Beginnen wir mit dem, was gerade die meisten interessiert:
Collage O-Töne Fußballreporter: "Das Spiel hat noch nicht begonnen … Das ist natürlich eine äußerst ungünstige Ausgangsposition .... Ich kann Ihnen nicht sagen, warum es noch nicht beginnt … Jetzt wird es gleich losgehen, wollen wir sehen, ob wir den Anpfiff noch mitbekommen hier … Aber es ist noch nicht so weit … Nun, wir werden uns ja dann gleich wieder melden … Ich gebe erst einmal zurück ins Funkhaus ..."
Ja, hier ist das Funkhaus, und wir nutzen die Zeit, um von Ror Wolf zu erzählen. Denn der wurde vor allem mit Texten und Hörspielen über Fußball bekannt.
"Das Fußballspiel ist nicht die Fortsetzung des Lebens, sondern das Leben ist die Fortsetzung des Fußballspiels. Dann ist das, was im Spiel passiert, also nicht so wie im Leben auch, sondern: Das, was im Leben passiert, ist so wie am Samstag beim Spiel."
Mit der ihm eigenen Gründlichkeit drang Wolf in die Materie ein, fuhr in Fanbussen mit, stand in der Fankurve, sprach mit Spielern, hörte Livereportagen in Funk und Fernsehen – und schnitt alles, was zu hören war, auf Tonband mit. So sammelte er hunderte Stunden von Material, aus denen er zwei O-Ton-Collagen montierte, die Radiogeschichte machten: "Die heiße Luft der Spiele" 1972 und "Der Ball ist rund", sieben Jahre später. Sie zeigen die Leidenschaft aller Fußballverrückten, aber auch die Hohlheit des vorgestanzten Jargons, den alle, Spieler, Trainer und Reporter, ohne nachzudenken nachplappern. Und schräge Komik gibt es allemal:
"Röttger, der wahrlich nicht mehr allzu viel zu tun hat, schaut sich jetzt die Situation in gebückter Haltung an, weit runter hängend seine Strümpfe … da greift er sich an den Kopf, mit dem rechten Fuß … der Mann, der noch die sauberste Hose anhat … auf den Kopf, von da auf den Fuß und wieder auf den Kopf … nachdem die Herthaner ihm zentimeterhart auf den Füßen stehen. - Doch damit genug, kehren wir in die Gegenwart zurück … "
… denn gerade ist innerhalb der großen Ror Wolf-Werkausgabe bei Schöffling ein schöner, edel ausgestatteter Band mit Hörspielen erschienen, unter dem schaurigen Titel "Die Einsamkeit des Meeresgrunds" – auch eine CD zum Nachhören liegt bei.
Der Band enthält sieben Hörspiele, darunter "Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbeke aus Nordamerika" – eine Radioballade, für die Wolf 1988 den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam. Es ist eine Hommage an einen großen Musiker, aber auch eine Liebeserklärung an den Jazz, mit dem Wolf aufwuchs, der ihn prägte und ihm lieber ist als sogenannte "Hochkultur":
"Coltrane ist mir wichtiger als Karajan, Karl Valentin lieber als Stefan George."
Im Anhang des Bands stehen theoretische Texte des Autors, wie die Dankrede für den Kriegsblinden-Preis.
"Die Kritik nennt mich gelegentlich, wenn sie mich freundlich behandelt: einen Wortkomponisten. Ich bin mit dieser Charakterisierung einverstanden; sie trifft meine Arbeitsweise ziemlich genau. (…) Ich versuche nichts anderes, als Radio-Sendungen herzustellen; Radio-Sendungen, wie ich sie mir vorstelle: nächtliche Ereignisse, Radio-Collagen oder Radio-Balladen."
