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Der Dichter Warlam Schalamow
Das Leben im Zeichen des Todes schreiben

Warlam Schalamow schrieb auf, was er in knapp 20 Jahren am „Kältepol der Grausamkeit“ in Stalins Archipel Gulag erlebt hatte. Gedruckt wurden zu Lebzeiten nur seine Gedichte. Franziska Thun-Hohenstein erzählt sein Leben und analysiert sein Schreiben.

Von Jörg Plath |
Franziska Thun-Hohenstein: „Das Leben schreiben. Warlam Schalamow. Biographie und Poetik“ (links) und Warlam Schalamow: „Ich kann keine Briefe schreiben... Korrespondenz 1952-1978“ (rechts)
Warlam Schalamow blieb zeitlebens traumatisiert von seiner Gulag-Haft und musste gegen die Zensur in der UdSSR bestehen. Warum er dennoch zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Sowjetunion avancierte, lässt sich in Franziska Thun-Hohensteins Buch "Das Leben schreiben" nachlesen. (Buchcover: Matthes & Seitz Berlin, Hintergrund: picture alliance / Nikolai Nikitin)
Das Engagement des Verlags für den Autor, der den „Kältepol der Grausamkeit“ in Stalins Archipel Gulag überlebte und dessen Jahrhundertwerk jahrzehntelang unterdrückt, zensiert und verstümmelt wurde, ist gewaltig: Matthes & Seitz Berlin hat die siebenbändige Werkausgabe von Warlam Schalamow verlegt, dazu zwei Essay-Bände, einen Ausstellungskatalog und nun auch einen gewichtigen Briefband sowie eine opulente Biographie, verfasst von der Herausgeberin der Schalamow-Werkausgabe Franziska Thun-Hohenstein. Die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin hat den Titel „Das Leben schreiben“ gewählt. Sie hätte auch titeln können: Den Tod schreiben.
„Die Vernichtung des Menschen mithilfe des Staates markierte für Schalamow einen unhintergehbaren existentiellen und epistemischen Einschnitt. Das 20. Jahrhundert habe den Schock in die Literatur getragen, die russische Literatur aber habe diese Zäsur nicht wahrgenommen. Seine Aufgabe als Schriftsteller verstand Schalamow als literarische Intervention in das staatlich verordnete Schweigen über den Terror in der Sowjetunion. Das bedeutete, er musste eine neue literarische Formensprache finden, die der Dimension des ungeheuren Geschehens gerecht wurde.“
Warlam Schalamows Hauptwerk, der sechsteilige Zyklus von meist kurzen „Erzählungen aus Kolyma“, ist ein einziges Attentat auf den Leser. Ihm wird nichts erspart. Er wird ohne Einleitung, ohne Erklärung, ohne Distanz hineingeschleudert in eine unmenschliche Welt mit Temperaturen unter minus 50 Grad und ein oft rätselhaftes Geschehen unter Halbtoten und Sterbenden.
Auch wenn die heutigen Leser Vorkenntnisse über den Gulag haben, auch wenn sie Lakonie, Jargon und Auslassungen nicht mehr als vermeintlich nichtliterarische Mittel schockieren, sondern sie sie als Darstellungsmittel längst akzeptiert haben – die schockgefrorene Klarheit der Erzählungen lassen sie schaudern. Schalamows „Erzählungen aus Kolyma“ gelingt es, von dem zu berichten, was sich dem Bericht verweigert, weil dieser das unwahrscheinliche Überleben voraussetzt. Es ist eine fast unerträgliche Lektüre. Wie Primo Levi, Jorge Semprun und Imre Kertész, die Überlebenden nationalsozialistischer Vernichtungslager, hat Warlam Schalamow sein Schreiben als Arbeit am Trauma des Zivilisationsbruchs verstanden.
„Die ‚Erzählungen aus Kolyma‘ sind der Versuch, bestimmte wichtige sittliche Fragen der Zeit zu stellen und zu beantworten, Fragen, die an anderem Material einfach nicht beantwortet werden können.“

