In der Tat ist das Buch hierzulande ein Novum. Die Alice-Abenteuer waren in unterschiedlichen Ausgaben schon immer erhältlich, und der Insel-Verlag hat auch weitere Gedichtsammlungen, Knobelgeschichten und Briefe übersetzen zu lassen, aber eine deutsche Gesamtausgabe gab es bislang nicht. Insbesondere der späte Roman "Sylvie & Bruno", in dem Carroll seine Phantasmagorie einer Pluralität von Traumwelten gewissermaßen als Bildungsroman entfaltet, war nur zur Hälfte auf Deutsch verfügbar. Dieter Stündel hat als erster eine Gesamtübersetzung des an die 500 Seiten umfassenden Schlüsselwerkes des viktorianischen Fin-de-siècle vorgelegt, in dem es nicht nur um die Entwicklungsgeschichte kindlicher Liebe im Zeichen der Märchenwelt von Elfen geht, sondern auch der Zeitgeist der entfesselten Industrialisierung gut getroffen wird, z.B. in der Erfindergestalt des verrückten Professors, dessen Uhr die Zeit umkehren kann.
Carroll ist berühmt für seine skurrilen Nonsense-Geschichten, die nun - neben der Reedition der kompletten Fassung von "Sylvie & Bruno" - in der vorliegenden Ausgabe als Ganzes in einer Neuübersetzung von Stündel vorliegen. So sind zum ersten mal unbekanntere Werke wie die "Phantasmagorien", die "Sonnenuntergänge", aber auch die Kleinprosa von "Mischmasch" oder der beiden frühen, von Carroll für den privaten Familienkreis zusammengestellten Sammlungen "Pfarrhausschirm" und "Pfarrhausmagazin" übertragen worden. Stündel, der sich unter anderem auch an eine deutsche Fassung von Joyces "Finnigans Wake" gewagt hatte, versucht die Carrollschen Wortspiele und -witze ganz im Geiste Arno Schmidts nachzuempfinden und hat in diesem Sinne auch für die bereits auf Deutsch vorliegenden Stücke - wie z. B. die von dem Frankfurter Anglisten Klaus Reichert übersetzte "Jagd nach dem Snark" und natürlich "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" in der bislang bekanntesten Version des prominenten Übersetzers Christian Enzensberger - neue Eindeutschungen vorgenommen. Leider bekommt diese Konkurrenz der Neufassung nicht immer. Oft wirkt die Version Stündels angestrengt und verliert auf der Suche nach passenden deutschen Wortwitzen den trockenen Humor des Originals. (Um nur ein Beispiel zu nennen: so klingt bei der Begegnung von Alice mit der schwatzhaften Maus, die Carroll zum Wortspiel mit den beiden gleichklingenden Ausdrücken tail - für Schwanz - und tale - für Erzählung - provoziert, Enzensbergers Wahl des doppeldeutigen Ausdrucks "weitschweifig" eleganter als Stündels Witzelei mit "Schwätzchen" und "Schwänzchen".)
Um so dubioser muten die Umstände der Edition an. Die Ausgabe geizt mit einem radikal, nämlich mit Auskunft über ihre Hintergründe. Dem Kenner fällt auf, daß frühere Editionen Stündels bis hin zu den entsprechenden Passagen des Nachwortes unverändert recycelt wurden. Das größte Schweigen wird aber über die Auswahl der Texte gewahrt. Die Ausgabe ist nämlich keineswegs komplett, und vor allem sind kommentarlos die beiden, für das Verständnis ganz wichtigen Vorwörter des ersten und zweiten Teils von "Sylvie & Bruno" weggelassen worden. Über das Verhältnis zum englischen Original (z. B. die Standardedition der "Complete Works" von Alexander Woollcott) oder die Einteilung und Kapitelüberschriften gibt es keinerlei Information. Und so kann der deutsche Leser zwar wohlfeil ein ansehlich gebundenes Buch mit Lewis Carrolls Werken erstehen; was dessen Inhalt anbelangt, ist er aber auf Gedeih und Verderb dem Vertrauen auf Herrn Stündel ausgeliefert, der eigenmächtig entscheidet, was als "literarisches Gesamtwerk" von Lewis Carroll zu gelten hat.
