Von einem einzigen Tag ausgehend erzählt Salvatore Scibona in seinem Debutroman "Das Ende" eine verzweigte Geschichte, die sich über vierzig Jahre erstreckt und zwischen Sizilien, zwischen den vagen Träumen, mit denen die Figuren nach Amerika aufbrechen, und ihrem späteren Alltag in Cleveland, Ohio, oszilliert. Das Buch beschreibt eine Umbruchszeit. Ein personaler Erzähler rückt nah an verschiedene Figuren heran; sie alle leben in dem Viertel "Elephant Park", aus der Innenperspektive zeigt er ihre Geschichten und Träume, springt mit Leichtigkeit zwischen den Zeiten - und zieht dann alle Fäden der Handlung wieder an einem Tag zusammen.
Am Morgen dieses Tages, es ist der 15. August 1953, zieht Rocco La Grassa den Anzug an, den er vor 20 Jahren gebraucht gekauft hat und den er schont, weil er sich darin noch beerdigen lassen will. Am Abend zuvor haben zwei Herren vom amerikanischen Marinekorps bei ihm geklopft und ihn, die Hüte unter den Armen, wissen lassen, sein Sohn Mimmo sei während der Kriegsgefangenschaft in Nordkorea an Tuberkulose gestorben. Zum ersten Mal nach fast 30 Jahren lässt Rocco seine Bäckerei für einen Tag geschlossen. Weil es ein Feiertag ist, stehen 200 Menschen vor seinem Laden.
"Dann tauchte mit einem Mal Rocco zwischen ihnen auf. Auf dem Kopf trug er eine kleine Melone, wie sie seit dreißig Jahren aus der Mode war, und einen wollenen Winteranzug mit Längsstreifen, der eher zu einem Finanzier der heiteren Neunziger gepasst hätte als zu seiner bäuerlichen Erscheinung: verkümmert, bleich, mit angsterfüllten blauen Augen, die wie Edelsteine in einer Kohlenschütte leuchteten. Er versuchte ihnen zu sagen, dass alles ein Missverständnis sei."
Während die lärmende, schwitzende Masse der Mariä Himmelfahrtsprozession folgt, für die Tausende in das Viertel gekommen sind, ist Rocco wie in einem Traum zwischen ihnen; er kann sich den Verlust seines Sohnes so wenig eingestehen wie das sinnlose Verstreichen der letzten Jahre, in denen es in seinem Leben nichts als die Arbeit gab. Mit Rocco eröffnet Scibona im ersten Teil des Romans einen Blick auf das verarmte Arbeiterviertel Elephant Park, auf die Industriekulisse mit ihrem Schwefelgeruch und die sizilianischen Einwanderer, die hier für ihren Traum von den Staaten hart zu arbeiten haben.
Aber auch wenn die Prozession, die Rocco schließlich vom Dach seiner Bäckerei aus betrachtet, die erzählte Gegenwart bildet, lässt Salvatore Scibona sich erzählerisch nicht auf diesen Tag festlegen. 25 Jahre zuvor setzt der zweite Teil des Buches ein, und der Erzähler nähert sich Mrs. Marini, einer leicht verbitterten, älteren Witwe, die in ihrem Keller eine fensterlose Praxis eingerichtet hat, in der sie illegale Abtreibungen vornimmt. Ihre Gedanken, Erinnerungsfetzen, sogar die fantasierten Gespräche zu ihrem verstorbenen Mann Nicolo zeigen die nach außen unnahbare, in schwarze Witwentracht gehüllte Miss Marini innerlich zerrissen; sehnsüchtig nach ihrer verlorenen Heimat Lazio und mit dem großen Vorwurf an ihren Mann, für den sie als 16-Jährige in die Staaten gekommen ist.
"Dann habe ich dich drei Jahre lang nicht gesehen. Ich habe jede Nacht mit deinem schönen Geist geschlafen. Und als ich dich wiedersah, war ich immer noch sehr jung, und ich wusste noch nicht, dass du nicht meine Vorstellung von dir sein würdest."
… wirft sie ihm vor. Auf der Suche nach einer Nachfolgerin für ihre Praxis kümmert sie sich um Carmelina Montanero, genannt Lina, die verborgene Hauptfigur des Romans: Sie ist 20 Jahre alt, als sie um den Preis ihrer Aussteuer an einen Bekannten ihres Vaters verheiratet wird. Als "mittelalterlich" bezeichnet Mrs. Marini das Abkommen; von der Aussteuer kaufen die Eltern eine heruntergekommene Farm mit einem Weinberg. Dieser Hof steht in dem Roman schließlich nicht nur für die Hochzeit, die Lina "allen Honig aus den Adern" saugt, sondern auch für die Tragik eines Traums; die Idee, ein Weingut zu besitzen, wird auch dann nicht aufgegeben, als der Hof längst pleite ist und nichts als harte Arbeit bedeutet.