Ein Leben im Schatten des Gulag

Knapp 20 Jahre überlebt Warlam Schalamow als politischer Häftling, als Angehöriger der antistalinistischen Opposition, im Archipel Gulag – zunächst von 1929 bis 1931 in Lagerhaft und Verbannung an der Wischera, wohin er als 21-Jähriger gelangt, dann von 1937 bis 1951 im Dauerfrostgebiet von Kolyma im äußersten Nordosten der Sowjetunion. Nach der Entlassung aus dem Gulag muss Schalamow noch zwei Jahre am Fluss Kolyma bleiben, um das Geld für die Rückreise zu erarbeiten. 1956 und nur auf seinen dringenden Antrag hin wird der Überlebende rehabilitiert, und von 1954 bis 1973 schreibt er neben Gedichten die „Erzählungen aus Kolyma“. Eine Auswahl kursiert nur im Samisdat, im Untergrund. Erst Ende der 1980er Jahre können einige Geschichten in der Sowjetunion publiziert werden, eine vollständige Ausgabe der 150 Erzählungen erscheint zehn Jahre später in Russland.
Der Autor hat beides nicht mehr erlebt. Verarmt, verwirrt, fast taub und blind, erkrankt er an der Nervenkrankheit Chorea Huntington, ähnelt nach Aussagen von Freunden physisch und psychisch zunehmend einem Lagerhäftling und stirbt 1982 in einer psychiatrischen Anstalt.
Ein Leben, das vom Lager geprägt ist und nicht vorgesehen war – Schalamow sollte sterben. Ein Schreiben im Schatten des staatlich verordneten Schweigens, für das der Autor der erneuten Traumatisierung durch die Todesnähe nicht ausweicht. Eines, das die Alternativen „Leben und Vergessen“ oder „Erinnern und Tod“ überwindet durch eine zwingende Ästhetik: Schalamow erzählt vom „Kältepol der Grausamkeit“ lakonisch knapp, ohne Psychologie, Humanität, Charaktere. Ohne das „Ich“ und mit einer überfallartigen Knappheit, die das Analogon zum völligen Ausgeliefertsein des Häftlings darstellt.
Nur – wenn beinahe das ganze Leben von Schalamow im Schatten des Archipel Gulag steht, wenn seine „Erzählungen aus Kolyma“ schildern, was allein möglich ist zu schildern aus der Todeszone: Was bleibt dann noch zu erzählen? Ist das Leben außerhalb des Lagers überhaupt interessant? Franziska Thun-Hohenstein hat sich entschlossen, keine gewöhnliche Biographie zu schreiben.
„Der Akzent in den einzelnen Kapiteln liegt mal auf einer Rekonstruktion biographischer bzw. kulturgeschichtlicher Zusammenhänge, mal stärker auf Aspekten der Poetik (…). Die Herausforderung war, eine Biographie gleichsam gegen eine bestimmte Gattungslogik der Biographie zu schreiben. Das betrifft in erster Linie den Umgang mit den Jahren der Lagerhaft (1929 – 1931 und 1937 – 1951). Sie sind als Unterbrechung ausgewiesen. Eine Zusammenfassung der aus dem Archiv des FSB [der Nachfolgeorganisation der Geheimdienstes KGB] veröffentlichten Untersuchungsakten zu den Urteilen von 1929, 1937 und 1943 markiert jeweils den Einschnitt. Schalamows Lagerhaft rückt ausführlicher in den Kapiteln »Auferweckung der Dichtung« und »Das Lager erzählen« ins Zentrum, wobei die jeweiligen literarischen Verfahren, mit deren Hilfe er die Lagererfahrung sprachlich zu fassen sucht, in die Betrachtung einbezogen werden.“