Gerade einem Verlag wie Zweitausendeins, der gern mit der Gewissenhaftigkeit seiner Editionen wirbt, muß man um so nachhaltiger eine solche Preisgabe philologischer Genauigkeit zugunsten marktgängiger Kopiertechniken ankreiden. Überdies ist die Ausgabe, ungeachtet ihres Dumpingpreises, gnadenlos schlampig gedruckt. Es wirkt einfach lächerlich, mit 365 Illustrationen zu werben, die qualitativ auf dem untersten Niveau der Photokopie reproduziert sind. Jedenfalls dürften sich Illustratoren wie Tenniel oder Furniss im Grabe umdrehen, wenn sie ihre feinstrichigen Zeichnungen so im Schwarznebel mangelnder Graustufen untergehen sehen würden. Wäre es statt dessen nicht verdienstvoller gewesen, wenn man endlich einmal eine deutsche Ausgabe der "Annotated Alice", d. h. des Entschlüsselungsversuches aller Anspielungen in Carrolls Hauptwerk herausgebracht hätte?
Carroll ist berühmt für seine skurrilen Nonsense-Geschichten, die nun - neben der Reedition der kompletten Fassung von "Sylvie & Bruno" - in der vorliegenden Ausgabe als Ganzes in einer Neuübersetzung von Stündel vorliegen. So sind zum ersten mal unbekanntere Werke wie die "Phantasmagorien", die "Sonnenuntergänge", aber auch die Kleinprosa von "Mischmasch" oder der beiden frühen, von Carroll für den privaten Familienkreis zusammengestellten Sammlungen "Pfarrhausschirm" und "Pfarrhausmagazin" übertragen worden. Stündel, der sich unter anderem auch an eine deutsche Fassung von Joyces "Finnigans Wake" gewagt hatte, versucht die Carrollschen Wortspiele und -witze ganz im Geiste Arno Schmidts nachzuempfinden und hat in diesem Sinne auch für die bereits auf Deutsch vorliegenden Stücke - wie z. B. die von dem Frankfurter Anglisten Klaus Reichert übersetzte "Jagd nach dem Snark" und natürlich "Alice im Wunderland" und "Alice hinter den Spiegeln" in der bislang bekanntesten Version des prominenten Übersetzers Christian Enzensberger - neue Eindeutschungen vorgenommen. Leider bekommt diese Konkurrenz der Neufassung nicht immer. Oft wirkt die Version Stündels angestrengt und verliert auf der Suche nach passenden deutschen Wortwitzen den trockenen Humor des Originals. (Um nur ein Beispiel zu nennen: so klingt bei der Begegnung von Alice mit der schwatzhaften Maus, die Carroll zum Wortspiel mit den beiden gleichklingenden Ausdrücken tail - für Schwanz - und tale - für Erzählung - provoziert, Enzensbergers Wahl des doppeldeutigen Ausdrucks "weitschweifig" eleganter als Stündels Witzelei mit "Schwätzchen" und "Schwänzchen".)
Um so dubioser muten die Umstände der Edition an. Die Ausgabe geizt mit einem radikal, nämlich mit Auskunft über ihre Hintergründe. Dem Kenner fällt auf, daß frühere Editionen Stündels bis hin zu den entsprechenden Passagen des Nachwortes unverändert recycelt wurden. Das größte Schweigen wird aber über die Auswahl der Texte gewahrt. Die Ausgabe ist nämlich keineswegs komplett, und vor allem sind kommentarlos die beiden, für das Verständnis ganz wichtigen Vorwörter des ersten und zweiten Teils von "Sylvie & Bruno" weggelassen worden. Über das Verhältnis zum englischen Original (z. B. die Standardedition der "Complete Works" von Alexander Woollcott) oder die Einteilung und Kapitelüberschriften gibt es keinerlei Information. Und so kann der deutsche Leser zwar wohlfeil ein ansehlich gebundenes Buch mit Lewis Carrolls Werken erstehen; was dessen Inhalt anbelangt, ist er aber auf Gedeih und Verderb dem Vertrauen auf Herrn Stündel ausgeliefert, der eigenmächtig entscheidet, was als "literarisches Gesamtwerk" von Lewis Carroll zu gelten hat.
Gerade einem Verlag wie Zweitausendeins, der gern mit der Gewissenhaftigkeit seiner Editionen wirbt, muß man um so nachhaltiger eine solche Preisgabe philologischer Genauigkeit zugunsten marktgängiger Kopiertechniken ankreiden. Überdies ist die Ausgabe, ungeachtet ihres Dumpingpreises, gnadenlos schlampig gedruckt. Es wirkt einfach lächerlich, mit 365 Illustrationen zu werben, die qualitativ auf dem untersten Niveau der Photokopie reproduziert sind. Jedenfalls dürften sich Illustratoren wie Tenniel oder Furniss im Grabe umdrehen, wenn sie ihre feinstrichigen Zeichnungen so im Schwarznebel mangelnder Graustufen untergehen sehen würden. Wäre es statt dessen nicht verdienstvoller gewesen, wenn man endlich einmal eine deutsche Ausgabe der "Annotated Alice", d. h. des Entschlüsselungsversuches aller Anspielungen in Carrolls Hauptwerk herausgebracht hätte?