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Das Leben ist weniger banal, wenn darüber geschrieben wird

Auf sechs Bände hat der Norweger Karl Ove Knausgard sein autobiografisches Projekt "Min kamp" angelegt. Jetzt ist nach "Sterben" mit "Lieben" der zweite Teil erschienen. Auch dieser ist ein groß angelegter Versuch, sich über das Schreiben die Welt zurückzuerobern.

Von Peter Urban-Halle |
    Tatsächlich scheint Karl Ove Knausgard sein autobiografisches Riesenprojekt "Mein Kampf", das doch so formlos erscheint, nach großen existenziellen Gesichtspunkten geordnet zu haben. Der erste Band, "Sterben", beschäftigt sich mit dem Vater und seinem Hunds erbärmlichen Trinkertod. Der nun vorliegende zweite Band heißt "Lieben" und behandelt vor allem das Verhältnis zu seiner schwedischen Frau Linda. Natürlich liegt es am Thema, dass dieser zweite Band allgemein humorvoller ist. Und selbstironischer. Um zu lieben, muss man ja zunächst einmal lieben können. Schon das ist nicht jedem gegeben. Offensichtlich ist es dem Autor bei Linda zum ersten Mal passiert, obwohl er doch verheiratet ist. Der vorliegende Roman beginnt zeitlich mit Knausgards Ankunft in Stockholm, nachdem er seine Frau in Bergen Hals über Kopf verlassen hat. In der schwedischen Hauptstadt, die für ihn ein Neubeginn werden soll – er weiß nur noch nicht, wie – trifft er Linda wieder, in die er sich schon früher auf einem Literaturseminar verliebt hatte. Um die Liebe freilich zu verwirklichen, muss man werben. Man muss also reden, und im Reden ist der schüchterne und linkische Knausgard nicht so gut. Schon am Anfang heißt es wie bei Woody Allen: "Konversation gehört zu den zahllosen Dingen, die ich nicht beherrsche."

    Die erste Begegnung mit Linda endete in einer Katastrophe, diesmal aber klappt es: Karl Ove und Linda werden ein Paar. Schreiben sei einfacher als Reden, hat Knausgard gesagt, auch hier ist nicht die Sprache ausschlaggebend, sondern die Schrift: Er schreibt ihr einen Liebesbrief. Er schickt ihn zwar nicht ab, aber ihn zu schreiben war wichtig, denn erst jetzt weiß er, was er ihr sagen soll. Bei diesem Liebesgeständnis sorgt die Natur wie in einem Hollywoodfilm für die passende Dramatik: Es gießt in Strömen, sie hebt ihr klatschnasses Gesicht dem seinen entgegen, er küsst sie – und fällt in Ohnmacht. Es ist wie eine Parodie. Bald aber schleicht sich in ihre Beziehung Gewohnheit ein, und schlimmer: das Verlangen, hin und wieder allein sein zu dürfen, und sei es nur, um in Frieden die Zeitung zu lesen. Als das erste Kind kommt, die Tochter Vanja, wird es nicht besser. Launen, Spannungen, Missverständnisse werden sichtbar, das Paar steckt in einer tiefen Krise. Knausgard geht in seiner Selbstanalyse nicht sehr gnädig mit sich um, aber Linda verschont er auch nicht. Durfte seine Frau eigentlich Einspruch erheben?

    "Sie bekam das Manuskript einen Monat vor der Veröffentlichung und las es, auf einer Eisenbahnfahrt übrigens, von dort rief sie mich dann dreimal an, beim ersten Mal meinte sie, es sei zwar deprimierend zu lesen, aber sonst okay, beim zweiten Mal sagte sie: Auf Wiedersehen, Romantik, weil ich so ein illusionsloses Buch geschrieben hatte, und beim dritten Mal weinte sie. Als sie nach Hause kam, dachten wir beide über unser Leben nach, wir befanden uns in einer tiefen Krise, das konnte man auf verschiedene Weise ausdrücken, aber so, wie es gesagt ist, hat es seine eigene Existenz […] Sie ist ja auch Schriftstellerin und war sehr großzügig und verstand, warum ich es so schreiben musste, es gab nur eine Bagatelle, die gestrichen werden sollte, alles andere konnte veröffentlicht werden, wie ich wollte."

