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Das Moor ist Dions Rettung

Der Protagonist dieses Romans heißt Dion, ein 13-Jähriger, der ohne Vater aufwächst, stottert und von der Liebe seiner Künstler-Mutter inzestuös umklammert wird. Über seine Ängste, Probleme und Wünsche spricht er nicht selbst. Diesen Part übernimmt im Buch das Moor .

Von Sabine Peters |
    Landschaften aller Art sind nie nur "sie selbst", in Kunst und Literatur stehen sie oft auch als Metaphern. Ganz besonders von Moorlandschaften geht etwas Geheimnisvolles, Un-heimliches aus. Sie wirken mehrdeutig, denn schließlich sind sie Wasser und Land, verödet und doch im Wandel. Moorlandschaften sind gefräßige, menschenfressende Monster, aber sie archivieren auch, sind eine Art von Museum. Im umfangreichen zweiten Roman des 1974 geborenen Gunther Geltinger bekommt das Moor die Rolle eines sprechenden Subjekts. Denn der dreizehnjährige Held seines Buchs - er heißt Dion - ist durch sein Stottern von klein auf an gehandicapt, und so spricht das Moor an seiner Stelle, in seinem Namen – und es spricht auch in eigener Sache, als mächtige, gewaltige Natur.

    Dion ist ein Außenseiter. Einer, der von den anderen Kindern gehänselt wird, ein vaterloses Kind noch obendrein. Über die Mutter, eine erfolglose Malerin, gibt es böse Gerüchte im Dorf; sie sei eine Hure, sie habe möglicherweise Dions Vater im Moor umgebracht. Dort beobachtet der Junge Libellen, dorthin flüchtet er mit seinen Ängsten und Sehnsüchten. Er flüchtet dorthin mit Rätseln, die er nicht versteht, geschweige denn lösen kann – er ist kaum in der Lage, sie überhaupt nachzubuchstabieren. Das Moor ist seine Rettung.

    Franz Kafka schrieb einmal in einem Brief, es sei die Aufgabe aller Kinder, ihre Eltern buchstäblich zu "retten", ihrem Leben einen Sinn zu geben. Was Mutter Marga von Dion verlangt, geht über das Gewöhnliche weit hinaus. Gunther Geltinger bewegt sich in seinem neuen Roman auf einem von Tabus umstellten Gebiet: Denn hier geht es zwar auch um das Ende einer Kindheit, um Dions Verliebtheit in ein Mädchen und in einen älteren Jungen – doch vor allem geht es um die inzestuöse Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Als reiche es nicht, dass die Mutter alkohol- und tablettensüchtig ist, dass sie regelmäßig in einem Bordell arbeitet und einmal wegen eines Suizidversuchs in die Psychiatrie kommt – sie treibt auch Kindesmissbrauch, in psychischer und physischer Hinsicht. Ihr Sohn ist schuld daran, dass sie leben muss. Benommen torkelt sie zu ihm ins Bett. Das Moor erzählt Dion, was dort stattfindet: "ihre Hand auf deinem Po… als impfte sie dich mit einem betäubenden Gift… Sie hat dir nicht nur ständig und überall den Kuss, auch jeden Pickel aufdrücken dürfen….Sie schloss dich noch fester in ihre Handhöhle… So nah, wie sie jetzt war, so grob und gierig, fandest du sie abstoßend." Geltinger schildert Missachtung und Missbrauch in einer teils diskreten, teils unverblümt drastischen Sprache. So ist von Mutters "Kussmaul" die Rede oder von einer "tollwütigen, heißgelaufenen, walzenden, stanzenden Muttermaschine".

    In diesem Roman übernimmt aber nicht nur das Moor, also "die Natur" die Funktion, Dinge auszusprechen und zu bezeugen. Wittgensteins Satz, "wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen" ist häufig variiert worden. Eine Variante heißt: Wer nicht sprechen kann, muss schreiben. Schon als Halbwüchsiger schreibt der stotternde Dion ein Tagebuch, und mehrfach wird erwähnt, dass der Sohn als erwachsener Mann ein Buch geschrieben haben wird: Eine in den Augen seiner Mutter brutale, verlogene, denunziative Abrechnung mit all dem, was sie ihm angetan hat, was sie bereut, was sie überhaupt niemals getan hat – sie würde ihn zu gerne widerlegen und ein versöhnliches Wiedersehen mit ihm erleben.

    Aber Versöhnung ist in einem Roman wie diesem im Grunde undenkbar, folgerichtig wäre allenfalls ein radikaler Bruch zwischen Mutter und Sohn. Was dann im surrealistisch wirkenden, furiosen Ende stattfindet, ist die reine Zerstörung: Dion geht weg vom Moor zum Meer, das letzte Wort hat die Natur, und sie erzählt ihm, wie es mit ihm zu Ende geht: Sie spielt mit ihm, wirft ihn durch hohe Wellen, klatscht ihn gegen einen Felsen, bringt ihn um und überlässt seinen Körper den Krebsen und Möwen. Sie sagt zu ihm, "du bist jetzt einer von mir".

    Ein waghalsiges, radikales Buch. Nicht nur das Thema Inzest verstört; auch der Aufbau und die Schreibweise des Buchs legen es vorsätzlich aufs Befremden an. Da ist das selt-sam wissende, sprechende Moor. Und es gibt zwar Hinweise auf konkrete Orte und Zeiten, aber die Atmosphäre des Romans ist im Grunde ort- und zeitlos. Rückblenden und Hinweise auf Zukünftiges, Fantasien und Erinnerungen schweben durcheinander: Alles wirkt, als sei es immer schon geschehen und stehe gleichzeitig noch bevor. Schönheit und Schrecken, Zärtlichkeit und Gewalt, auch Realität und Rausch beziehungsweise Fantasie gehen ineinander über. Daher ist die Kategorie "Wirklichkeit" wenig tauglich, um diesem Roman näherzukommen. Gunther Geltinger arbeitet vielmehr daran, Wirklichkeit zu verwandeln und ihr Möglichkeiten abzuringen.

    Man kann sich mitunter fragen, ob es nicht auch mal eine Nummer kleiner ginge, ob in diesem Textmassiv auch noch sadomasochistische Experimente oder Fantasien, eine Abtreibung und ein Feuerausbruch eine Rolle spielen müssen. Aber dieses Ausufern, diese Maßlosigkeit ist programmatisch für das Buch. Bei aller Gewalt, von der hier die Rede ist, erscheint sie einem während der Lektüre nicht als total. Denn der Roman "Moor" ist auch ein Lied zum Lob der Natur, zum Lob des Körpers. In den sensiblen, poetisch inspirierten Schilderungen von Libellen und Eulen, von Wetter und Licht, von den Geheimnissen des sich verwandelnden Körpers liegt eine fragile Schönheit.

    Gunther Geltinger:';X!
    Moor, Roman, Suhrkamp Verlag, 440 Seiten, 22,95 Euro