Der Autor nicht als Schriftsteller, sondern als Wortkomponist. Darum sind seine Texte, egal ob Hörspiel oder Prosa, hoch musikalisch, haben einen unverwechselbaren Ton. Das teilt sich am besten mit, wenn Wolf sie selbst liest. Hier nur eine kleine Prosa-Passage, aber man hört, wie genau er mit Vokal- und Konsonantenfolgen, Rhythmen und Klängen arbeitet. Es geht, wie so oft, um einen Reisenden, der, auch das ist typisch, allerlei seltsame, ja unheimliche Dinge erlebt:
"… über diese Zeit haben wir nur die dürftigsten Nachrichten. Er verbringt sie mit nächtlichen Tieren, schnuppernd, geduckt, in tiefen gähnenden Kellerräumen mit Schimmelpilzen und dunklen Klumpen in einer tropfenden Feuchtigkeit. Dieser Teil seines Lebens ist wirklich in gänzliche Schwärze getaucht."
Ein Manko leider hat der Hörspiel-Band. Ausgerechnet Wolfs "Greatest Hits", die Fußball-Collagen, fehlen! Wann, wenn nicht jetzt, zur EM, hätte man sie neu auflegen sollen? Auf Anfrage teilte Schöffling mit, sie erschienen später in einem separaten Band, Datum ungewiss.
Cleverer war der Fischer Verlag, der rechtzeitig merkte, dass EM ist, und einen anderen Wolf-Klassiker neu herausbrachte: "Das nächste Spiel ist immer das schwerste", heißt das Buch, das 1982 erstmals erschien. Eine 300-seitige Wundertüte voller Texte über Fußball: lyrische WM-Moritaten, Mitschriften von Fan-Meinungen, seltsame Spieler- und Trainer-Zitate und, und, und. Gesamtauflage in 30 Jahren über 100.000, der einzige "Longseller" des Autors. Schade nur, dass man es bei Fischer nicht nötig hatte, dem Band wenigstens ein paar Notizen beizugeben, die über seine Entstehungs- und Editionsgeschichte erzählen …
"Ich glaube, mit diesem Ausgang hat niemand gerechnet, die Überraschung ist jetzt perfekt. (…) Doch alles in allem, im Großen und Ganzen, genauer betrachtet: Jawohl, kann man sagen, am Ende kann man noch froh sein, Punkt ist Punkt. Vergessen wir es, Schluss, meine Damen und Herren, Schwamm drüber. Schnell noch ein Blick auf die Tabelle."
Ror, eigentlich Richard Wolf wurde am 29. Juni 1932 in Saalfeld geboren, in Thüringen. Seine Eltern lasen viel, in ihrer Bibliothek begegnete er Werken von Wilhelm Busch und Morgenstern, die ihn ebenso prägten wie später Kafka, Beckett und Robert Walser – Autoren, deren Texte abgründig und komisch sind, wie seine eigenen. Wolf machte eine Lehre als Betonbauer, übersiedelte 1953 in den Westen, studierte Literatur und Soziologie, wurde Redakteur, dann freier Autor.
Nach über 30 Umzügen lebt er heute in Mainz. Neben Hörspielen hat er eine ganze Reihe Romane und Prosabücher geschrieben. In deren Zentrum steht eine mehrbändige "Enzyklopädie für unerschrockene Leser". Verfasst hat sie sein Alter Ego, der sogenannte "Wirklichkeitswissenschaftler" Raoul Tranchirer. Die Bände tragen Titel wie "Raoul Tranchirers vielseitiger Ratschläger für alle Fälle der Welt". Es sind hintersinnige Parodien gängiger Nachschlagewerke, und am Ende steht grundsätzlich kein Ratschlag, keine Moral: absurde Antwort auf eine absurde Welt. In einem seiner seltenen Interviews sagte Wolf:
"Ich bin ein Zuhörer. Ich nehme es auf, ich speichere es, um es zu verarbeiten. Man könnte davon ausgehen, dass ich sehr skeptisch bin öffentlichen Auftritten gegenüber. Und wenn ich daran teilnehme, dann eigentlich doch mehr als Beobachter, Registrator. So sehe ich meine Aufgabe als Autor und Berichterstatter."
