Der 10. Januar 1992 war ein verhängnisvoller Tag für 28.800 gelbe Entchen, blaue Schildkröten, grüne Frösche und rote Biber. Der Frachter, der sie von Hongkong nach Tacoma bringen sollte, kämpfte in schwerer See gegen haushohe Wellen. Drei Container gerieten ins Rutschen – auch der, in dem die bunten Badewannentiere steckten.
"”Plastik ist ein unglaubliches Material: Es ist leicht, haltbar und billig. Unsere Produktion ist von etwa fünf Millionen Tonnen im Jahr 1950 auf rund 225 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr angewachsen.""
Mitten im Nordpazifik, ganz in der Nähe der Datumsgrenze, gingen die Quietschetiere über Bord: Kein Land weit und breit.
"Kunststoffe werden seit den 40er Jahren hergestellt und wir glauben, dass sie im Meer mehr als ein Jahrhundert überstehen, vielleicht auch sehr viel länger. Wir haben überhaupt keine Erfahrung, wie sich Plastik langfristig verhält."
Die Monate vergingen. Im Sommer strandeten die ersten Plastiktiere an einer felsigen Küste bei Sitka/Alaska, nach einer Reise von immerhin 3500 Kilometern. Die anderen schwammen weiter. Sie fädelten sich in die Ringströmung im Pazifik ein. Ein paar stiegen in Hawaii aus, andere an den Stränden Australiens, Indonesiens oder Kolumbiens.
"Das Meer und der Müll
Treibgut in der Tiefsee
Von Dagmar Röhrlich"
"”Plastik im Meer ist ein riesiges Problem, eines, das wir meist nicht im Blick haben. Es geht um gewaltige Mengen, die sowohl von Land kommen, als auch von Schiffen. Der Plastikmüll nimmt nicht nur Tag für Tag zu, vielmehr ist auch alles, was in den vergangenen 50 Jahren in den Ozeanen gelandet ist, immer noch da.""
Staunend verfolgen Ozeanographen und Weltöffentlichkeit die Odyssee der Plantschtier-Armada, die treibt, wohin die Meeresströmungen sie trägt. Sie trotzt nicht nur dem stürmischen Nordpazifik und der Hitze des Äquators, sondern auch der jahrelangen Drift im Eismeer – ebenso wie Milliarden und Abermilliarden anderer Plastikteile. Für Meeresökologen wie Richard Thompson von der Universität von Plymouth sind die Entchen und Frösche deshalb nichts anderes als das friedlich-freundliche Gesicht eines ernsten Themas. Wie ernst, zeigt ein Besuch an einem beliebigen Strand dieser Welt. Gleichgültig wo man ist, der Müll ist schon da. Auch in Plymouth. Wenn Richard Thompson am Strand spazieren geht, braucht er sich nur zu bücken und aufzuheben, was die letzte Flut angeschleppt hat: ein halbes Dutzend Flaschenverschlüsse, eine Zahnbürste, drei Plastikflaschen, ein Feuerzeug, Fetzen von Plastiktüten.
"”Wir haben uns dafür entschieden, 40 Prozent der jährlichen Kunststoff-Produktion zu nehmen, und sie als Verpackungsmaterial zu benutzen, das innerhalb eines Jahres weggeworfen wird. Zusammen mit den Einmalartikeln kommen wir auf etwa 80 Prozent. Wir nehmen also ein Material, das Jahrhunderte oder Jahrtausende übersteht, um Wegwerfartikel daraus zu fertigen, die sich in der Umwelt ansammeln.""
Oft genug enden sie im Meer, wo sie ein langes, zweites Leben beginnen. Nach einer Studie des UN-Umweltprogramms Unep treiben mittlerweile auf jedem Quadratkilometer Meeresoberfläche 18.000 Plastikteile: Vom Äquator bis zu den Polen – überall dümpelt Plastik.
"”Bridge?”
"Yes”
"Are you moving now?”
"Yes, a little bit, I turn a little bit.”
"Can you keep the position please”
"Yes, we keep the position and we will turn the ship to 180 degrees, so that we have the current from the propeller not directly into the direction of Victor”
"Okay, thank you.”
"You are welcome.”"
Die "Polarstern" – das Flaggschiff des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung – hat in der Framstraße Position bezogen, irgendwo zwischen Spitzbergen und Grönland. Bis zum Nordpol sind es von hier aus noch 1000 Kilometer, und das Packeis glänzt in der Mitternachtssonne am Horizont. 2500 Meter unter der Polarstern arbeitet ein französisches Forschungs-U-Boot. Victor 6000 schwebt über den Meeresboden und filmt ihn systematisch ab.
Im Victor-Kontrollcontainer an Bord der Polarstern ist es dunkel. Nur die Bildschirme liefern ein wenig schummriges Licht. Sie zeigen den Status des U-Boots an und was die Kameras am Meeresgrund einfangen. Fragile Tiefseeschwämme tauchen im Scheinwerferlicht auf, dann Crinoiden – und: eine Chipstüte mit chinesischen Schriftzeichen.
An Bord stellt sich heraus, dass diese Plastiktüte "Made in Hongkong" ist und dass in ihr sogar noch ein paar gesalzene Kartoffelchips stecken. Was für ein Souvenir für die Sammlung von Francois Galgani. Der Meeresbiologe forscht am Ifremer in Issy-les-Moulineaux, und die Müllfracht der Meere beschäftigt ihn nun schon seit Jahren. Es geht um gigantische Mengen, erzählt er. Jahr für Jahr werfen Schiffsbesatzungen allein fünf Millionen Tonnen Plastikmüll über Bord, trotz eines internationalen Verbots. Dazu kommt, was die Flüsse mit sich schleppen und was Wind und Wellen von den Stränden und offenen Mülldeponien aufraffen. Galgani:
"Wir haben 1992 mit einem Experiment zur Erfassung des Mülls am Meeresboden begonnen und seitdem Dutzende von Forschungsfahrten entlang der Küsten Europas unternommen. Es ist beeindruckend, wie es in einigen Gebieten aussieht, etwa im Nordwesten des Mittelmeers oder in der Nordsee, 200 Kilometer von der dänischen Küste entfernt."
