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"Das Ökonomie-Studium heute gleicht einer Gehirnwäsche"

Es ist eine Generalabrechnung: Über Jahrzehnte haben sich die Wirtschaftswissenschaften in ihrer Disziplin eingekapselt und so die Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse vorangetrieben, glaubt der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann. Ökonomen aller Lager hätten das Kapital stets hofiert – stattdessen gehöre es gebändigt.

Ulrich Thielemann im Gespräch mit Gerd Breker |
    Gerd Breker: Unter anderem die Finanzkrise und die Krise des Euro zeigen das Versagen der traditionellen Wirtschaftswissenschaften. Deshalb fordern eine Gruppe von Professoren per Memorandum eine Erneuerung der Wirtschaftswissenschaften. Einer der Initiatoren dieser Initiative ist der Wirtschaftsethiker Ulrich Thielemann, Direktor des MeM – die Abkürzung steht für "Menschliche Marktwirtschaft" -, eine Denkfabrik für Wirtschaftsethik. Ihn begrüße ich nun am Telefon. Guten Tag, Herr Thielemann!

    Ulrich Thielemann: Guten Tag, Herr Breker!

    Breker: Heißt das, dass die real existierende Marktwirtschaft bislang unmenschlich ist?

    Thielemann: Gute Frage, würde ich sagen, aber ich würde die nicht mit Ja beantworten. Ich würde aber sagen, es ist immer wieder eine Herausforderung, die Marktwirtschaft menschlich zu halten. Und die Marktwirtschaft, die von den Ökonomen, die ja doch sehr mit einer Stimme sprechen, ich würde sagen, die dort vertreten wird, das wäre eine unmenschliche Marktwirtschaft, und davon finden wir natürlich schon etwas auch in der Praxis, denn mit den Theorien im Kopf laufen ja die Wirtschaftsstudenten später in die Praxis als Manager, Unternehmer, Berater der Wirtschaftspolitik.

    Breker: Das heißt, die traditionelle Wirtschaftswissenschaft, da sehen Sie jede Menge Mängel? Welche konkret, welche stören Sie am meisten?

    Thielemann: Also dieser Aufruf ist eigentlich ein sehr sparsamer und er zielt auf die mangelnde Wissenschaftlichkeit der ökonomischen Disziplin, und wir sagen, eine Disziplin, eine Wissenschaft ist eben unwissenschaftlich, wenn sie sich paradigmatisch verkapselt hat, wenn sie nur noch eine Meinung zulässt und Gegenmeinungen gar nicht mehr beachtet.
    Im Besonderen, würde ich aber sagen, würde ich zwei Dinge hervorheben. Die Ökonomen sehen sich ja selber zu guten Teilen als die konsequentesten Befürworter des Marktes, der Marktlogik, und das ist eben ethisch hoch fragwürdig. Ich sage mal zwei Stichworte, nämlich das Stichwort der Rationalität und der Effizienz. Da ist etwas ganz Spezifisches mit gemeint, und das ist ethisch, das ist normativ, was da verbreitet wird, aber eben ethisch hoch fragwürdig. Rationalität heißt bei den Ökonomen das eigene Interessestreben. Das ist rational, dafür steht der Name Homo oeconomicus und das wird eben als rational klassiert und wer seine Eigeninteressen nicht konsequent verfolgt, der gilt eben dann als irrational, und das ist die falsche Botschaft. Manche sagen ja, das Ökonomie-Studium heute gleicht einer Gehirnwäsche.

    Breker: Die Wirtschaftswissenschaft und die Sozialwissenschaft, die wollen Sie verbunden sehen. Aber geht das denn überhaupt? Ist das nicht irgendwo auch Feuer und Wasser zu vermischen?

    Thielemann: Ja, das kann man im Moment so sehen. Zunächst mal muss man ja sagen, die ökonomischen Wissenschaften sind natürlich eine Sozialwissenschaft – was denn bitte sonst? -, und die Herausforderungen sind immens, weil ich glaube und die Mitunterzeichner auch, dass sich da über viele, viele Jahre eine Fehlentwicklung eingeschlichen hat, und so gilt jede Kritik an dieser auch überbordenden Ökonomisierung der Lebensverhältnisse und vor allen Dingen an der Ökonomisierung des Denkens. Jede Kritik daran wird ja gar nicht erst ignoriert, so könnte man sagen, wird gar nicht wahrgenommen und hat überhaupt keine Chance. Wenn man so denkt und das für falsch hält und möchte in einem anerkannten Journal publizieren, hat man da überhaupt keinen Hauch einer Chance. Und so hat sich die Disziplin verkapselt, und das ist ein unhaltbarer Zustand.

    Breker: Aber liefert nicht gerade die Finanzkrise, Herr Thielemann, ein Beispiel dafür? Wir erleben, dass die Politik den Märkten hinterherläuft, das heißt diese Ökonomisierung der Politik, unseres Zusammenlebens, die wird doch sichtbar an jeder Ecke.