Schalamows Schreibverfahren im Blick

Die „Biographie gleichsam gegen eine bestimmte Gattungslogik der Biographie“ ist immerhin 540 Seiten lang. Bereits der Titel des Werkes „Das Leben schreiben“ hebt hervor, worum es Thun-Hohenstein geht: um das Schreiben über das Erlebte, nicht um das Erlebte. Die Philologin will nicht in Konkurrenz treten zu den „Erzählungen aus Kolyma“ – nicht eruieren, wovon sie erzählen, nicht die Frage klären, wer die Figuren der Erzählungen und was ihre Schicksale in Wirklichkeit waren. Daher weist sie die Jahre von Schalamows Lagerhaft als Unterbrechung aus. In den ihnen geltenden Kapiteln, zu erkennen an der serifenlosen Schrift, fasst Thun-Hohenstein lediglich die KGB-Akten zusammen.
Natürlich kann sie vom Lager nicht schweigen, spricht von ihm jedoch nur, wenn Schalamow darüber schreibt. Womit – neben den unvollendeten Erinnerungen „Wischera. Antiroman“ – doch die „Erzählungen aus Kolyma“ in den Blick geraten, aber eben unter besonderer Berücksichtigung der Schreibverfahren, der Ästhetik. Wer Literatur nicht zum Dokument reduziert, macht es sich nicht leicht.
Der zweite Grund für den Bruch mit „einer bestimmten Gattungslogik der Biographie“ ist die desparate Quellenlage.
„Nahezu das gesamte überlieferte literarische Werk – mit Ausnahme der in den 1930er Jahren publizierten Erzählungen und Reportagen – entstand nach der Lagerhaft an der Kolyma. Bis auf wenige amtliche Dokumente fehlt Schriftliches aus der Zeit vor der ersten Lagerhaft gänzlich. Wenn wir Gedichte, Prosawerke, Briefe und Selbstaussagen Schalamows lesen, haben wir es demnach mit Texten zu tun, denen das Wissen um das an der Kolyma Erlebte auch dann eingeschrieben ist, wenn es unausgesprochen bleibt. Er sah sich als Mensch aus der Hölle. Nach der Rückkehr aus der Kolyma erfuhr Schalamow, dass nahezu alle Spuren seines früheren Lebens – die ersten literarischen Versuche ebenso wie Dokumente seiner Kindheit und Familiengeschichte – von Verwandten vernichtet worden waren. Der Schock saß tief. (…) Die Rede ist von drei Verbrennungsaktionen: Ende der zwanziger Jahre, als er im Wohnheim der Universität wohnte, verbrannte seine Schwester Galina, bei der er eine Zeitlang gemeldet war, alles, auch die an ihn gerichteten Briefe bekannter Dichter der literarischen Avantgarde. Nach der zweiten Verhaftung war es seine Ehefrau Galina Guds, die aus Angst vor Repressionen das in den dreißiger Jahren Geschriebene verbrannte. Sie habe das Gedruckte aufbewahrt und alles Ungedruckte vernichtet, vermerkt er bitter. Die dritte Vernichtung betraf das Familienarchiv: Im Krieg, kurz vor der Evakuierung aus Moskau, hatte die Schwester seiner Frau alle Dokumente, Fotos und materiellen Dinge seiner verstorbenen Eltern verbrannt.“
Immer motiviert Angst die Verbrennungsaktionen. Die Verwandten wollen sich und Warlam schützen vor der Verfolgung durch den Sowjetstaat. Der Archipel Gulag ist auch nach der Entlassung Schalamows ständiger unheimlicher Begleiter. Dazu kommt, dass der KGB Schalamow bis zu seinem Tod permanent überwacht, dessen wechselnde Zimmer immer wieder durchsucht und Schriften mitnimmt – nicht anders als ihm nahestehende Menschen, die die Papiere vor dem Geheimdienst retten wollen.
 „Die Lücken im Nachlass sind erheblich.“

Von der Zensur verstümmelt

Angesichts eines nicht einholbaren künstlerischen Hauptwerks wie den „Erzählungen aus Kolyma“, angesichts autobiographischer Schriften, in denen Schalamow sich als selbstbewusstes, autonomes Subjekt der zwanziger Jahre präsentiert, angesichts der desparaten Quellenlage muss man Franziska Thun-Hohenstein zu dem Wagnis einer „Biographie und Poetik“, so der Untertitel, gratulieren. Mal zeichnet sie dichte kulturhistorische Bilder von Wologda, Schalamows Geburtsort, oder Moskau in den zwanziger Jahren, mal liest sie den Lagergeschichten Wort für Wort Struktur und Erzählverfahren ab, dann porträtiert sie exemplarisch die wichtigsten literarischen Beziehungen Schalamows zu Boris Pasternak, Alexander Solschenizyn und Nadeshda Mandelstam.
Immer wieder stößt sie auf Widersprüche wie etwa die entschiedene Abkehr vom herkömmlichen literarischen Erzählen bei gleichzeitig ungebrochenem Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des poetischen Wortes – und weist darauf hin, dass Schalamow größere Sorgen als Widerspruchsfreiheit hatte. Seine Gedichte werden gedruckt, allerdings von der Zensur und dem Verlag verstümmelt und bereinigt um alle Poeme über die nordöstlichen Lager. Die „Erzählungen aus Kolyma“ jedoch lehnen die Verlage ab.
„Im [November 1962] reichte er das Manuskript beim Verlag »Sowetskij pissatel« ein. Die offizielle undatierte Ablehnung (…) erreichte ihn wohl erst ein Jahr später, im Herbst 1963. Sie gipfelte in dem Vorwurf: ‚Unserer Ansicht nach haben die Helden Ihrer Erzählungen nichts Menschliches, und die Autorenposition ist antihumanistisch.‘“
Die Verdrehung von Ursache und Wirkung ist ein Kennzeichen der Täter-Argumentation: Nicht die Erzählungen sind antihumanistisch, die Lager sind es. Nur konnte das selbst im Chruschtschowschen „Tauwetter“ nicht gesagt werden.