Wolf stützt sich auf Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts, Zeitschriften wie "Gartenlaube" oder medizinische Hausbücher. Daraus nimmt er einzelne Passagen, collagiert und literarisiert sie. Ergänzt werden die skurrilen Artikel durch kunstvolle Bildcollagen, die er aus alten Holz- und Stahlstichen fertigt, ähnlich Max Ernst. Man sieht etwa eine Familie am Tisch, bürgerliche Idylle, vor der ein riesiger Fuß auftaucht, der die Familie aber nicht zu irritieren scheint. Die Bilder passen zu den Texten, weil auch sie Absurdes zeigen, aber völlig selbstverständlich wirken – eine zweite mögliche Realität.
Ähnlich geht Wolf in seinen schräg-ironischen Romanen vor. Er schickt seine Helden auf Reisen durch einen Alltag, in dem Normalität und totaler Irrwitz nah beieinander liegen. Das ist faszinierend zu lesen – kann aber auf Dauer auch ermüden. Wolf reiht viele kurze Episoden aneinander, in jeder erwartet seine stoisch weitergehenden Helden neues Chaos. Man staunt immer wieder ob der Fantasie des Autors - doch letztlich bewegt sich in den Texten, so viel darin auch los ist, wenig. Es gibt keine Entwicklung, sie treten auf der Stelle. So leider auch in Wolfs neuem Buch "Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen", den er ausdrücklich als "Horrorroman" bezeichnet – tatsächlich geht es diesmal besonders drastisch zu.
"Ich habe sehr intensiv als Zehn-, Zwölfjähriger die damalige Heftchen-Literatur gelesen, natürlich noch ohne jede ironische Distanz, die gab es nach dem Krieg. Davon sind sicher Restbestände in meinem Kopf zurückgeblieben. Dann hab ich immer mit großem Genuss die B-Filme gesehen, die Filme, die immer unterhalb der 'Kunstfilm'-Grenze liefen. Das waren Horrorfilme, das waren zweitklassige Western, das waren Krimis. Das hat wesentlich Spuren bei mir hinterlassen."
Die Drastik des neuen Romans rührt allerdings auch daher, dass Wolf zuletzt lange schwer krank war. Schließlich musste er sich einer glücklicherweise gut verlaufenen achtstündigen Operation unterziehen. Danach litt er unter Halluzinationen, und vieles, was er in diesen Zuständen sah, hat er in sein neues Buch aufgenommen.
"Etwas tropfte durch meine Finger hinab auf den Tisch auf den Teller. Mein Gesicht floss fort, und neben den Füßen sah ich rohes Fleisch auf dem Boden liegen, in der Nähe des Waschbeckens, das plötzlich davonkroch (…) und ich sah die Bewegungen in den Eingeweiden der Menschen, die ganz still standen, vor mir und neben mir, ich sah die lebendigen Tiere in ihren Körpern, ich sah die Würmer unter der Haut und die Eingeweide, die aus ihnen herauskrochen."
Unterbrochen werden die 29 Romankapitel durch rund 80 ganz- oder doppelseitige Bildcollagen des Autors. Wieder sind es Ausschnitte aus alten Büchern, schwarz-weiße oder kolorierte Stiche, etwa von Landstrichen oder Küstengegenden, in die Wolf seltsame menschliche Figuren, Tiere oder grotesk vergrößerte Dinge aus anderen Stichen montiert.
Auch wenn der Roman zunehmend etwas zäh zu lesen ist – die Bilder sind beste post-surrealistische Collage-Kunst, an der man sich kaum sattsehen kann.
Ror Wolf: Die Einsamkeit des Meeresgrunds
Die Hörspiele. Mit CD. Schöffling Verlag
376 Seiten, 49 Euro
Ror Wolf: Die Vorzüge der Dunkelheit
Horrorroman. Schöffling Verlag
272 Seiten, 24,95 Euro
Ror Wolf: Das nächste Spiel ist immer das schwerste
Fischer Taschenbuch Verlag
300 Seiten, 12,95 Euro
Mehr zum Thema:
Meister des Luftanhaltens
Ror Wolf: "Die Vorzüge der Dunkelheit" und "Die Gefährlichkeit der großen Ebene" (DKultur)
Collage O-Töne Fußballreporter: "Das Spiel hat noch nicht begonnen … Das ist natürlich eine äußerst ungünstige Ausgangsposition .... Ich kann Ihnen nicht sagen, warum es noch nicht beginnt … Jetzt wird es gleich losgehen, wollen wir sehen, ob wir den Anpfiff noch mitbekommen hier … Aber es ist noch nicht so weit … Nun, wir werden uns ja dann gleich wieder melden … Ich gebe erst einmal zurück ins Funkhaus ..."