Im nordwestlichen Mittelmeer liegen vielleicht 300 Millionen Stück Müll am Tiefseeboden, am Boden der Nordsee vor Dänemark 150 Millionen. Hier ist der Traum vom vereinten Europa wahr geworden, scherzt Francois Galgani – Im Meer gehört der Müll allen:
"”Inzwischen haben wir einige Erfahrung damit, wie die Strömungen und die Geomorphologie die Verteilung des Mülls auf dem Meeresboden beeinflussen. Während die Strömungen ihn an einer Stelle zusammenfegen, liegt anderswo kaum etwas. Die Frage ist, wo der Müll endet. Unseren bisherigen Untersuchungen zufolge reichert er sich in der Tiefsee vor der europäischen Küste an, aber weil wir aufgrund der Meeresströmungen auch erwarten, dass ein Teil in Richtung Norden transportiert wird, sind wir hier in der Framstraße.""
Plastik ist leicht und schwimmt. Mit der Zeit siedeln sich Mikro-Organismen darauf an, auch Algen oder kleine Schalentiere. So wird der Kunststoff irgendwann zu schwer und sinkt. Die Unep schätzt, dass sich der weitaus meiste Abfall, der im Meer landet, eines Tages auf dem Meeresboden wiederfindet – vor der Küste ebenso wie in den entlegensten Ecken der Tiefsee. Francois Galgani:
"”Dank Victors Filmaufnahmen vom Meeresboden können wir hier in der Arktis den Müll zählen, in Karten eintragen und seine Dichte berechnen. Ich bin erschrocken, dass es hier so viel Müll gibt, auch wenn seine Dichte – fernab von Schifffahrtsstraßen und großen Städte – natürlich nicht so hoch ist wie in den müllreichen Gebieten Europas.""
Rund 15 Millionen Stück Müll dürften dort unten liegen, schätzt er – und wie überall auf der Welt, besteht er zu einem großen Teil aus Plastik. Galgani:
"”Der Anteil von Plastik liegt bei etwa 80 Prozent. Wir fanden Plastiktüten und -dosen, aber auch ein großes Fischernetz und ein Stück Metall, von dem wir nicht wissen, was es ist. Im Grunde ist die Zusammensetzung des Abfalls die gleiche wie weiter südlich.""
Dabei könnte Plastik in der Tiefsee für die Ewigkeit gemacht sein. Dort unten ist es kalt, es gibt kein Licht, wenig Sauerstoff und die Zersetzungsprozesse laufen anders ab als an Land. Sogenannter "biologisch abbaubarer Kunststoff" zersetzt sich in den Ebenen des Abyssals nicht: Schon an Land brauchen viele Sorten dazu Temperaturen um 40 Grad Celsius.
An der Scripps Institution of Oceanography im kalifornischen La Jolla ahnt man unter dem Rauschen der Klimaanlage die Brandung des nahen Pazifiks. Auf dem Fensterbrett versammeln sich filigrane Tiefseeschwämme neben ausdrucksvoll gewundenen Hirnkorallen. Es sind Souvenirs, die Tony Koslow im Laufe der Jahre zusammengetragen hat. Tony Koslow ist Meeresbiologe, Spezialist für die Tiefsee. Das Problem Müll im Meer kennt er seit langem: 1973 führte ihn sein erster Job nach Kodiak, jenseits von Alaska, und mit den Forschungstrawls landeten nicht nur Tonnen von Fisch an Deck, sondern auch Stiefel, Plastikflaschen, Konservendosen, zerrissene Fischernetze und eine schwarze Sake-Flasche, die geheimnisvoll glänzte und ihm deshalb heute noch als Lampenfuß dient. Obwohl die Kodiak-Inseln am Ende der Welt zu sein scheinen, liegen sie doch mitten im Müllstrom. Koslow:
"Wenn man etwas loswerden wollte, hat man es schon immer einfach über Bord ins tiefes Wasser geworfen. Dann war es fort, und man hatte den Eindruck, dass man sich nicht länger darum kümmern müsse."
Aus den Augen, aus dem Sinn gibt es aber nicht.
"Im Meer gibt es viele Migrationen. Myriaden von Organismen wandern nachts an die Oberfläche, um zu fressen, und verschwinden tagsüber wieder in die Tiefe.
Sprecher: Und weil sie auch Müll fressen, werden sie zum Aufzug für den Plastikmüll und seine Schadstoffe. Er ist überall."
Mitten im Zentralpazifik erstreckt sich eine Wüste – fast so groß wie Afrika. Die Fischer meiden sie, weil es für sie nichts zu holen gibt, wo kein Plankton wächst. Auch die Segler halten sich fern, denn hier schläft selbst der Wind. Wenn früher Tier-Transportsegler über Wochen in den Ross-Breiten in der Flaute steckten und Wasser und Futter knapp wurden, warf man die Pferde, Schafe und Schweine einfach über Bord. In dieser trostlosen Gegend formen die Meeresströmungen den Großen Nordpazifischen Wirbel, den größten Mahlstrom dieser Erde. In ihm sammelt sich der schwimmende Müll, ob er nun irgendwo von einer offenen Müllkippe ins Meer geweht wurde oder von einem Frachter verloren ging. Nach ein paar Jahren tanzt alles im großen Wirbel mit. So treibt zwischen Nordamerika und Asien die größte Mülldeponie der Welt – so groß wie Zentraleuropa. Alle zwei bis drei Jahre hat es das Treibgut geschafft: Dann ist es nach 13.000 Kilometern wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen.