Da ist nicht nur Patrizia, Linas abgearbeitete Mutter, die gerade noch genug Zähne im Mund hat, um ein Stück Käse damit abzubeißen und es an ihrem Gaumen zu zerdrücken; da ist auch Enzo Mazzone, Linas Mann, dem sich der Erzähler im dritten Teil des Buches, 1952, annähert. Lina ist neun Jahre zuvor von einem Tag auf den anderen verschwunden, und Enzo ist allein mit ihrem 16-jährigen Sohn Ciccio zurückgeblieben. Das Haus ist ungepflegt, nachts raucht er allein in der Dunkelheit der Küche.
"Etwas bremste Enzo, bremste ihn seit langer Zeit. Schließlich würde er - so wie ein Ball, der, nach oben geworfen, immer langsamer wird - für einen Augenblick in der Luft verharren und zu fallen beginnen."
Was Enzo bremst, ist ein Vorfall, der 16 Jahre zurückliegt. Erst kurz vor seinem Tod, als Enzo mit seinem alten Vater, der aus Neapel angereist ist, in seinem Lieferwagen fährt, setzt er an, zu erzählen. Aber er spricht seine Gedanken nicht aus; nur der Erzähler gibt sie wieder.
Enzo hatte Lina …
" … auf dem Boden hinter dem Beistelltisch gefunden. ( ... ) Offenbar war sie irgendwie gestürzt, und irgendwie war ihr Kleid im Fall über den Hintern gerutscht. Der aus irgendeinem Grund nackt war. Und offenbar hatte sie sich irgendwie am Kopf gestoßen, denn sie lag bewusstlos da auf dem Flur, in all dem Blut, obwohl er keine Verletzung an ihrem Kopf feststellen konnte."
Für den Leser verdichtet sich das Bild einer Gewalttat; in zwei kurzen Abschnitten wird erzählt, wie die namenlose Figur des "Waldläufers", ein einsamer Juwelier, Lina an jenem Tag bis in ihre Wohnung verfolgt. Nach dem Missbrauch lässt er ein benutztes Wasserglas stehen, das Enzo später dort findet. Aus der Vergewaltigung muss Ciccio, Linas Sohn, hervorgegangen sein. Scibona fügt die Teile fast beiläufig zusammen - und so verdichtet sich für den Leser vor allem ein Bild von den unausgesprochenen Gesetzen, die in Elephant Park herrschen - man schweigt über das Verbrechen an Lina, und auch die Erinnerungen an Sizilien bestehen nur in den Gedanken der Figuren. Insofern ist Scibonas Erzählweise, sind die Sprünge in Zeiten und Perspektiven mehr als gerechtfertigt.
Auch Scibonas Sprache - in der Übersetzung des Lyrikers Steffen Jacobs - lässt die Lebensverhältnisse der Figuren ohne Verallgemeinerungen aufscheinen; was besticht, sind gerade auch die Nebenfiguren und kleinen Verweise. So etwa ein Detail aus der Prozession:
"Alle paar Meter stand ein Mann über einen Kohlenkasten gebückt. Sein Schweiß tropfte zischend auf das Schweinefleisch, das sich auf dem Grill drehte, und eine Frau mit schiefen braunen Zähnen stand daneben, kassierte das Geld und rollte von Zeit zu Zeit eine Limonadenflasche über sein Gesicht."
Nur Ciccio, Linas Sohn, kann als jüngste Figur die Enge von Elephant Park für sich erfassen. In seinem Wunsch, auszubrechen, spiegelt sich erneut das enge Korsett, in dem er aufgewachsen ist. "Ich fühle mich im Erschwindelten gefangen" sagt er an einer Stelle.
Wieder erzählt Salvatore Scibona von dem Tag der Mariä Himmelfahrtsprozession 1953, aber diesmal erkennt der Leser nicht nur die Bewegung der Menschen auf den Straßen; die Prozession, die aus Protest gegen ein paar tanzende Schwarze aufgelöst wird. Wie der Bäcker Rocco auf dem Dach seiner Bäckerei schaut der Leser zugleich in mehrere Zeiten; was sich zeigt, ist ein Umbruch, Figuren, die getrieben sind, und gefangen in ihren Wünschen, die - anders als Ciccio - nicht ausbrechen können; auf der anderen Seite ihres Alltags liegt, wie Mrs. Marini bemerkt, das,
"… was das Leid auf der Rückseite ist, der hoffnungslose Klang eines lachenden Kindes."