Intervention für Schriftstellerkollegen

Vielleicht genügte der Sowjetunion auch ein Gulag-Autor: Alexander Solschenizyn. Dessen Roman „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ las Schalamow 1962 begeistert. Die Beziehung beider kühlt bald ab, als Schalamow begreift, dass Solschenizyn den Gulag nicht für eine Katastrophe, sondern nur für einen Unfall hält und keinen Anlass sieht, den Glauben an das russische Volk und das Christentum, an Psychologie, Charaktere und Humanität aufzugeben.
Spätestens nach Chruschtschows Sturz 1964, als die zaghafte Entstalinisierung endete, muss sich Schalamow nach Publikationsmöglichkeiten im Ausland umgesehen haben. Franziska Thun-Hohenstein hat einen bisher unbekannten Text in einem der linierten Schulhefte gefunden, die Schalamow benutzte, und bettet ihn ein in Ereignisse der Entstehungszeit.
„Energisch verteidigt Schalamow das Recht jedes Schriftstellers, unter Pseudonym zu publizieren.“
Und zwar im „Brief an einen alten Freund“, in dem Schalamow für zwei Schriftsteller eintritt, Andrej Sinjawski und Julij Daniel. Sie sind angeklagt, »verleumderische« und »antisowjetische« Werke unter Pseudonym sowie im Ausland veröffentlicht zu haben. Die Künstlernamen verteidigt Schalamow.
„Mit keinem Wort aber erwähnt er, dass Sinjawskij und Daniel ihre Werke unter Pseudonym im Westen, im sogenannten »Tamisdat« publizierten. Der »Tamisdat« (wörtlich: Dort-Verlag) – ein Sammelbegriff für russischsprachige Zeitschriften und Verlage der Emigration im Westen – avancierte in den sechziger Jahren zur wichtigen dritten Säule der russischen Literatur. Literarische Texte, die in der Sowjetunion nicht erscheinen durften, gelangten aus dem Samisdat in den Westen und kehrten in gedruckter Form über den (auch durch westliche Geheimdienste finanzierten) »Tamisdat« in die Sowjetunion zurück.“

Irritierende Verteidigung der Sowjetunion

Schalamow ist damals eng mit Nadeshda Mandelstam befreundet. Manchmal mehrmals in der Woche sitzt er trotz der körperlichen Schmerzen, die ihm der Gang zu ihrer Wohnung bereitet, in ihrer Küche. Die Witwe des in der Kolyma umgebrachten Schriftstellers, den Schalamow in der Erzählung „Cherry Brandy“ ehrt, hat wie ihre Gäste keine Angst vor offenen Worten. Der „Brief an einen alten Freund“ zugunsten von Sinjawski und Daniel entsteht in diesem dissidentischen Klima, kursiert erst im Samisdat und erscheint dann anonym in einem „Weißbuch“. Es sei, schreibt Thun-Hohenstein, im Licht späterer Ereignisse eine erstaunliche Intervention.
„Anfang 1966 deutet nichts darauf hin, dass Schalamow sechs Jahre später die Publikation seiner Erzählungen in russischen Emigrantenzeitschriften zur antisowjetischen Provokation erklären und vehement dagegen protestieren wird.“
Und zwar 1972 in einem Protestbrief an die „Literaturnaja Gazeta“, der im parallel zur Biographie erschienenen opulenten Briefband enthalten ist:
„Mir wurde bekannt, dass das in Westdeutschland in russischer Sprache erscheinende antisowjetische Blättchen »Possev« sowie das antisowjetische Emigrantenblatt »Nowyj Shurnal« in New York meinen ehrlichen Namen als sowjetischer Schriftsteller und Bürger der Sowjetunion benutzen und in ihren verleumderischen Blättern meine »Erzählungen aus Kolyma« publizieren. Ich halte es für geboten zu erklären, dass ich mit den antisowjetischen Zeitschriften »Possev« und »Nowyj Shurnal« niemals zusammengearbeitet habe, so wenig wie mit anderen ausländischen Blättern, die eine beschämende antisowjetische Agitation betreiben.“
Mit dieser überraschenden Verteidigung der Sowjetunion stößt Schalamow die Dissidenten vor den Kopf, die ihn als einen der ihren betrachten. Ob Schalamow zu dem Brief gezwungen wurde, weiß die Biographin nicht. Thun-Hohenstein glaubt dank eines Archivfundes an ein simpleres Motiv:
„Im Literaturarchiv liegt ein Schulheft mit einer bislang unveröffentlichten Notiz, bei der es sich allem Anschein nach um den Entwurf für eine Art Annotation handelt, in der Schalamow drei Zyklen der ‚Erzählungen aus Kolyma‘ und sich selbst als Autor einem westlichen Publikum vorstellt.“
Es dränge sich, schreibt Schalamow weiter im Schulheft, der Vergleich seiner Erzählungen mit den Zeugnissen von Jewgenija Ginsburg und Alexander Solschenizyn auf. Der Autor der „Erzählungen aus Kolyma“ war also für die Publikation im Westen bereit, seine grundsätzliche Kritik an beiden Schriftstellern zurückzustellen. Die Biographin sagt nicht, ob er vielleicht zugleich seine Veröffentlichungschancen in der Sowjetunion verbessern wollte.

