- Was ist die zentrale Kritik am monatlichen Umzug des Europaparlaments von Brüssel nach Straßburg?
- Warum wird Straßburg als Sitz nicht aufgegeben?
- Wie stehen die vom monatlichen Umzug betroffenen Parlamentarier dazu?
- Spiegeln die Standorte des Parlaments die Europäische Union des Jahres 2020 noch wider?
- Sorgt die Corona-Krise dafür, dass ein Standort aufgegeben wird?
Die Corona-Pandemie hat viele politische Abläufe, Termine und Veranstaltungen durcheinandergebracht. Auch die Sitzungen des Europaparlaments. Die finden normalerweise in Brüssel statt und einmal im Monat im französischen Straßburg. So steht es in den EU-Verträgen. Aber als im Frühjahr dieses Jahres die Infiziertenzahlen europaweit hochgingen, wurden die Plenarsitzungen alle nach Brüssel verlegt. Nach der Sommerpause sollte wieder gependelt werden. Wegen der Coronalage in und um Straßburg herum tagen die Parlamentarier aber weiter in der belgischen Hauptstadt. Die Folge: Der Unmut in Frankreich wächst, Präsident Emmanuel Macron hat den EU-Parlamentspräsidenten aufgefordert, wieder nach Straßburg zu kommen. Und auch die Bürgermeisterin der Stadt, Jeanne Barseghian, versteht die Absage nicht: "Wir haben strenge Hygieneauflagen erlassen, wie es sie kaum anderswo in Europa gibt, sodass die Parlamentssitzung hätte abgehalten werden können. Ich bin wirklich sehr enttäuscht über die Entscheidung."
Die alte Debatte um den Parlamentssitz in Straßburg kocht also wieder hoch und bekommt in Corona-Zeiten eine neue Brisanz.
Brüssel-Straßburg – gut 350 Kilometer Luftlinie und fast 450 Kilometer reale Fahrstrecke: Die Kulissenwechsel des Europaparlaments sind mit einer immensen logistischen Material- und Personalbewältigung verbunden. Monatlich – einmal von Brüssel nach Straßburg und wieder zurück – setzt sich ein Tross aus Sonderzügen, Transportern und Kraftfahrzeugen in Bewegung, um Unmengen von Arbeits- und Aktenmaterial zu befördern. Zudem kommen hunderte Parlamentsmitarbeiter und Journalisten hinzu, die normalerweise in Brüssel leben. Die Abgeordneten selbst reisen meist aus den Wahlkreisen in ihrer Heimat an. Es ist anzunehmen, dass sich mehrere Tausend Menschen allein für diese Institution einmal im Monat auf den Weg von Brüssel nach Straßburg machen. Und dann auch wieder zurück. Klimaschützer gehen davon aus, dass das Europaparlament bis zu 20.000 Tonnen CO2 im Jahr mit seinen monatlichen Umzügen verantwortet. Die Umzüge kosten pro Jahr mehr als 100 Millionen Euro. "Dieser Betrag ist nicht unerheblich, auch wenn er nur 6% des Haushaltsplans des Parlaments oder 1% des Verwaltungshaushalts der EU oder gerade einmal 0,1% des gesamten EU-Haushalts entspricht", wie das Europaparlament zur Kenntnis nimmt.
Die Kritik an den beiden Parlamentssitzen ist seit Jahren immer wieder die gleiche: zu teuer, zu aufwendig und auch ökologisch nicht sinnvoll. Doch es gibt Gründe, weshalb das Europaparlament nicht von seinem französischen Zweitwohnsitz Abschied nimmt und damit künstliche Kosten sowie unnötigen CO2-Ausstoß einspart. Diese Gründe sind in der europaparlamenteigenen Dynamik angesiedelt.
Verhindert wird die Aufgabe des Standortes Straßburg durch eine Handvoll Faktoren: An erster Stelle steht dem der seit 1992 gültige EU-Vertrag entgegen, in dem die Sitze der EU-Organe dauerhaft festgelegt sind. In diesem Vertrag wurde entschieden, dass der "offizielle Sitz und der Ort, an dem die meisten Plenartagungen stattfinden" Straßburg sei. "Die parlamentarischen Ausschüsse treten in Brüssel zusammen, und offizieller Sitz des Generalsekretariats des Parlaments (d. h. der Parlamentsbediensteten) ist Luxemburg". Luxemburg liegt auf halber Strecke zwischen Brüssel und Straßburg. Um diese paneuropäische Aufstellung zu ändern, zu bündeln oder zu verschlanken geben die EU-Statuten vor: "Für jede Änderung des gegenwärtigen Systems wäre eine Änderung des Vertrags erforderlich, die von den Regierungen aller Mitgliedstaaten einstimmig vereinbart und von allen nationalen Parlamenten ratifiziert werden müsste."
