch beäugt, auf den Soldatenfriedhof nach Bitburg gingen, wo Soldaten der Waffen-SS liegen, Körper also, denen etwas angetan wurde, was auch Günter Grass, der Glück hatte, hätte angetan werden können. Hätte Grass damals schon ein Bekenntnis abgelegt, die unselige Bitburg-Debatte hätte einen anderen Klang bekommen. Oder die vom Institut für Sozialforschung 1999 und 2001 inszenierte Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht". Auch wenn die Waffen-SS, streng genommen, nicht Teil der Wehrmacht war – ein Geständnis in sein Hineinrutschen in den Krieg nicht nur als Luftwaffenhelfer, sondern darüber hinaus als Mitglied der Waffen-SS hätte die aufgeregten Diskussionen damals entkrampfen können.

    Mehrfach hatte es in der Vergangenheit die Möglichkeit gegeben, über seine persönlichen Jugenderfahrungen im Krieg offen zu reden. Er selbst hat sich den Weg gewiesen. Er hat, wie im August 1961, eine Rede vor dem Deutschen Schriftstellerverband gehalten zum Thema "Wer schweigt, wird schuldig". Er hat weiter geschwiegen. 1983 hat er bei einem Schriftstellertreffen in Heilbronn eine Rede mit dem Titel "Den Widerstand lernen, ihn leisten und zu ihm auffordern" gehalten. Seine von Opfern handelnden Kriegs-Erinnerungen an den Sommer 1944 - an jene Zeit also, die auch in diesen Tagen wieder zur Diskussion steht - leitet er mit den Sätzen ein: "Ich muss von mir reden, von meiner Erfahrung, von meinen Hoffnungen und Enttäuschungen und von Einsichten, denen ich nicht mehr ausweichen kann." - Er ist, nicht nur damals in Heilbronn, er ist bis heute weiter ausgewichen.

    Nicht, dass Günter Grass literarisches Werk, das in der "Blechtrommel" und der "Danziger Trilogie" seine unbestrittenen Höhepunkte gefunden hat, seit dem heutigen Geständnis ins Zwielicht gerät – seine unzähligen politischen Statements, gedruckten Reden und Aufsätze der Vergangenheit müssen allerdings einer strengen Prüfung unterzogen werden. Nicht alle werden einer Hinterfragung Stand halten. Man wird Grass neu lesen müssen. Und auch beim Lesen des phasenweise unerträglich larmoyanten Interviews heute in der FAZ reibt man sich fassungslos die Augen. Gerade noch hat er sich mit Blick auf den eigenen schweren Lebensweg als ewiges Flüchtlingskind zwischen den Zeilen von einer jugendlichen Sünde selbst freigesprochen, trifft er seinerseits neue historische, ans Absurde grenzende Schuldzuweisungen. Und schuldig sind bei Grass – das kennen wir von ihm schon seit Jahrzehnten – natürlich nur die politischen Protagonisten der Nachkriegszeit. In Abgrenzung zu einer von Grass glorifizierten Aufbauzeit in der DDR sagt er, wer die wahren Schuldigen sind. Ich zitiere wörtlich: "Wir hatten Adenauer, grauenhaft, mit all den Lügen, mit dem ganzen katholischen Mief. Die damals propagierte Gesellschaft war durch eine Art von Spießigkeit geprägt, die es nicht einmal bei den Nazis gegeben hatte." - Ach, wäre der Katholik Günter Grass als junger Mensch doch mal in die Beichte gegangen. Da hätte er uns nicht erst viele Jahrzehnte später mit seinem heute herausposaunten Geständnis genervt.