Salvatore Scibona: "Das Ende". Roman
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs
Arche Verlag, Frühjahr 2012, 350 Seiten, Hardcover, 22,95 Euro
Am Morgen dieses Tages, es ist der 15. August 1953, zieht Rocco La Grassa den Anzug an, den er vor 20 Jahren gebraucht gekauft hat und den er schont, weil er sich darin noch beerdigen lassen will. Am Abend zuvor haben zwei Herren vom amerikanischen Marinekorps bei ihm geklopft und ihn, die Hüte unter den Armen, wissen lassen, sein Sohn Mimmo sei während der Kriegsgefangenschaft in Nordkorea an Tuberkulose gestorben. Zum ersten Mal nach fast 30 Jahren lässt Rocco seine Bäckerei für einen Tag geschlossen. Weil es ein Feiertag ist, stehen 200 Menschen vor seinem Laden.
"Dann tauchte mit einem Mal Rocco zwischen ihnen auf. Auf dem Kopf trug er eine kleine Melone, wie sie seit dreißig Jahren aus der Mode war, und einen wollenen Winteranzug mit Längsstreifen, der eher zu einem Finanzier der heiteren Neunziger gepasst hätte als zu seiner bäuerlichen Erscheinung: verkümmert, bleich, mit angsterfüllten blauen Augen, die wie Edelsteine in einer Kohlenschütte leuchteten. Er versuchte ihnen zu sagen, dass alles ein Missverständnis sei."
Während die lärmende, schwitzende Masse der Mariä Himmelfahrtsprozession folgt, für die Tausende in das Viertel gekommen sind, ist Rocco wie in einem Traum zwischen ihnen; er kann sich den Verlust seines Sohnes so wenig eingestehen wie das sinnlose Verstreichen der letzten Jahre, in denen es in seinem Leben nichts als die Arbeit gab. Mit Rocco eröffnet Scibona im ersten Teil des Romans einen Blick auf das verarmte Arbeiterviertel Elephant Park, auf die Industriekulisse mit ihrem Schwefelgeruch und die sizilianischen Einwanderer, die hier für ihren Traum von den Staaten hart zu arbeiten haben.
Aber auch wenn die Prozession, die Rocco schließlich vom Dach seiner Bäckerei aus betrachtet, die erzählte Gegenwart bildet, lässt Salvatore Scibona sich erzählerisch nicht auf diesen Tag festlegen. 25 Jahre zuvor setzt der zweite Teil des Buches ein, und der Erzähler nähert sich Mrs. Marini, einer leicht verbitterten, älteren Witwe, die in ihrem Keller eine fensterlose Praxis eingerichtet hat, in der sie illegale Abtreibungen vornimmt. Ihre Gedanken, Erinnerungsfetzen, sogar die fantasierten Gespräche zu ihrem verstorbenen Mann Nicolo zeigen die nach außen unnahbare, in schwarze Witwentracht gehüllte Miss Marini innerlich zerrissen; sehnsüchtig nach ihrer verlorenen Heimat Lazio und mit dem großen Vorwurf an ihren Mann, für den sie als 16-Jährige in die Staaten gekommen ist.
"Dann habe ich dich drei Jahre lang nicht gesehen. Ich habe jede Nacht mit deinem schönen Geist geschlafen. Und als ich dich wiedersah, war ich immer noch sehr jung, und ich wusste noch nicht, dass du nicht meine Vorstellung von dir sein würdest."
… wirft sie ihm vor. Auf der Suche nach einer Nachfolgerin für ihre Praxis kümmert sie sich um Carmelina Montanero, genannt Lina, die verborgene Hauptfigur des Romans: Sie ist 20 Jahre alt, als sie um den Preis ihrer Aussteuer an einen Bekannten ihres Vaters verheiratet wird. Als "mittelalterlich" bezeichnet Mrs. Marini das Abkommen; von der Aussteuer kaufen die Eltern eine heruntergekommene Farm mit einem Weinberg. Dieser Hof steht in dem Roman schließlich nicht nur für die Hochzeit, die Lina "allen Honig aus den Adern" saugt, sondern auch für die Tragik eines Traums; die Idee, ein Weingut zu besitzen, wird auch dann nicht aufgegeben, als der Hof längst pleite ist und nichts als harte Arbeit bedeutet.