Ja, hier ist das Funkhaus, und wir nutzen die Zeit, um von Ror Wolf zu erzählen. Denn der wurde vor allem mit Texten und Hörspielen über Fußball bekannt.
"Das Fußballspiel ist nicht die Fortsetzung des Lebens, sondern das Leben ist die Fortsetzung des Fußballspiels. Dann ist das, was im Spiel passiert, also nicht so wie im Leben auch, sondern: Das, was im Leben passiert, ist so wie am Samstag beim Spiel."
Mit der ihm eigenen Gründlichkeit drang Wolf in die Materie ein, fuhr in Fanbussen mit, stand in der Fankurve, sprach mit Spielern, hörte Livereportagen in Funk und Fernsehen – und schnitt alles, was zu hören war, auf Tonband mit. So sammelte er hunderte Stunden von Material, aus denen er zwei O-Ton-Collagen montierte, die Radiogeschichte machten: "Die heiße Luft der Spiele" 1972 und "Der Ball ist rund", sieben Jahre später. Sie zeigen die Leidenschaft aller Fußballverrückten, aber auch die Hohlheit des vorgestanzten Jargons, den alle, Spieler, Trainer und Reporter, ohne nachzudenken nachplappern. Und schräge Komik gibt es allemal:
"Röttger, der wahrlich nicht mehr allzu viel zu tun hat, schaut sich jetzt die Situation in gebückter Haltung an, weit runter hängend seine Strümpfe … da greift er sich an den Kopf, mit dem rechten Fuß … der Mann, der noch die sauberste Hose anhat … auf den Kopf, von da auf den Fuß und wieder auf den Kopf … nachdem die Herthaner ihm zentimeterhart auf den Füßen stehen. - Doch damit genug, kehren wir in die Gegenwart zurück … "
… denn gerade ist innerhalb der großen Ror Wolf-Werkausgabe bei Schöffling ein schöner, edel ausgestatteter Band mit Hörspielen erschienen, unter dem schaurigen Titel "Die Einsamkeit des Meeresgrunds" – auch eine CD zum Nachhören liegt bei.
Der Band enthält sieben Hörspiele, darunter "Leben und Tod des Kornettisten Bix Beiderbeke aus Nordamerika" – eine Radioballade, für die Wolf 1988 den Hörspielpreis der Kriegsblinden bekam. Es ist eine Hommage an einen großen Musiker, aber auch eine Liebeserklärung an den Jazz, mit dem Wolf aufwuchs, der ihn prägte und ihm lieber ist als sogenannte "Hochkultur":
"Coltrane ist mir wichtiger als Karajan, Karl Valentin lieber als Stefan George."
Im Anhang des Bands stehen theoretische Texte des Autors, wie die Dankrede für den Kriegsblinden-Preis.
"Die Kritik nennt mich gelegentlich, wenn sie mich freundlich behandelt: einen Wortkomponisten. Ich bin mit dieser Charakterisierung einverstanden; sie trifft meine Arbeitsweise ziemlich genau. (…) Ich versuche nichts anderes, als Radio-Sendungen herzustellen; Radio-Sendungen, wie ich sie mir vorstelle: nächtliche Ereignisse, Radio-Collagen oder Radio-Balladen."