In dem großen Müllwirbel schwimmen pro Quadratkilometer 3.340.000 Stücke Plastikmüll – und dabei ist die Fraktion, die kleiner ist als ein Din-A-5-Blatt noch nicht mitgezählt. In diesem Müllstrom liegen auch die Midway-Islands, irgendwo im Nirgendwo zwischen Honolulu und Tokyo. Berühmt wurden die kleinen Vulkaninseln zum einen als US-Miltärbasis im Korea- und im Vietnam-Krieg, zum anderen, weil auf ihnen fast zwei Millionen Vögel leben, darunter eine große Albatross-Population, die den Flugplatz gerne für die eigenen Starts und Landungen nutzt, erzählt Kristina Gjerde. Sie ist Referentin für Hochseefragen bei der internationalen Naturschutzorganisation IUCN:
"”Dort kommen jährlich etwa eine halbe Million Albatross-Küken zur Welt, von denen 200.000 verenden. Als Biologen das näher untersuchten, fanden sie in vielen Kadavern alle möglichen Plastikstücke von Dübeln bis hin zu Fischködern.""
Albatrosse fressen vor allem in der Nacht, wenn die Tintenfische an die Meeresoberfläche steigen, aber sie verschmähen auch Fisch, Fischeier oder Aas keineswegs, ganz nach dem Motto: Besser den Schnabel voll, als wählerisch herumpicken. Manchmal ist das eine gefährliche Strategie.
"”Einige Albatrosse haben Gegenstände verschluckt, die so groß sind wie Feuerzeuge und die sie natürlich nicht verdauen konnten. Sie blieben in ihren Eingeweiden stecken. Die Vögel konnten deshalb nicht mehr richtig fressen – und starben irgendwann.""
Wenn man so will, verhungerten sie bei vollem Magen, erklärt Richard Thompson. Nicht nur Albatrossen ergeht es so. Auch Bilder von Schildkröten, die Plastiktüten für Quallen - ihre Leibspeise – hielten und qualvoll verendeten, gingen um die Welt. Thompson:
"”Vor allem die Tierarten, die sich ihre Nahrung an der Meeresoberfläche suchen, verwechseln die treibenden Plastikstücke mit dem, was sie normalerweise fressen. Mehr als 95 Prozent der an der Nordsee tot an den Strand gespülten Sturmvögel hatten Plastikteile in ihren Mägen. Durchschnittlich 44 Stück. Wir haben die Relationen berechnet. Bei einem Menschen entspräche die Plastikmenge, die wir in einigen Seevögeln gefunden haben, einem Ball von mehr als zwei Kilogramm Gewicht und einem Durchmesser von 15 bis 20 Zentimetern.""
80 Prozent des Plastikmülls, der an niederländischen Küsten landet, trägt Schnabelspuren: Die Meeresvögel haben versucht, es zu fressen. Die Spur des Kunststoffs zieht sich durch alle Weltmeere. Kristina Gjerde:
"Auf den nordwestlichen Inseln von Hawaii hat man die seltenen Hawaiianischen Mönchsrobben tot in verlorenen Fischernetzen gefunden, in denen sie sich verheddert hatten oder erstickt im Polyethylenring eines Sixpacks. Selbst Buckelwale haben sich in herrenlosen Fischernetzen verfangen und sind darin erstickt."
Verlorene Fischernetze sind ein gewaltiges Problem. Früher, als die Netze noch aus Hanf oder Baumwolle gefertigt waren, verrotteten sie im Wasser, wenn sie verloren gingen oder im Sturm gekappt werden mussten. Seitdem Plastik in der Fischerei Einzug gehalten hat, schweben zahllose Geisternetze im Meer. Allein in einem Seegebiet vor Schottland werden Tausende vermutet. Thompson:
"Diese Netze bestehen aus Plastik und bleiben Hunderte von Jahren im Meer intakt. Sie sind auf Langlebigkeit ausgelegt und dafür da, Fisch zu fangen. Wo sie herrenlos durchs Wasser ziehen, fangen sie alles, was in ihre Nähe kommt: Fische, Meeressäuger und Seevögel."
Sie fischen einfach immer weiter - jahre- und jahrzehntelang. Vor allem in der Tiefsee lassen sie sich nicht stoppen. Die verrottenden Kadaver locken noch mehr Fische an – und so werden die Geisternetze niemals leer. Irische und britische Fischereibehörden ließen 2006 in drei Fischfanggebieten vor Schottland nach Geisternetzen suchen: Innerhalb eines Monats wurden 236 Netze eingesammelt. Aber weltweit kommen täglich Hunderte dazu. Die Experten haben noch nicht einmal eine Ahnung, wie viele Tonnen Fisch sie vernichten. Doch die Lebewesen im Meer kämpfen nicht nur mit den großen Kunststoffteilen.
Die Brandung schlägt gegen die Felsen, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Im Lauf der Zeit nagt sie selbst die größten Steine zu feinstem Sand – ebenso wie die Drehverschlüsse, Plastikhelme, CD-Hüllen, Wattestäbchen, Einkaufstüten und was sonst noch alles an Plastikmüll im Meer landet. Er wird zerrieben, bis nicht mehr übrig ist als die "Tränen der Meerjungfrau", wie sie genannt werden: winzige Kunststoffkörnchen, die massenweise in jeder Handvoll Sand stecken. Thompson:
"Wir haben direkt in den ersten Sand- und Wasserproben, die wir genommen haben, Plastikpartikel gefunden, von denen die kleinsten winziger waren als der Durchmesser eines menschlichen Haares. Überall auf der Welt ist das gleich, gleichgültig, ob unsere Proben aus Europa kommen, aus Nord- oder Südamerika oder aus Australien und Afrika. Forscher aus Indien und Indonesien kommen zu denselben Ergebnissen wie wir: Sowohl der Strand, als auch das Meer sind voller winziger Plastikfragmente, die das Wasser ‚verseuchen’."
Es ist nicht nur der Zahn der Zeit, der zur Vermehrung des Mikroplastiks beiträgt. Inzwischen stecken in vielen Haushaltsreinigern oder in Peelingcremes für Gesicht und Körper statt pulverisierter Kerne oder Meersalz – Plastikkügelchen. Die sind oft so winzig, dass sie durch die Kläranlagen "rutschen". Es gibt keine Filter, die so feine Stoffe zurückhalten. Thompson:
"Plastikkügelchen werden auch eingesetzt, um alte Farbe oder Überzüge von Flugzeugen oder Schiffen zu entfernen. Früher nahm man dafür Sand, aber Plastik reinigt sanfter, weshalb man es besonders zur Reinigung empfindlicher Flächen einsetzt. Prinzipiell ist auch nichts falsch daran, aber – man fragt sich, wie die mit Farbstoffen beladenen Kügelchen entsorgt werden. Solange das korrekt passiert, ist alles okay. Aber wenn diese sehr, sehr kleinen Plastikteilchen im Abwasser enden, landen sie letztendlich im Meer."