    Thielemann: Ja natürlich wird die sichtbar an jeder Ecke, aber die Frage ist doch, was davon zu halten ist. Und die Ökonomen, pauschal gesprochen – und sie sind eben sehr einheitlich -, reden ja dieser Ökonomisierung der Lebensverhältnisse einschließlich der Politik das Wort. Nun ist es aber bei der Finanzkrise nicht so ganz klar. Das ist eingeschlagen in die ökonomischen Wissenschaften, und zwar aus verschiedenen Gründen, weil die Ökonomen jetzt diesbezüglich auch nicht mehr so sehr mit einer Stimme sprechen, weil es da den Konflikt gibt zwischen denjenigen, die sagen, wir dürfen das Kapital nicht abbauen, und denjenigen, die sagen, ja wer im Markt verliert, das Kapital hat verloren, dann dürfen wir das jetzt nicht absichern. Das ist ein gewisser Streit, der jetzt da stattfindet. Aber an und für sich haben Ökonomen – und zwar aller Lager, und ich beziehe die Keynesianer dabei ausdrücklich mit ein – das Kapital hofiert und das hat letztlich, diese Hoffierung des Kapitals hat dazu geführt, dass gigantische Vermögensbestände aufgebaut wurden, die nun sich als illusionär erwiesen haben. Aber die Politik arbeitet jetzt darauf hin, weil sie die Zusammenhänge nicht wirklich durchschaut, dass wir, die Leute, die ja normalerweise jetzt keine Rentiers, keine Kapitaleinkommensbezieher in der Hauptsache sind, wir sind dazu aufgefordert, diese Renditen zu erwirtschaften. Das sind die Austeritätsprogramme, Sie haben gerade im vorangegangenen Beitrag ein Signal dieser Entwicklung gezeichnet, das ist, glaube ich, die falsche Politik, deutlich die falsche Politik dabei. Man muss das Kapital nicht weiter hofieren, sondern bändigen; Das ist eine schwierige Frage, wie das geht.

    Breker: Ja, das Kapital bändigen. – Seit Ausbruch der Krise ist eigentlich die Rede davon, dass man die Finanzmärkte regulieren will, doch schaut man darauf, was geschehen ist, dann muss man feststellen: schlicht nichts.

    Thielemann: Ja, genau. Das Gegenteil ist eigentlich passiert: es wird weiter in anderer Form hofiert. Es wird einerseits hofiert durch die Bürgschaften, die wir ja geben mussten. Ich meine, Steinbrück hat ja in den Abgrund geschaut. Das heißt, es wäre sonst zu einer neuen Weltwirtschaftskrise gekommen, man war an die frühen 30er-, Ende 20er-Jahre erinnert. Und das Kapital wird heute hofiert durch die Politik der EZB, die den Banken sozusagen Milliardensummen schenkt. Was daraus folgt, ist ganz unklar. Man versteht aber nicht und man ist nicht bereit, so tief zu fragen, wie das Kapital tatsächlich wirkt. Das Kapital, so behaupte ich, wirkt nämlich wie eine Peitsche für die Realwirtschaft. Es dient nicht der Realwirtschaft, sondern es übt Druck aus auf die Realwirtschaft, auf uns Wirtschaftende – sei es als Beschäftigte oder auch als Unternehmer übrigens -, und wir müssten uns eigentlich in Freiheit fragen, wollen wir noch mehr von diesem Druck.

    Breker: Was, Herr Thielemann, wäre denn anders, wenn Ihre Art Wirtschaftswissenschaft schon angewandt würde?

    Thielemann: Es wäre eine Revolution der Denkungsart hin zu einer ethisch reflektierten Ökonomie, und da beziehe ich jetzt die Wissenschaft, die Theorie, den Blick, den wir auf das Wirtschaften werfen, mit ein und die reale Wirtschaft. Es wäre eine gemäßigte und eben eingebettete Marktwirtschaft, es würde nicht das Prinzip Markt herrschen, sondern wir hätten ein distanziertes und nüchternes Verhältnis auf diese eigenartig und so schwer zu durchschauende Logik von Markt und Wettbewerb und diese Logik würde nicht das gesamte Leben bestimmen, sondern wir würden bestimmen, inwieweit wollen wir denn diese Marktlogik zur Geltung bringen und wie weit wollen wir sie begrenzen.

    Breker: Im Deutschlandfunk war das die Position des Direktors des MeM – das steht für "Menschliche Marktwirtschaft" -, eine Denkfabrik für Wirtschaftsethik in Berlin, Ulrich Thielemann. Herr Thielemann, ich danke Ihnen sehr für dieses Gespräch.

    Thielemann: Vielen Dank auch, Herr Breker.


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