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Das Leiden der Künstler

Der junge italienische Regisseur Damiano Michieletto inszenierte bei den Salzburger Festspielen "La Bohème". Die arme Mimi wird von Anna Netrebko gespielt, was für einen besonderen Andrang auf die Karten sorgte.

Von Frieder Reininghaus |
    Auf der breiten Bühne herrscht Dezemberwetter. Schwere Tropfen perlen die rückwärtige Betonwand hinunter. Vor einem überdimensionalen Fenster, das keinerlei Aussicht gewährt und dessen unterste Sprosse ein Laufsteg ist, campiert die Bohème auf Matratzen. Sie plagt sich zwischen Sperrmüllsesseln und einem Einkaufswagen mit dem Alltag herum und gruppiert sich um einen kommunalen Papierkorb. Der Plakatkünstler Marcello, der gerade an Werbung für Reisen ans Rote Meer arbeitet, und der so ambitionierte wie bislang erfolglose Dramatiker Rodolfo bestreiten ihren Diskurs über die gegenwärtige Kälte mit hervorragenden Stimmen und als überzeugende Darsteller: Piotr Beczala mit seinem leicht geführten sauber und souveränen Tenor, Massimo Cavalletti mit seinem kernigen Bariton.

    Von der Existenz der Penner trennt die jungen Männer nur eine Handbreit. Sie können, wie der ungebetene Besuch des Hausbesitzers umgehend klarstellt, auch für das vierte Quartal die Miete nicht berappen, die fällige Zahlung fürs Erste aber mit einer heiteren Intrige abwenden. Sie wollen sich ebenso wenig wie der Lebensphilosoph Colline und der Musiker Schaunard damit abfinden, dass auch an Weihnachten Schmalhans Küchenmeister ist.

    Da schneit zu Rodolfo die Nachbarin Lucia herein, die sich mit einem schlecht bezahlten Job in der Modebranche durchschlägt und der die Streichhölzer ausgegangen sind. Darauf hat das Gros der Leute im Parkett und im Rang gewartet: Zu sehen und zu hören, wie der jungen Frau, die aus unerfindlichen Gründen Mimi genannt wird, auch kalt an den Händen und ums Herz ist. Sie ist mit dem kurzen Rock vielleicht zu leicht angezogen für die Jahreszeit, aber genau richtig, um das Interesse des Literaten, der sich nur allzu gern von der lästigen Pflicht ablenken lässt, auf ihre weichen Knie zu lenken. So kommt es, wie es kommen muss: zu den anrührenden, makellos und mit intensiver Spannung zelebrierten Liebesduetten, zum kurzen Glück im Schein der Weihnachtsbeleuchtung und dem nur zu bald hereinbrechenden Zerwürfnis.

    Der Regisseur Damiano Michieletto vertraute bei seiner Erkundung der Polyfonie des Lebens junger Künstler im Paris der 1860er-Jahre in hohem Maß auf eine aufwendige Ausstattung. Zum zweiten Bild und den Straßenszenen im weihnachtlichen Paris zeigt sich ein gewaltig vergrößerter Stadtplan der Metropole und es marschiert eine Polizeikapelle auf. Im Gegenzug dann der kalte Morgen nach den vom Alkohol und der frischen Liebe angeheizten Nächte: Eine fahrbare Bier-, Kaffee- und Würstchenbude wartet auf einer steil ansteigenden, von grauem hartem Schnee bedeckten Fahrbahn. In diesem wenig anheimelnden Ambiente offenbart Rodolfo seine Lebensängste und seine Bindungsunfähigkeit, Mimi ihr Unglück. Zum Tod der lungenkranken jugendlichen Liebhaberin in der unterkühlten Unwirtlichkeit der Großstadt schließt sich das große Fenster.

    Michielettos dekorative Inszenierung erscheint an der Oberfläche modern, indem der zugrunde gelegte Stadtplan und die Klamotten von 2012 stammen. Aber sie aktualisiert den Kern des nach Henri Murgers Bohème-Roman gefertigten Librettos nicht: die offensichtlich nur bedingt selbst verantworteten (gar "verschuldeten") Lebensumstände junger Künstler in den Zeiten des Prekariats. Aber davon will das Salzburger Festspielpublikum wohl keine Notiz nehmen. Die meisten Leute wollen einfach nur angerührt sein. Und dafür sorgte Daniele Gatti mit großen, intensiv-beschwörenden Bewegungen vor den Köpfen der hoch ausgesteuerten Wiener Philharmoniker: für einen fortdauernden Wärmestrom der Musik. Die Idee, dass die Musik im Kontext der Kältewellen der Story wenigstens streckenweise auch kühl-sachlich genommen werden könnte, scheint außerhalb der Optionen zu liegen. Es wäre die gebotene Kitschbremse gewesen und auch dem Gesang von Anna Netrebko zugutegekommen. Die Sopranistin hat die in den letzten Jahren oft unüberhörbaren technischen Probleme mit ihrer Stimme offensichtlich überwunden.