Bei so vielen Quellen steigt der Gehalt an Mikroplastikmüll im Meer schnell an. Dank der Idee des Plymouther Meeresbiologe Alistar Hardy lässt sich das sogar beweisen. Er hatte seit den 30er Jahren Handelsschiffe auf den Nordatlantikrouten überredet, Planktonfallen hinter sich her zu schleppen, die wie gigantische Handtuchspender funktionieren: Ein langes Seidentuch wird über die Öffnung gezogen und filtert das Plankton aus dem Wasserstrom heraus. Jede Seidenrolle dokumentiert 500 Seemeilen – und sie sind heute eines der wertvollsten Archive der Ozeanographie überhaupt. Thompson:
"”So konnten wir nachweisen, dass der Anteil des Mikro-Plastikmülls in den vergangenen 40 Jahren stark zugenommen hat.""
Im großen pazifischen Müllwirbel gibt es inzwischen in der obersten Schicht an manchen Stellen sechsmal mehr Mikroplastikmüll als Plankton. Thompson:
"”Wenn Plastik erst einmal puderfein zermahlen ist, ist die Oberfläche der Körnchen insgesamt ungeheuer groß. So groß, dass Meerwasser oder Magensäure die Zusätze wie Flammschutzmittel, Weichmacher oder antimikrobielle Substanzen, die bei der Produktion zugefügt worden sind, freisetzen könnten.""
Außerdem saugt Mikroplastik Chemikalien auf wie ein Schwamm – und Gifte wie DDT, Dioxine und PCB gibt es im Meer reichlich. An den Oberflächen des Plastikmülls liegen ihre Konzentrationen tausendmal höher als im Meerwasser. Kristina Gjerde:
"Weil Mikroplastik so klein ist, werden sie von den Lebewesen wie Muscheln oder Würmern sehr leicht aufgenommen. Die Plastikpartikel verschwinden ja nicht, nur weil sie kleiner werden, sondern sie werden gefressen. Diese Substanzen, mit denen sie aufgeladen sind, sind giftig für die Menschen – und sie sind es wohl auch für Tiere."
Puderfeine Plastikpartikelchen könnten selbst vom Zooplankton verzehrt werden – und dann sind sie wirklich an der Basis der Nahrungskette angekommen. Wenn für einen Sturmvogel ein Plastikfeuerzeug gefährlich wird, ist es der feine Plastiksand für die Muscheln oder Würmer an der Basis der Nahrungskette dann auch? Richard Thompson:
"”Wir haben Aquariumsexperimente mit Entenmuscheln durchgeführt, die Plankton aus dem Wasser filtern, ebenso mit Wattwürmern, die im Schlamm leben und ihre Nahrung von den Sandkörnern schlürfen. Und auch mit Sandflöhen, die organische Strandabfälle verarbeiten. Diese Organismen stehen alle unten in der Nahrungskette und spielen deshalb eine wichtige Rolle – und sie alle stürzten sich regelrecht auf die mundgerechten Plastikhäppchen und fraßen den Mikroplastikmüll.""
Waren die Bissen zu groß, blieben sie im Verdauungstrakt stecken. Waren sie klein genug, passierten sie ihn scheinbar unverändert – aber wohl nur scheinbar. Thompson:
"”Wir haben Mikroplastikmüll, der mit Schadstoffen beladen war, im Laborexperiment den Bedingungen ausgesetzt, die im Verdauungstrakt der Wattwürmer herrschen. Und tatsächlich wurden die Schadstoffe freigesetzt. Schon kleine Mengen an Plastik könnten die Schadstoffbelastung eines Wattwurms erheblich erhöhen.""
In der Nahrungskette reichern sich die Schadstoffe aus dem Plastik von Organismus zu Organismus weiter an, und sie gesellen sich zu den anderen Schadstoffen, die der Mensch freisetzt – aber eines Tages kommt der Müll zurück. Tony Koslow:
"”Zu unserer Überraschung haben wir festgestellt, dass Tiefseefische ebenso hohe Gehalte an DDT, PCB oder auch Quecksilber haben wie Fische, die an der Oberfläche leben – und deshalb gibt es in den USA auch Warnungen an Schwangere, dass sie nicht zu viel Fisch essen sollten. Viele dieser Tiefseefische werden mehr als 100 Jahre alt und sie stehen an der Spitze der Nahrungskette – da, wo die Schadstoffgehalte die höchsten Werte erreichen. Was wir in die Umwelt verklappen, landet also irgendwann auf unserem Abendbrot-Tisch.""
Die regenbogenbunte Plastiktier-Armada war weitergeschwommen. Die Sonne und das Meerwasser bleichten die gelben Entchen und roten Biber, aber die grünen Frösche und blauen Schildkröten leuchteten auch nach Jahren noch wie an jenem Tag, als sie über Bord gegangen waren. Damals hatten ein paar Tausend vor Alaska die Nordroute gewählt: Wie stürmisch die See auch werden mochte, sie schaukelten unbeirrt durch die Beringstrasse, bis sie auf das Eis des Nordpolarmeeres stießen. Das Eis schloss sie ein, nahm sie mit sich fort und schleppte sie nach Grönland. Erst nach Jahren brach es auf und gab sie wieder frei. Zwischen schmelzenden Eisschollen schwammen die Quietschetiere nach Süden, nach Maine und Massachusetts. Vor North Carolina bestiegen ein paar den Golfstrom, nahmen Kurs auf Europa. Im August 2007 landete ein erstes Entchen am Strand von Devon – nach 27.000 Kilometern.