Diskreter Umgang mit einem Traumatisierten

Es sind solche Passagen voller Spür- und Beziehungssinn, in denen Thun-Hohensteins Biographie zu sich selbst kommt. Die Wissenschaftlerin fügt Puzzlesteine zusammen und bevorzugt den Konjunktiv – zugespitzte Thesen oder gar Spekulationen sind ihre Sache nicht. Manche Conclusio legt sie nahe, formuliert sie aber nicht – etwa die auffällige Beziehung zwischen Schalamows jugendlicher Begeisterung für Abenteuergeschichten und der Häufung extremer moralischer Entscheidungssituationen in seinen literarischen Werken.
Diese Diskretion mag in Zeiten autofiktionaler Schreibweisen und beharrlicher Fragen nach dem Wirklichkeitsgehalt von Literatur schwer zu akzeptieren sein. Doch sie wird sowohl dem Anspruch der „Erzählungen aus Kolyma“ gerecht, nicht Erinnerungen an die Toten, sondern Erinnerungen der Toten zu sein, als auch dem nicht immer erklärbaren Verhalten des schwer traumatisierten Überlebenden.
Doch Thun-Hohensteins Zugang ist nicht unproblematisch. Nach der Zusammenfassung der KGB-Akten über die zweite Verurteilung 1937 und die dritte 1943 springt sie unvermittelt in das Jahr 1944: Die Ärztin Nina Sawojewa und der Arzthelfer Boris Lesnjak päppeln Schalamow, der sich als „Dochodjaga“ bereits im Grenzbereich zwischen Tod und Leben befindet, wieder auf und lassen ihn zum Feldscher ausbilden. Das ist die Rettung für den Häftling, als Hilfsarzt überlebt er das Lager.

Die Poetik wichtiger als die Chronologie

Wie aber die sieben Jahre davor im „Widerschein der Hölle“ Schalamow zum „Dochodjaga“ haben werden lassen, schildert Thun-Hohenstein danach. Denn erst als Feldscher gewinnt er das Sprach- und Denkvermögen wieder, die Voraussetzung des Schreibens. Und Thun-Hohenstein geht es um die Poetik, nicht um die Chronologie.
Dennoch entsteht, insbesondere bei der gleichzeitigen Lektüre des Briefbands „Ich kann keine Briefe schreiben …“, in Umrissen das Bild eines Menschen voller Sehnsucht nach Kontakten zu Schriftstellern und ehemaligen Deportierten. Auch einen „lebenden Buddha“, ein Vorbild, sucht Warlam Schalamow. Seine Sehnsucht mäßigt seine Entschiedenheit, ja Schroffheit in ethisch-moralischen Fragen nicht. Diese Unbedingtheit hat ihn in der Literatur zur Lösung einer beinahe unmenschlichen Aufgabe geführt: das Leben im Zeichen des Todes zu schreiben. Im Leben des Autors lässt diese Unbedingtheit Beziehungen und Freundschaften meist nicht lange währen.
Franziska Thun-Hohenstein: „Das Leben schreiben. Warlam Schalamow – Biographie und Poetik“
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2022. 538 Seiten, 38 Euro

Warlam Schalamow: „Ich kann keine Briefe schreiben … Korrespondenz 1952-1978“

Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Herausgegeben von Franziska Thun-Hohenstein
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2022. 752 Seiten, 48 Euro