Der Autor nicht als Schriftsteller, sondern als Wortkomponist. Darum sind seine Texte, egal ob Hörspiel oder Prosa, hoch musikalisch, haben einen unverwechselbaren Ton. Das teilt sich am besten mit, wenn Wolf sie selbst liest. Hier nur eine kleine Prosa-Passage, aber man hört, wie genau er mit Vokal- und Konsonantenfolgen, Rhythmen und Klängen arbeitet. Es geht, wie so oft, um einen Reisenden, der, auch das ist typisch, allerlei seltsame, ja unheimliche Dinge erlebt:
"… über diese Zeit haben wir nur die dürftigsten Nachrichten. Er verbringt sie mit nächtlichen Tieren, schnuppernd, geduckt, in tiefen gähnenden Kellerräumen mit Schimmelpilzen und dunklen Klumpen in einer tropfenden Feuchtigkeit. Dieser Teil seines Lebens ist wirklich in gänzliche Schwärze getaucht."
Ein Manko leider hat der Hörspiel-Band. Ausgerechnet Wolfs "Greatest Hits", die Fußball-Collagen, fehlen! Wann, wenn nicht jetzt, zur EM, hätte man sie neu auflegen sollen? Auf Anfrage teilte Schöffling mit, sie erschienen später in einem separaten Band, Datum ungewiss.
Cleverer war der Fischer Verlag, der rechtzeitig merkte, dass EM ist, und einen anderen Wolf-Klassiker neu herausbrachte: "Das nächste Spiel ist immer das schwerste", heißt das Buch, das 1982 erstmals erschien. Eine 300-seitige Wundertüte voller Texte über Fußball: lyrische WM-Moritaten, Mitschriften von Fan-Meinungen, seltsame Spieler- und Trainer-Zitate und, und, und. Gesamtauflage in 30 Jahren über 100.000, der einzige "Longseller" des Autors. Schade nur, dass man es bei Fischer nicht nötig hatte, dem Band wenigstens ein paar Notizen beizugeben, die über seine Entstehungs- und Editionsgeschichte erzählen …
"Ich glaube, mit diesem Ausgang hat niemand gerechnet, die Überraschung ist jetzt perfekt. (…) Doch alles in allem, im Großen und Ganzen, genauer betrachtet: Jawohl, kann man sagen, am Ende kann man noch froh sein, Punkt ist Punkt. Vergessen wir es, Schluss, meine Damen und Herren, Schwamm drüber. Schnell noch ein Blick auf die Tabelle."
Ror, eigentlich Richard Wolf wurde am 29. Juni 1932 in Saalfeld geboren, in Thüringen. Seine Eltern lasen viel, in ihrer Bibliothek begegnete er Werken von Wilhelm Busch und Morgenstern, die ihn ebenso prägten wie später Kafka, Beckett und Robert Walser – Autoren, deren Texte abgründig und komisch sind, wie seine eigenen. Wolf machte eine Lehre als Betonbauer, übersiedelte 1953 in den Westen, studierte Literatur und Soziologie, wurde Redakteur, dann freier Autor.
Nach über 30 Umzügen lebt er heute in Mainz. Neben Hörspielen hat er eine ganze Reihe Romane und Prosabücher geschrieben. In deren Zentrum steht eine mehrbändige "Enzyklopädie für unerschrockene Leser". Verfasst hat sie sein Alter Ego, der sogenannte "Wirklichkeitswissenschaftler" Raoul Tranchirer. Die Bände tragen Titel wie "Raoul Tranchirers vielseitiger Ratschläger für alle Fälle der Welt". Es sind hintersinnige Parodien gängiger Nachschlagewerke, und am Ende steht grundsätzlich kein Ratschlag, keine Moral: absurde Antwort auf eine absurde Welt. In einem seiner seltenen Interviews sagte Wolf:
"Ich bin ein Zuhörer. Ich nehme es auf, ich speichere es, um es zu verarbeiten. Man könnte davon ausgehen, dass ich sehr skeptisch bin öffentlichen Auftritten gegenüber. Und wenn ich daran teilnehme, dann eigentlich doch mehr als Beobachter, Registrator. So sehe ich meine Aufgabe als Autor und Berichterstatter."