Hinweis: Die Sendung ist der dritte Teil einer dreiteiligen Reihe über die Tiefsee. Die beiden anderen Teile finden Sie hier:
Fernab der Sonne. Bizarre Lebensgemeinschaften in der Tiefsee
El Dorado und die Glücksritter. Bergbau in der Tiefsee
"”Plastik ist ein unglaubliches Material: Es ist leicht, haltbar und billig. Unsere Produktion ist von etwa fünf Millionen Tonnen im Jahr 1950 auf rund 225 Millionen Tonnen im vergangenen Jahr angewachsen.""
Mitten im Nordpazifik, ganz in der Nähe der Datumsgrenze, gingen die Quietschetiere über Bord: Kein Land weit und breit.
"Kunststoffe werden seit den 40er Jahren hergestellt und wir glauben, dass sie im Meer mehr als ein Jahrhundert überstehen, vielleicht auch sehr viel länger. Wir haben überhaupt keine Erfahrung, wie sich Plastik langfristig verhält."
Die Monate vergingen. Im Sommer strandeten die ersten Plastiktiere an einer felsigen Küste bei Sitka/Alaska, nach einer Reise von immerhin 3500 Kilometern. Die anderen schwammen weiter. Sie fädelten sich in die Ringströmung im Pazifik ein. Ein paar stiegen in Hawaii aus, andere an den Stränden Australiens, Indonesiens oder Kolumbiens.
"Das Meer und der Müll
Treibgut in der Tiefsee
Von Dagmar Röhrlich"
"”Plastik im Meer ist ein riesiges Problem, eines, das wir meist nicht im Blick haben. Es geht um gewaltige Mengen, die sowohl von Land kommen, als auch von Schiffen. Der Plastikmüll nimmt nicht nur Tag für Tag zu, vielmehr ist auch alles, was in den vergangenen 50 Jahren in den Ozeanen gelandet ist, immer noch da.""
Staunend verfolgen Ozeanographen und Weltöffentlichkeit die Odyssee der Plantschtier-Armada, die treibt, wohin die Meeresströmungen sie trägt. Sie trotzt nicht nur dem stürmischen Nordpazifik und der Hitze des Äquators, sondern auch der jahrelangen Drift im Eismeer – ebenso wie Milliarden und Abermilliarden anderer Plastikteile. Für Meeresökologen wie Richard Thompson von der Universität von Plymouth sind die Entchen und Frösche deshalb nichts anderes als das friedlich-freundliche Gesicht eines ernsten Themas. Wie ernst, zeigt ein Besuch an einem beliebigen Strand dieser Welt. Gleichgültig wo man ist, der Müll ist schon da. Auch in Plymouth. Wenn Richard Thompson am Strand spazieren geht, braucht er sich nur zu bücken und aufzuheben, was die letzte Flut angeschleppt hat: ein halbes Dutzend Flaschenverschlüsse, eine Zahnbürste, drei Plastikflaschen, ein Feuerzeug, Fetzen von Plastiktüten.
"”Wir haben uns dafür entschieden, 40 Prozent der jährlichen Kunststoff-Produktion zu nehmen, und sie als Verpackungsmaterial zu benutzen, das innerhalb eines Jahres weggeworfen wird. Zusammen mit den Einmalartikeln kommen wir auf etwa 80 Prozent. Wir nehmen also ein Material, das Jahrhunderte oder Jahrtausende übersteht, um Wegwerfartikel daraus zu fertigen, die sich in der Umwelt ansammeln.""
Oft genug enden sie im Meer, wo sie ein langes, zweites Leben beginnen. Nach einer Studie des UN-Umweltprogramms Unep treiben mittlerweile auf jedem Quadratkilometer Meeresoberfläche 18.000 Plastikteile: Vom Äquator bis zu den Polen – überall dümpelt Plastik.
"”Bridge?”
"Yes”
"Are you moving now?”
"Yes, a little bit, I turn a little bit.”
"Can you keep the position please”
"Yes, we keep the position and we will turn the ship to 180 degrees, so that we have the current from the propeller not directly into the direction of Victor”
"Okay, thank you.”
"You are welcome.”"
Die "Polarstern" – das Flaggschiff des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung – hat in der Framstraße Position bezogen, irgendwo zwischen Spitzbergen und Grönland. Bis zum Nordpol sind es von hier aus noch 1000 Kilometer, und das Packeis glänzt in der Mitternachtssonne am Horizont. 2500 Meter unter der Polarstern arbeitet ein französisches Forschungs-U-Boot. Victor 6000 schwebt über den Meeresboden und filmt ihn systematisch ab.
Im Victor-Kontrollcontainer an Bord der Polarstern ist es dunkel. Nur die Bildschirme liefern ein wenig schummriges Licht. Sie zeigen den Status des U-Boots an und was die Kameras am Meeresgrund einfangen. Fragile Tiefseeschwämme tauchen im Scheinwerferlicht auf, dann Crinoiden – und: eine Chipstüte mit chinesischen Schriftzeichen.
An Bord stellt sich heraus, dass diese Plastiktüte "Made in Hongkong" ist und dass in ihr sogar noch ein paar gesalzene Kartoffelchips stecken. Was für ein Souvenir für die Sammlung von Francois Galgani. Der Meeresbiologe forscht am Ifremer in Issy-les-Moulineaux, und die Müllfracht der Meere beschäftigt ihn nun schon seit Jahren. Es geht um gigantische Mengen, erzählt er. Jahr für Jahr werfen Schiffsbesatzungen allein fünf Millionen Tonnen Plastikmüll über Bord, trotz eines internationalen Verbots. Dazu kommt, was die Flüsse mit sich schleppen und was Wind und Wellen von den Stränden und offenen Mülldeponien aufraffen. Galgani:
"Wir haben 1992 mit einem Experiment zur Erfassung des Mülls am Meeresboden begonnen und seitdem Dutzende von Forschungsfahrten entlang der Küsten Europas unternommen. Es ist beeindruckend, wie es in einigen Gebieten aussieht, etwa im Nordwesten des Mittelmeers oder in der Nordsee, 200 Kilometer von der dänischen Küste entfernt."