Da ist nicht nur Patrizia, Linas abgearbeitete Mutter, die gerade noch genug Zähne im Mund hat, um ein Stück Käse damit abzubeißen und es an ihrem Gaumen zu zerdrücken; da ist auch Enzo Mazzone, Linas Mann, dem sich der Erzähler im dritten Teil des Buches, 1952, annähert. Lina ist neun Jahre zuvor von einem Tag auf den anderen verschwunden, und Enzo ist allein mit ihrem 16-jährigen Sohn Ciccio zurückgeblieben. Das Haus ist ungepflegt, nachts raucht er allein in der Dunkelheit der Küche.
"Etwas bremste Enzo, bremste ihn seit langer Zeit. Schließlich würde er - so wie ein Ball, der, nach oben geworfen, immer langsamer wird - für einen Augenblick in der Luft verharren und zu fallen beginnen."
Was Enzo bremst, ist ein Vorfall, der 16 Jahre zurückliegt. Erst kurz vor seinem Tod, als Enzo mit seinem alten Vater, der aus Neapel angereist ist, in seinem Lieferwagen fährt, setzt er an, zu erzählen. Aber er spricht seine Gedanken nicht aus; nur der Erzähler gibt sie wieder.
Enzo hatte Lina …
" … auf dem Boden hinter dem Beistelltisch gefunden. ( ... ) Offenbar war sie irgendwie gestürzt, und irgendwie war ihr Kleid im Fall über den Hintern gerutscht. Der aus irgendeinem Grund nackt war. Und offenbar hatte sie sich irgendwie am Kopf gestoßen, denn sie lag bewusstlos da auf dem Flur, in all dem Blut, obwohl er keine Verletzung an ihrem Kopf feststellen konnte."
Für den Leser verdichtet sich das Bild einer Gewalttat; in zwei kurzen Abschnitten wird erzählt, wie die namenlose Figur des "Waldläufers", ein einsamer Juwelier, Lina an jenem Tag bis in ihre Wohnung verfolgt. Nach dem Missbrauch lässt er ein benutztes Wasserglas stehen, das Enzo später dort findet. Aus der Vergewaltigung muss Ciccio, Linas Sohn, hervorgegangen sein. Scibona fügt die Teile fast beiläufig zusammen - und so verdichtet sich für den Leser vor allem ein Bild von den unausgesprochenen Gesetzen, die in Elephant Park herrschen - man schweigt über das Verbrechen an Lina, und auch die Erinnerungen an Sizilien bestehen nur in den Gedanken der Figuren. Insofern ist Scibonas Erzählweise, sind die Sprünge in Zeiten und Perspektiven mehr als gerechtfertigt.
Auch Scibonas Sprache - in der Übersetzung des Lyrikers Steffen Jacobs - lässt die Lebensverhältnisse der Figuren ohne Verallgemeinerungen aufscheinen; was besticht, sind gerade auch die Nebenfiguren und kleinen Verweise. So etwa ein Detail aus der Prozession:
"Alle paar Meter stand ein Mann über einen Kohlenkasten gebückt. Sein Schweiß tropfte zischend auf das Schweinefleisch, das sich auf dem Grill drehte, und eine Frau mit schiefen braunen Zähnen stand daneben, kassierte das Geld und rollte von Zeit zu Zeit eine Limonadenflasche über sein Gesicht."
Nur Ciccio, Linas Sohn, kann als jüngste Figur die Enge von Elephant Park für sich erfassen. In seinem Wunsch, auszubrechen, spiegelt sich erneut das enge Korsett, in dem er aufgewachsen ist. "Ich fühle mich im Erschwindelten gefangen" sagt er an einer Stelle.
Wieder erzählt Salvatore Scibona von dem Tag der Mariä Himmelfahrtsprozession 1953, aber diesmal erkennt der Leser nicht nur die Bewegung der Menschen auf den Straßen; die Prozession, die aus Protest gegen ein paar tanzende Schwarze aufgelöst wird. Wie der Bäcker Rocco auf dem Dach seiner Bäckerei schaut der Leser zugleich in mehrere Zeiten; was sich zeigt, ist ein Umbruch, Figuren, die getrieben sind, und gefangen in ihren Wünschen, die - anders als Ciccio - nicht ausbrechen können; auf der anderen Seite ihres Alltags liegt, wie Mrs. Marini bemerkt, das,
"… was das Leid auf der Rückseite ist, der hoffnungslose Klang eines lachenden Kindes."
Salvatore Scibona: "Das Ende". Roman
Aus dem Englischen von Steffen Jacobs
Arche Verlag, Frühjahr 2012, 350 Seiten, Hardcover, 22,95 Euro