Wolf stützt sich auf Trivialliteratur des 19. Jahrhunderts, Zeitschriften wie "Gartenlaube" oder medizinische Hausbücher. Daraus nimmt er einzelne Passagen, collagiert und literarisiert sie. Ergänzt werden die skurrilen Artikel durch kunstvolle Bildcollagen, die er aus alten Holz- und Stahlstichen fertigt, ähnlich Max Ernst. Man sieht etwa eine Familie am Tisch, bürgerliche Idylle, vor der ein riesiger Fuß auftaucht, der die Familie aber nicht zu irritieren scheint. Die Bilder passen zu den Texten, weil auch sie Absurdes zeigen, aber völlig selbstverständlich wirken – eine zweite mögliche Realität.
Ähnlich geht Wolf in seinen schräg-ironischen Romanen vor. Er schickt seine Helden auf Reisen durch einen Alltag, in dem Normalität und totaler Irrwitz nah beieinander liegen. Das ist faszinierend zu lesen – kann aber auf Dauer auch ermüden. Wolf reiht viele kurze Episoden aneinander, in jeder erwartet seine stoisch weitergehenden Helden neues Chaos. Man staunt immer wieder ob der Fantasie des Autors - doch letztlich bewegt sich in den Texten, so viel darin auch los ist, wenig. Es gibt keine Entwicklung, sie treten auf der Stelle. So leider auch in Wolfs neuem Buch "Die Vorzüge der Dunkelheit. Neunundzwanzig Versuche, die Welt zu verschlingen", den er ausdrücklich als "Horrorroman" bezeichnet – tatsächlich geht es diesmal besonders drastisch zu.
"Ich habe sehr intensiv als Zehn-, Zwölfjähriger die damalige Heftchen-Literatur gelesen, natürlich noch ohne jede ironische Distanz, die gab es nach dem Krieg. Davon sind sicher Restbestände in meinem Kopf zurückgeblieben. Dann hab ich immer mit großem Genuss die B-Filme gesehen, die Filme, die immer unterhalb der 'Kunstfilm'-Grenze liefen. Das waren Horrorfilme, das waren zweitklassige Western, das waren Krimis. Das hat wesentlich Spuren bei mir hinterlassen."
Die Drastik des neuen Romans rührt allerdings auch daher, dass Wolf zuletzt lange schwer krank war. Schließlich musste er sich einer glücklicherweise gut verlaufenen achtstündigen Operation unterziehen. Danach litt er unter Halluzinationen, und vieles, was er in diesen Zuständen sah, hat er in sein neues Buch aufgenommen.
"Etwas tropfte durch meine Finger hinab auf den Tisch auf den Teller. Mein Gesicht floss fort, und neben den Füßen sah ich rohes Fleisch auf dem Boden liegen, in der Nähe des Waschbeckens, das plötzlich davonkroch (…) und ich sah die Bewegungen in den Eingeweiden der Menschen, die ganz still standen, vor mir und neben mir, ich sah die lebendigen Tiere in ihren Körpern, ich sah die Würmer unter der Haut und die Eingeweide, die aus ihnen herauskrochen."
Unterbrochen werden die 29 Romankapitel durch rund 80 ganz- oder doppelseitige Bildcollagen des Autors. Wieder sind es Ausschnitte aus alten Büchern, schwarz-weiße oder kolorierte Stiche, etwa von Landstrichen oder Küstengegenden, in die Wolf seltsame menschliche Figuren, Tiere oder grotesk vergrößerte Dinge aus anderen Stichen montiert.
Auch wenn der Roman zunehmend etwas zäh zu lesen ist – die Bilder sind beste post-surrealistische Collage-Kunst, an der man sich kaum sattsehen kann.
Ror Wolf: Die Einsamkeit des Meeresgrunds
Die Hörspiele. Mit CD. Schöffling Verlag
376 Seiten, 49 Euro
Ror Wolf: Die Vorzüge der Dunkelheit
Horrorroman. Schöffling Verlag
272 Seiten, 24,95 Euro
Ror Wolf: Das nächste Spiel ist immer das schwerste
Fischer Taschenbuch Verlag
300 Seiten, 12,95 Euro
Meister des Luftanhaltens
Ror Wolf: "Die Vorzüge der Dunkelheit" und "Die Gefährlichkeit der großen Ebene" (DKultur)