Im nordwestlichen Mittelmeer liegen vielleicht 300 Millionen Stück Müll am Tiefseeboden, am Boden der Nordsee vor Dänemark 150 Millionen. Hier ist der Traum vom vereinten Europa wahr geworden, scherzt Francois Galgani – Im Meer gehört der Müll allen:
"”Inzwischen haben wir einige Erfahrung damit, wie die Strömungen und die Geomorphologie die Verteilung des Mülls auf dem Meeresboden beeinflussen. Während die Strömungen ihn an einer Stelle zusammenfegen, liegt anderswo kaum etwas. Die Frage ist, wo der Müll endet. Unseren bisherigen Untersuchungen zufolge reichert er sich in der Tiefsee vor der europäischen Küste an, aber weil wir aufgrund der Meeresströmungen auch erwarten, dass ein Teil in Richtung Norden transportiert wird, sind wir hier in der Framstraße.""
Plastik ist leicht und schwimmt. Mit der Zeit siedeln sich Mikro-Organismen darauf an, auch Algen oder kleine Schalentiere. So wird der Kunststoff irgendwann zu schwer und sinkt. Die Unep schätzt, dass sich der weitaus meiste Abfall, der im Meer landet, eines Tages auf dem Meeresboden wiederfindet – vor der Küste ebenso wie in den entlegensten Ecken der Tiefsee. Francois Galgani:
"”Dank Victors Filmaufnahmen vom Meeresboden können wir hier in der Arktis den Müll zählen, in Karten eintragen und seine Dichte berechnen. Ich bin erschrocken, dass es hier so viel Müll gibt, auch wenn seine Dichte – fernab von Schifffahrtsstraßen und großen Städte – natürlich nicht so hoch ist wie in den müllreichen Gebieten Europas.""
Rund 15 Millionen Stück Müll dürften dort unten liegen, schätzt er – und wie überall auf der Welt, besteht er zu einem großen Teil aus Plastik. Galgani:
"”Der Anteil von Plastik liegt bei etwa 80 Prozent. Wir fanden Plastiktüten und -dosen, aber auch ein großes Fischernetz und ein Stück Metall, von dem wir nicht wissen, was es ist. Im Grunde ist die Zusammensetzung des Abfalls die gleiche wie weiter südlich.""
Dabei könnte Plastik in der Tiefsee für die Ewigkeit gemacht sein. Dort unten ist es kalt, es gibt kein Licht, wenig Sauerstoff und die Zersetzungsprozesse laufen anders ab als an Land. Sogenannter "biologisch abbaubarer Kunststoff" zersetzt sich in den Ebenen des Abyssals nicht: Schon an Land brauchen viele Sorten dazu Temperaturen um 40 Grad Celsius.
An der Scripps Institution of Oceanography im kalifornischen La Jolla ahnt man unter dem Rauschen der Klimaanlage die Brandung des nahen Pazifiks. Auf dem Fensterbrett versammeln sich filigrane Tiefseeschwämme neben ausdrucksvoll gewundenen Hirnkorallen. Es sind Souvenirs, die Tony Koslow im Laufe der Jahre zusammengetragen hat. Tony Koslow ist Meeresbiologe, Spezialist für die Tiefsee. Das Problem Müll im Meer kennt er seit langem: 1973 führte ihn sein erster Job nach Kodiak, jenseits von Alaska, und mit den Forschungstrawls landeten nicht nur Tonnen von Fisch an Deck, sondern auch Stiefel, Plastikflaschen, Konservendosen, zerrissene Fischernetze und eine schwarze Sake-Flasche, die geheimnisvoll glänzte und ihm deshalb heute noch als Lampenfuß dient. Obwohl die Kodiak-Inseln am Ende der Welt zu sein scheinen, liegen sie doch mitten im Müllstrom. Koslow:
"Wenn man etwas loswerden wollte, hat man es schon immer einfach über Bord ins tiefes Wasser geworfen. Dann war es fort, und man hatte den Eindruck, dass man sich nicht länger darum kümmern müsse."
Aus den Augen, aus dem Sinn gibt es aber nicht.
"Im Meer gibt es viele Migrationen. Myriaden von Organismen wandern nachts an die Oberfläche, um zu fressen, und verschwinden tagsüber wieder in die Tiefe.
Sprecher: Und weil sie auch Müll fressen, werden sie zum Aufzug für den Plastikmüll und seine Schadstoffe. Er ist überall."
Mitten im Zentralpazifik erstreckt sich eine Wüste – fast so groß wie Afrika. Die Fischer meiden sie, weil es für sie nichts zu holen gibt, wo kein Plankton wächst. Auch die Segler halten sich fern, denn hier schläft selbst der Wind. Wenn früher Tier-Transportsegler über Wochen in den Ross-Breiten in der Flaute steckten und Wasser und Futter knapp wurden, warf man die Pferde, Schafe und Schweine einfach über Bord. In dieser trostlosen Gegend formen die Meeresströmungen den Großen Nordpazifischen Wirbel, den größten Mahlstrom dieser Erde. In ihm sammelt sich der schwimmende Müll, ob er nun irgendwo von einer offenen Müllkippe ins Meer geweht wurde oder von einem Frachter verloren ging. Nach ein paar Jahren tanzt alles im großen Wirbel mit. So treibt zwischen Nordamerika und Asien die größte Mülldeponie der Welt – so groß wie Zentraleuropa. Alle zwei bis drei Jahre hat es das Treibgut geschafft: Dann ist es nach 13.000 Kilometern wieder an seinem Ausgangspunkt angekommen.
In dem großen Müllwirbel schwimmen pro Quadratkilometer 3.340.000 Stücke Plastikmüll – und dabei ist die Fraktion, die kleiner ist als ein Din-A-5-Blatt noch nicht mitgezählt. In diesem Müllstrom liegen auch die Midway-Islands, irgendwo im Nirgendwo zwischen Honolulu und Tokyo. Berühmt wurden die kleinen Vulkaninseln zum einen als US-Miltärbasis im Korea- und im Vietnam-Krieg, zum anderen, weil auf ihnen fast zwei Millionen Vögel leben, darunter eine große Albatross-Population, die den Flugplatz gerne für die eigenen Starts und Landungen nutzt, erzählt Kristina Gjerde. Sie ist Referentin für Hochseefragen bei der internationalen Naturschutzorganisation IUCN:
"”Dort kommen jährlich etwa eine halbe Million Albatross-Küken zur Welt, von denen 200.000 verenden. Als Biologen das näher untersuchten, fanden sie in vielen Kadavern alle möglichen Plastikstücke von Dübeln bis hin zu Fischködern.""