    Im banalen Alltag mit Hausputz, Windelwaschen und Essenkochen braucht es etwas Großes, um das Leben wieder respektvoll betrachten zu können. Die Liebe zu Linda ändert Knausgards Sicht auf die Welt paradoxerweise genauso wie der Tod des Vaters im ersten Band: Alles ist auf einmal "von Sinn durchdrungen", wie Knausgard sagt. Die Suche nach Sinn bestimmt seine ganze Arbeit. Das Leben ist weniger banal, wenn darüber geschrieben wird.

    Das Buch ist nicht chronologisch geordnet. Der Roman beginnt also nicht mit der Ankunft in Stockholm, sondern Jahre später, die Familie hat mittlerweile drei Kinder, man will in einer Gartenlaube eine Woche Urlaub verbringen. Frustriert bricht man den Versuch nach drei Tagen ab.

    "Und von dort aus habe ich einfach geschrieben, ich hatte keinen Plan, hatte keine Idee, wohin es gehen sollte, es ging nur nach Gefühl, nach Intuition, das Ganze Buch hindurch, […] dabei kamen neue Dinge, auch Kleinigkeiten, Bagatellen, die mir dann wichtig erschienen, ich habe praktisch nicht redigiert, es ist so geschrieben, wie man's liest."

    Genauso intuitiv und assoziativ, wie das ganze Buch geordnet ist, schmuggeln sich auch die zahlreichen klugen Reflexionen und essayistischen Passagen in die alltäglichen Ereignisse, einerlei ob es sich um Dostojewski oder Hölderlin, um den offenbar krassen Mentalitätsunterschied zwischen Schweden und Norwegern oder um seine Beziehungen zu Frauen handelt.

    Irgendwann fällt der Name des 1995 verstorbenen norwegischen Schriftstellers Tor Ulven, er war ein Vorbild für viele Schriftsteller Norwegens. Ulvens radikal autobiografische Sicht hat Knausgard sicher beeinflusst. Ulvens Figuren lauschen, und Knausgard betrachtet – und fragt sich, was die andern wohl betrachten und denken mögen. Auch die abwertende Haltung zum eigenen Körper kennt man von Tor Ulven. Knausgard stellt seinen Körper wirklich auf eine harte Probe: Er raucht wie ein Schlot, säuft wie ein Loch und futtert wie ein Scheunendrescher – bei seiner Ankunft in Stockholm hat er 100 Kilo gewogen.

    "Nein, ich liebe meinen Körper überhaupt nicht, aber gleichzeitig verbindet er uns mit der Welt, mit dem Sinnlichen, und das Sinnliche ist auf gewisse Weise das Wichtige im Buch. Aber andererseits spielt es für mich keine Rolle, ob das Essen schmeckt oder nicht, das ist sehr pietistisch, wichtig ist, dass Essen satt macht, aber der Körper als solcher spielt eine große Rolle im Buch, auch der Tod, die Auflösung des Körpers, es gibt eine ungemein körperliche Beschreibung der Geburt meiner Tochter."

    Knausgards Roman ist eine Kriegserklärung an die Fiktionalisierung der Welt. Sein Motiv könnte man in Anlehnung an den amerikanischen Autor David Shields "Wirklichkeitshunger" nennen. Sein Gefühl, durch Fernsehen und Internet für das eigentliche, wirkliche Leben blind geworden zu sein, ließ ihm keine Ruhe. Deshalb, hat er gesagt, schreibe er so besessen über die kleinsten Details seines Lebens. Es sei seine Methode, sich die Welt zurückzuerobern.

    Karl Ove Knausgard: Lieben.
    Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf
    Luchterhand Literaturverlag, München 2012. 764 Seiten. 25 Euro