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Das Paradies ist anderswo

"Die andere Heimat" ist ein weiteres Werk aus dem Schabbach-Kosmos von dem Regisseur Edgar Reitz. Der Film ist jedoch keine Fortsetzungsgeschichte, wie die Heimat-Trilogie eine war. Er nimmt nur ein paar wenige Jahre um 1840 im Leben, Leiden und Lieben der Dorfbewohner unter die Lupe.

Von Christoph Schmitz |
    Edgar Reitz hat sich noch einmal weit zurücktreiben lassen, tief in die Vergangenheit seines Schabbach-Kosmos. Und auch die nun entstandene Frühgeschichte zu seinem 30-teiligen Hunsrück-Epos ist von epischer Größe. "Die andere Heimat" ist allerdings keine Fortsetzungsgeschichte, keine Fernsehserie, wie die Heimat-Trilogie eine war. "Die andere Heimat" erzählt auch kein Jahrhundert, so wie die Trilogie deutsche Gesellschaftsgeschichte vom Ende des Ersten Weltkriegs bis ins Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung erzählt hatte.

    Der neue Film nimmt nur ein paar wenige Jahre um 1840 im Leben, Leiden und Lieben der Einwohner des Kuhdorfs Schabbach unter die Lupe und lässt sich dafür viel Zeit, fast vier Stunden, ohne Pause. Aber nicht nur in die Vergangenheit seines Lebensprojektes ist der 80-jährige Edgar Reitz zurückgekehrt, sondern auch an den Ort seiner größten Erfolge, an den Lido. Seit den 60er-Jahren wird Reitz hier gefeiert. Die Italiener haben ihn immer geliebt, auch die internationale Kritik. Die größten Preise hat er in Venedig bekommen. Doch diesmal läuft sein Film außer Konkurrenz, gleich zu Beginn. Das Werk macht es seinen Zuschauern aber nicht leicht. Denn anders als die Heimat-Trilogie, deren Teile untertitelt sind mit "Eine deutsche Chronik", "Chronik einer Jugend" und "Chronik einer Zeitenwende", hat "Die andere Heimat" eine poetischere Ausrichtung. "Chronik einer Sehnsucht" lautet der Untertitel hier. Alles weist übers Konkrete hinaus. Denn mit der "anderen Heimat" ist nicht nur der Sehnsuchtsort mancher Schabbacher gemeint, die Neue Welt, Südamerika, Brasilien, obwohl die schwer bepackten Pferdewagen zu Hunderten während des ganzen Films die Hunsrückhänge hinab zu den Auswandererhäfen ziehen. Heimat bekommt nach und nach eine ganz andere Bedeutung, eine ideelle, imaginative, künstlerische.

    Zuerst einmal aber ist dieser Film durch und durch realistisch, ja naturalistisch. In Schwarzweiß sehen wir die Armut, den Schmutz, riechen förmlich den ätzenden Geruch der Gülle auf den Lehmwegen, den Feuerruß in den Küchen der strohgedeckten Fachwerkhütten. Wie alle anderen Familien, so muss auch die Familie des Dorfschmieds Johann Simon extrem hart arbeiten, ja kämpfen, um mit den kargen Erträgen überleben zu können. Nur sein Sohn Jakob will nicht so richtig mitmachen. Er liest lieber.

    Vor allem studiert Jakob Reiseberichte über die Neue Welt, und er lernt Sprachen, auch die der indigenen Völker Südamerikas. Eine vermeintlich paradiesische Welt sanfter Natur und Menschen tut sich ihm auf. Ein fernes Echo der französischen Revolution hallt nach bis in die dunklen Hunsrücktäler, demokratische Ideen fischt Jakob auf einer Floßfahrt auf der Mosel unter Studenten auf, gegen überkommene Adelsrechte revoltiert er und landet im Gefängnis.

    Doch am Ende wandert nicht Jakob aus, sondern sein Bruder, der ihm die Jugendfreundin, das Jettchen, weggeschnappt hat. Jakob bleibt bei den Eltern, heiratet Jettchens Freundin und weist Alexander von Humboldt Fehler in dessen Abhandlung über die Sprachen der amerikanischen Urvölker nach. Als Humboldt persönlich, gespielt von Werner Herzog, den Jakob in Schabbach besucht, flüchtet der junge Mann vor Aufregung. Die Neue Welt aber, das weiß er mittlerweile, ist nicht das Paradies auf Erden. Das Paradies ist nie Wirklichkeit. Das Reich des Friedens, der Schönheit ist immer nur Imagination, Tat des kreativen Geistes. Und das macht diesen hyperrealistisch inszenierten Film so eigentümlich, so zwitterartig, so magisch, so traumhaft und seine Geschichte über die genaue sozialhistorische Verortung hinaus zu einem Inbild menschlicher Sehnsucht überhaupt.

    Ein Blütensturm weht über das Flachsfeld, die Kirschen im Baum leuchten rot auf. Jan Dieter Schneider als Jakob und Antonia Bill als Jettchen verkörpern die Sehnsuchts-Metapher auf unvergleichliche Weise. Ihre Augen, ihr Lächeln, ihr schwerer Hunsrücker Dialekt – ein Urverlangen nach Glück, Freiheit und Geborgenheit strahlen sie aus und dies in einer Dimension, wie sie keine Zeit gewähren kann.