Albatrosse fressen vor allem in der Nacht, wenn die Tintenfische an die Meeresoberfläche steigen, aber sie verschmähen auch Fisch, Fischeier oder Aas keineswegs, ganz nach dem Motto: Besser den Schnabel voll, als wählerisch herumpicken. Manchmal ist das eine gefährliche Strategie.
"”Einige Albatrosse haben Gegenstände verschluckt, die so groß sind wie Feuerzeuge und die sie natürlich nicht verdauen konnten. Sie blieben in ihren Eingeweiden stecken. Die Vögel konnten deshalb nicht mehr richtig fressen – und starben irgendwann.""
Wenn man so will, verhungerten sie bei vollem Magen, erklärt Richard Thompson. Nicht nur Albatrossen ergeht es so. Auch Bilder von Schildkröten, die Plastiktüten für Quallen - ihre Leibspeise – hielten und qualvoll verendeten, gingen um die Welt. Thompson:
"”Vor allem die Tierarten, die sich ihre Nahrung an der Meeresoberfläche suchen, verwechseln die treibenden Plastikstücke mit dem, was sie normalerweise fressen. Mehr als 95 Prozent der an der Nordsee tot an den Strand gespülten Sturmvögel hatten Plastikteile in ihren Mägen. Durchschnittlich 44 Stück. Wir haben die Relationen berechnet. Bei einem Menschen entspräche die Plastikmenge, die wir in einigen Seevögeln gefunden haben, einem Ball von mehr als zwei Kilogramm Gewicht und einem Durchmesser von 15 bis 20 Zentimetern.""
80 Prozent des Plastikmülls, der an niederländischen Küsten landet, trägt Schnabelspuren: Die Meeresvögel haben versucht, es zu fressen. Die Spur des Kunststoffs zieht sich durch alle Weltmeere. Kristina Gjerde:
"Auf den nordwestlichen Inseln von Hawaii hat man die seltenen Hawaiianischen Mönchsrobben tot in verlorenen Fischernetzen gefunden, in denen sie sich verheddert hatten oder erstickt im Polyethylenring eines Sixpacks. Selbst Buckelwale haben sich in herrenlosen Fischernetzen verfangen und sind darin erstickt."
Verlorene Fischernetze sind ein gewaltiges Problem. Früher, als die Netze noch aus Hanf oder Baumwolle gefertigt waren, verrotteten sie im Wasser, wenn sie verloren gingen oder im Sturm gekappt werden mussten. Seitdem Plastik in der Fischerei Einzug gehalten hat, schweben zahllose Geisternetze im Meer. Allein in einem Seegebiet vor Schottland werden Tausende vermutet. Thompson:
"Diese Netze bestehen aus Plastik und bleiben Hunderte von Jahren im Meer intakt. Sie sind auf Langlebigkeit ausgelegt und dafür da, Fisch zu fangen. Wo sie herrenlos durchs Wasser ziehen, fangen sie alles, was in ihre Nähe kommt: Fische, Meeressäuger und Seevögel."
Sie fischen einfach immer weiter - jahre- und jahrzehntelang. Vor allem in der Tiefsee lassen sie sich nicht stoppen. Die verrottenden Kadaver locken noch mehr Fische an – und so werden die Geisternetze niemals leer. Irische und britische Fischereibehörden ließen 2006 in drei Fischfanggebieten vor Schottland nach Geisternetzen suchen: Innerhalb eines Monats wurden 236 Netze eingesammelt. Aber weltweit kommen täglich Hunderte dazu. Die Experten haben noch nicht einmal eine Ahnung, wie viele Tonnen Fisch sie vernichten. Doch die Lebewesen im Meer kämpfen nicht nur mit den großen Kunststoffteilen.
Die Brandung schlägt gegen die Felsen, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Im Lauf der Zeit nagt sie selbst die größten Steine zu feinstem Sand – ebenso wie die Drehverschlüsse, Plastikhelme, CD-Hüllen, Wattestäbchen, Einkaufstüten und was sonst noch alles an Plastikmüll im Meer landet. Er wird zerrieben, bis nicht mehr übrig ist als die "Tränen der Meerjungfrau", wie sie genannt werden: winzige Kunststoffkörnchen, die massenweise in jeder Handvoll Sand stecken. Thompson:
"Wir haben direkt in den ersten Sand- und Wasserproben, die wir genommen haben, Plastikpartikel gefunden, von denen die kleinsten winziger waren als der Durchmesser eines menschlichen Haares. Überall auf der Welt ist das gleich, gleichgültig, ob unsere Proben aus Europa kommen, aus Nord- oder Südamerika oder aus Australien und Afrika. Forscher aus Indien und Indonesien kommen zu denselben Ergebnissen wie wir: Sowohl der Strand, als auch das Meer sind voller winziger Plastikfragmente, die das Wasser ‚verseuchen’."
Es ist nicht nur der Zahn der Zeit, der zur Vermehrung des Mikroplastiks beiträgt. Inzwischen stecken in vielen Haushaltsreinigern oder in Peelingcremes für Gesicht und Körper statt pulverisierter Kerne oder Meersalz – Plastikkügelchen. Die sind oft so winzig, dass sie durch die Kläranlagen "rutschen". Es gibt keine Filter, die so feine Stoffe zurückhalten. Thompson:
"Plastikkügelchen werden auch eingesetzt, um alte Farbe oder Überzüge von Flugzeugen oder Schiffen zu entfernen. Früher nahm man dafür Sand, aber Plastik reinigt sanfter, weshalb man es besonders zur Reinigung empfindlicher Flächen einsetzt. Prinzipiell ist auch nichts falsch daran, aber – man fragt sich, wie die mit Farbstoffen beladenen Kügelchen entsorgt werden. Solange das korrekt passiert, ist alles okay. Aber wenn diese sehr, sehr kleinen Plastikteilchen im Abwasser enden, landen sie letztendlich im Meer."