Straßburg als Standort hat aber auch einen "hohen symbolischen Wert, für den es auch historische Gründe gibt",
wie Bettina Klein, Dlf-Korrespondentin in Brüssel, in der Sendung Europa heute erklärte
. Der symbolische Wert liege darin, dass das Elsass mit Straßburg, zwischen Deutschland und Frankreich, hart umkämpft in der Geschichte gewesen sei – und sich dort nach dem Krieg der Europarat ansiedelte. Zwar sei Straßburg formal der Hauptsitz des Parlamentes, aber "die überwiegende Arbeit in den Ausschüssen findet halt in Brüssel statt."
Eine Vertragsänderung, um Straßburg aufzugeben würde vor allem auch Frankreich – in Form von Präsident Emmanuel Macron – nicht unterzeichnen. In einem Brief an den Parlamentspräsidenten und auch bei einem Auftritt im Baltikum habe Macron geäußert, dass er "auf gar keinen Fall zulassen will, das sich aus dieser Corona-Lösung jetzt mit Sitzungen in Brüssel ein Dauerzustand ergibt", so Klein. Weiter stünde Macron dafür ein, dass der EU-Vertrag eingehalten werde. Es gilt also als sicher, dass Frankreich einer Vertragsänderung nicht zustimmen würde – "und vermutlich auch nicht Luxemburg, weil das natürlich als weiterer EU-Standort dann als Nächstes auf die Tagesordnung kommen würde".
Teile der EU-Staats- und Regierungschef-Ebene sind also befangen, wenn es darum geht, den Standort Straßburg aufzugeben. Die Mehrheit der pendelnden Parlamentarier jedoch würde wohl nur einen Standort bevorzugen, schätzt Brüssel-Korrespondentin Klein ein. Eine etwaige Abstimmung würde wohl nicht zu hundert Prozent, jedoch mehrheitlich für Brüssel ausgehen. "Denn hier sind die Institutionen angesiedelt, die das Parlament kontrollieren soll. Und das auseinanderzureißen, das wird vermutlich nicht alle überzeugen."
Die Parlamentsarbeit habe in den Plenarsitzungen der Plenarwochen in Straßburg ein hohes Gewicht, in denen man dort persönlich präsent ist und sich nur auf das Parlament konzentriert. "Es gibt allerlei Abendveranstaltungen, zu denen die Abgeordneten einladen, aber gleichzeitig ist der ganze Parlamentsbetrieb eben auch sehr auf physische Nähe ausgelegt. Und das ist natürlich genau das, was im Augenblick zumindest bei Massenveranstaltungen nicht stattfinden kann." Dadurch gehe in den letzten Pandemie-Monaten die Sorge um, dass das Parlament durch die eingeschränkten Arbeitsbedingungen im Augenblick geschwächt wird.
Die EU ist in den letzten Jahren sehr viel größer geworden. Vor allem aus Ost-Europa gab es Zuwachs an neuen Mitgliedsstaaten, sodass die Europäische Union mittlerweile bis an die belarussische und ukrainische Grenze reicht. Das Triptychon der Hauptstandorte - Brüssel, Straßburg, Luxemburg – spiegelt vor allem die EU aus Zeiten ihrer Nachkriegsgründung wider. "Brüssel ist mit seinen Institutionen nach dem Brexit jetzt buchstäblich an den alleräußersten westlichen oder nordwestlichen Rand der EU gerückt", sagte Bettina Klein.
Die Corona-Pandemie hat die EU-Parlaments-Arbeit und die Abläufe stark beeinflusst. Es gebe aber ein großes Einverständnis für die aktuellen Regeln, so Klein. Gleichzeitig werde in die Richtung Frankreichs signalisiert, dass eine Aufgabe Straßburgs nicht durch die Hintertür erzwungen werden solle. "Die Verträge sichern Straßburg zwölf Plenumssitzungen - aber natürlich, wenn das weiter zur Routine wird, kann man nicht ausschließen, dass die normative Kraft des Faktischen einsetzt. Und genau davor scheint Emmanuel Macron im Augenblick große Sorge zu haben."