Bei der Arbeit an seiner 6. Sinfonie hatte Mahler das Tragische der menschlichen Existenz im Sinn. Seine Frau Alma berichtete von einer Äußerung ihres Mannes, im Mittelpunkt des letzten, besonders umfangreichen Satzes der Sinfonie stehe ein Mann, der drei Schicksalsschlägen ausgesetzt sei, von denen der letzte ihn wie einen Baum fällen würde. Diese Hammerschläge sind in der Musik auch ganz konkret zu hören, und da Mahler ein Jahr nach der Uraufführung von drei Schicksalsschlägen heimgesucht wurde, hatten es die Musikgeschichten-Erzähler später sehr einfach, dem Komponisten seherische Fähigkeiten zu attestieren: 1907 musste Mahler in Wien als Direktor der Oper zurücktreten, seine vierjährige Tochter starb an Scharlach und bei ihm selbst diagnostizierte sein Arzt eine Herzkrankheit, an der Mahler dann wenige Jahre später als 50jähriger starb. Manche gingen mit ihren Interpretationen des Werkes noch weiter: Mahler habe hier nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern das des ganzen Jahrhunderts vorausgeahnt: Krieg und Leid, Verfolgung und Vertreibung.
Andere bleiben da realistischer und verweisen auf Mahlers Interesse am Philosophen Friedrich Nietzsche. Der bewunderte die alten Griechen und ihre Tragödien, die es ermöglichen, "mit mutigem Blick auf das schreckliche Durcheinander der so genannten Weltgeschichte und auf die Unbarmherzigkeit der Natur zu schauen". Im wohlgeformten Rahmen dieser klassischen Kunstform könne der Zuschauer Kraft und Mut schöpfen, die schrecklichsten Schicksalsschläge und die sinnlose Unbarmherzigkeit der Existenz zu ertragen.
Die äußeren Lebens-Umstände zur Zeit der Entstehung des Werkes waren jedenfalls alles andere als tragisch: Die "Sechste" entstand während der Sommerwochen der Jahre 1903 und 1904 in der nach Alma Mahlers "glücklichsten Zeit ihrer Ehe". Mahler war als Komponist ebenso erfolgreich wie als Dirigent und Direktor der Wiener Hofoper. Vielleicht war es gerade dieses Glück, dem der kritische Musiker nicht traute, das er durch das Komponieren der Schattenseiten des Lebens gleichsam bestechen wollte, auf dass es länger andauere... Wie dem auch sei: Diese A-moll-Sinfonie ist das wohl düsterste seiner Werke und das einzige, das sich nicht zu einem wenigstens im transzendentalen Sinne positiven Schluss hin entwickelt.
Das London Symphony Orchestra spielt diese 6. Sinfonie mit allerhöchster Konzentration. Gerade der letzte Satz, die vielleicht am schwersten zugängliche Musik Mahlers überhaupt, erhält in dieser Interpretation eine Klarheit wie selten. Das liegt an der besonderen Fähigkeit des Dirigenten Mariss Jansons, Extreme auch als solche darzustellen und ganz auszuschöpfen. Für Sehnsucht, Trauer, Resignation, einzelne Glücksepisoden findet er ebenso den passenden Ton wie für derb dreinfahrendes Schicksal, für hektische Aufgeregtheit oder für Banales, Hohles, Parodistisches.
Jansons gehört inzwischen zu den großen Dirigenten unserer Zeit. Seit 1997 Musikdirektor des Pittsburgh Symphony Orchestra, übernahm er im Herbst letzten Jahres als Nachfolger von Lorin Maazel den Chefdirigentenposten beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks und wird ab der nächsten Spielzeit auch das musikalischer Direktor des Königlichen Concertgebouw Orchesters in Amsterdam. Sein Vater war Dirigent am Opernhaus von Riga, wo unter anderen auch Leo Blech, Hermann Abendroth und viele andere Gäste dirigierten. Mariss Jansons studierte in St. Petersburg und erhielt dort, wie er sagt, die beste Dirigentenausbildung, die man sich vorstellen konnte. Weitere "Lehr- und Wanderjahre" in Wien bei Hans Swarowsky und in Salzburg bei Herbert von Karajan. 1971 gewann er den Dirigentenwettbewerb der Herbert von Karajan-Stiftung und wurde zwei Jahre später Assistent von Jewgeni Mrawinski bei der Leningrader Philharmonie. Eine mit Simon Rattle in Birmingham vergleichbare enthusiastische Aufbauarbeit leistete Mariss Jansons in Oslo, wo er 1979 das Philharmonische Orchester übernahm und es in wenigen Jahren zu einem weltweit beachteten Klangkörper machte.
Besonders eingesetzt hat sich Jansons für das Werk Dimitri Schostakowitschs, den er für eines der wenigen wirklichen musikalischen Genies des 20. Jahrhunderts hält, einen musikalischen Philosophen, der einen permanenten individuellen Kampf führt - mit sich selbst und mit der Gesellschaft, in der er lebt. Dennoch - und da vergleicht Jansons Schostakowitsch mit Mahler - dennoch verfüge Schostakowitsch in seiner Musik über ein enorm breites Spektrum, das von Humor über Sarkasmus bis zu Elementen der Tragödie und des Dramas reicht. Vielleicht kommt daher auch Jansons großes Interesse und Verständnis für die Werke Mahlers und speziell für dessen "tragische" 6. Sinfonie, vielleicht ist es die ähnliche Radikalität, mit der Schostakowitsch und Mahler gerade in ihren Sinfonien jeweils auf ihre Art elementare Fragen behandeln, wie: Was ist die Welt? Was die Natur? Was ist Liebe, was ist Leid? Schicksalhafte Erfahrungen hat jedenfalls auch Jansons bereits hinter sich: nach einem Herzinfarkt, den er vor einigen Jahren in Oslo erlitten hat, fühlt er sich dem Leben zurückgegeben und innerlich viel reicher und gereifter. Seitdem kann er, wie er sagt, leise Musik und langsame Tempi genießen wie nie zuvor.
Die Neue Platte - heute mit der 6. Sinfonie von Gustav Mahler, die das London Symphony Orchestra unter der Leitung von Mariss Jansons auf dem eigenem Label "LSO live" herausgebracht hat. Im Studio verabschiedet sich Ludwig Rink.
Titel: Gustav Mahler - Sinfonie Nr. 6 a-moll
Orchester: London Symphony Orchestra
Leitung: Mariss Jansons
Label: LSO live
Labelcode: LC 12039
Bestellnr.: LSO 0038