Bei so vielen Quellen steigt der Gehalt an Mikroplastikmüll im Meer schnell an. Dank der Idee des Plymouther Meeresbiologe Alistar Hardy lässt sich das sogar beweisen. Er hatte seit den 30er Jahren Handelsschiffe auf den Nordatlantikrouten überredet, Planktonfallen hinter sich her zu schleppen, die wie gigantische Handtuchspender funktionieren: Ein langes Seidentuch wird über die Öffnung gezogen und filtert das Plankton aus dem Wasserstrom heraus. Jede Seidenrolle dokumentiert 500 Seemeilen – und sie sind heute eines der wertvollsten Archive der Ozeanographie überhaupt. Thompson:
"”So konnten wir nachweisen, dass der Anteil des Mikro-Plastikmülls in den vergangenen 40 Jahren stark zugenommen hat.""
Im großen pazifischen Müllwirbel gibt es inzwischen in der obersten Schicht an manchen Stellen sechsmal mehr Mikroplastikmüll als Plankton. Thompson:
"”Wenn Plastik erst einmal puderfein zermahlen ist, ist die Oberfläche der Körnchen insgesamt ungeheuer groß. So groß, dass Meerwasser oder Magensäure die Zusätze wie Flammschutzmittel, Weichmacher oder antimikrobielle Substanzen, die bei der Produktion zugefügt worden sind, freisetzen könnten.""
Außerdem saugt Mikroplastik Chemikalien auf wie ein Schwamm – und Gifte wie DDT, Dioxine und PCB gibt es im Meer reichlich. An den Oberflächen des Plastikmülls liegen ihre Konzentrationen tausendmal höher als im Meerwasser. Kristina Gjerde:
"Weil Mikroplastik so klein ist, werden sie von den Lebewesen wie Muscheln oder Würmern sehr leicht aufgenommen. Die Plastikpartikel verschwinden ja nicht, nur weil sie kleiner werden, sondern sie werden gefressen. Diese Substanzen, mit denen sie aufgeladen sind, sind giftig für die Menschen – und sie sind es wohl auch für Tiere."
Puderfeine Plastikpartikelchen könnten selbst vom Zooplankton verzehrt werden – und dann sind sie wirklich an der Basis der Nahrungskette angekommen. Wenn für einen Sturmvogel ein Plastikfeuerzeug gefährlich wird, ist es der feine Plastiksand für die Muscheln oder Würmer an der Basis der Nahrungskette dann auch? Richard Thompson:
"”Wir haben Aquariumsexperimente mit Entenmuscheln durchgeführt, die Plankton aus dem Wasser filtern, ebenso mit Wattwürmern, die im Schlamm leben und ihre Nahrung von den Sandkörnern schlürfen. Und auch mit Sandflöhen, die organische Strandabfälle verarbeiten. Diese Organismen stehen alle unten in der Nahrungskette und spielen deshalb eine wichtige Rolle – und sie alle stürzten sich regelrecht auf die mundgerechten Plastikhäppchen und fraßen den Mikroplastikmüll.""
Waren die Bissen zu groß, blieben sie im Verdauungstrakt stecken. Waren sie klein genug, passierten sie ihn scheinbar unverändert – aber wohl nur scheinbar. Thompson:
"”Wir haben Mikroplastikmüll, der mit Schadstoffen beladen war, im Laborexperiment den Bedingungen ausgesetzt, die im Verdauungstrakt der Wattwürmer herrschen. Und tatsächlich wurden die Schadstoffe freigesetzt. Schon kleine Mengen an Plastik könnten die Schadstoffbelastung eines Wattwurms erheblich erhöhen.""
In der Nahrungskette reichern sich die Schadstoffe aus dem Plastik von Organismus zu Organismus weiter an, und sie gesellen sich zu den anderen Schadstoffen, die der Mensch freisetzt – aber eines Tages kommt der Müll zurück. Tony Koslow:
"”Zu unserer Überraschung haben wir festgestellt, dass Tiefseefische ebenso hohe Gehalte an DDT, PCB oder auch Quecksilber haben wie Fische, die an der Oberfläche leben – und deshalb gibt es in den USA auch Warnungen an Schwangere, dass sie nicht zu viel Fisch essen sollten. Viele dieser Tiefseefische werden mehr als 100 Jahre alt und sie stehen an der Spitze der Nahrungskette – da, wo die Schadstoffgehalte die höchsten Werte erreichen. Was wir in die Umwelt verklappen, landet also irgendwann auf unserem Abendbrot-Tisch.""
Die regenbogenbunte Plastiktier-Armada war weitergeschwommen. Die Sonne und das Meerwasser bleichten die gelben Entchen und roten Biber, aber die grünen Frösche und blauen Schildkröten leuchteten auch nach Jahren noch wie an jenem Tag, als sie über Bord gegangen waren. Damals hatten ein paar Tausend vor Alaska die Nordroute gewählt: Wie stürmisch die See auch werden mochte, sie schaukelten unbeirrt durch die Beringstrasse, bis sie auf das Eis des Nordpolarmeeres stießen. Das Eis schloss sie ein, nahm sie mit sich fort und schleppte sie nach Grönland. Erst nach Jahren brach es auf und gab sie wieder frei. Zwischen schmelzenden Eisschollen schwammen die Quietschetiere nach Süden, nach Maine und Massachusetts. Vor North Carolina bestiegen ein paar den Golfstrom, nahmen Kurs auf Europa. Im August 2007 landete ein erstes Entchen am Strand von Devon – nach 27.000 Kilometern.
Hinweis: Die Sendung ist der dritte Teil einer dreiteiligen Reihe über die Tiefsee. Die beiden anderen Teile finden Sie hier:
Fernab der Sonne. Bizarre Lebensgemeinschaften in der Tiefsee
El Dorado und die Glücksritter. Bergbau in der Tiefsee