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Das Phänomen Fake News
"Falschmeldungen hat es immer gegeben"

Es wird viel gesprochen über die Lügen aus der digitalen Welt, die sogenannten Fake News. Es sei absolut romantisierend so zu tun, als sei vor dem Einbruch von Social Media in die Politik Faktentreue und Wahrheitsliebe an der Tagesordnung gewesen, sagte der Wiener Kulturhistoriker Konrad Paul Liessmann im DLF. Nach wie vor gelte: Befrage kritisch die Quellen!

Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Birgid Becker |
    Der Philosoph Konrad Paul Liessmann
    Der Philosoph Konrad Paul Liessmann (dpa / picture-alliance / Erwin Elsner)
    Birgid Becker: Das Wort des Jahres: postfaktisch - nach den Fakten, nach der Wahrheit. Was kann man in postfaktischen Zeiten noch glauben? Und wie stoppt man den Siegeszug der Lüge? Darüber habe ich mit dem Wiener Philosophie-Professor Konrad Paul Liessmann gesprochen und zunächst mal abgeklopft: Hillary Clinton führt im Pizza-Laden einen Pornoring, Obama ist Muslim, der Brexit macht das britische Gesundheitswesen um Milliarden reicher, und Renate Künast wirbt um Mitgefühl für einen mutmaßlichen Mörder. Von all dem – ein Sammelsurium an Lügen aus der digitalen Welt, hätte er, der Philosoph Liessmann, doch nichts geglaubt, oder?
    Konrad Paul Liessmann: Das ist richtig, ich hätte nichts von dem geglaubt. Tatsächlich ist es in den Nachrichten, wie sie in den sozialen Medien kursieren, wirklich oft so, dass man aufgrund seiner ganzen bisherigen Kenntnisse, Lebenserfahrungen, der politischen Kreise, in denen man sich bewegt, abschätzt, ob das gewisse Formen von Glaubwürdigkeit hat oder eben nicht hat. So geht es uns aber allerdings immer. Das heißt, wir schätzen die Plausibilität, die Glaubwürdigkeit von Ereignissen, von Nachrichten, von Sensationen, von Gerüchten immer danach ein, ob sie mit unserer bisherigen Form des Wissens, der Lebenserfahrung, der Kenntnisse, der Auseinandersetzungen in Übereinstimmung zu bringen sind oder nicht. Was wirklich alles möglich ist auf dieser Welt, das kann ja in der Tat kein Mensch wissen.
    Becker: Nun sind Sie als Universitätsprofessor in der komfortablen Situation, dass es eine ordentliche Portion Bildung und Wissen und Expertise verhindert, dass Sie völligem Blödsinn auf dem Leim gehen. Aber was machen die, die nicht mit einer so großen Portion Bildung, Wissen, Expertise ausgestattet sind?
    Liessmann: Ich bin mir übrigens gar nicht sicher, ob das wirklich nur eine Frage von Wissen, Bildung und Expertise ist. Denn natürlich gibt es auch im Bereich der Wissenschaften eine ganze Reihe von berühmt gewordenen Experimenten, wo ziemlich viel Unsinn behauptet worden ist und man dann die Erfahrung machen musste, dass es zahlreiche Kollegen gibt, die das nicht durchschauen, die das glauben oder für sehr plausibel halten, weil es in gewisser Weise auch in ihr wissenschaftliches Weltbild passt. Das heißt, gefeit davor, einem Unsinn, einer Unwahrheit auf den Leim zu gehen, um es mal so salopp zu sagen, ist, glaube ich, niemand.
    Becker: Aber das Risiko ist geringer. Das würde ich Ihnen schon unterstellen, oder?
    Liessmann: Das kommt auf das Feld darauf an, in dem man sich bewegt. Das kommt auch auf das Thema an, um das es geht. Ich denke, natürlich hat jemand, der gewohnt ist, wie ein Wissenschaftler ständig nachzuprüfen, zu recherchieren, etwas zu überlegen, sehr viel mehr Möglichkeiten, sich schnell kundig zu machen, ob etwa bestimmte Zahlen stimmen, ob Statistiken richtig interpretiert sind, ob bestimmte Plausibilitäten vorhanden sind. Es ist ja auch ein Unterschied, ob jetzt Gerüchte über eine Person als Privatperson verbreitet werden. Ich weiß nicht, ob ich es geglaubt hätte, wenn man mir vor einem Jahr gesagt hätte, dass eine hochrangige evangelische Bischöfin schwer alkoholisiert durch die Stadt fährt. Es hat aber gestimmt. Das heißt, was persönliche Dinge betrifft weiß man nie genau. Was allgemeinere Fragen betrifft, dass Sie etwa jetzt das Gesundheitswesen in Großbritannien angesprochen haben und deren Entwicklungsperspektiven, da hat man natürlich, wenn man gewohnt ist, hier nachzuprüfen, mehr Möglichkeiten.
    Mensch hat "authentisches Bedürfnis nach Wahrheit"
    Ich glaube allerdings auch nicht, dass Menschen prinzipiell bereit sind, jeden Unsinn zu glauben. Ich glaube, es ist eher dieses Gefühl, das viele Menschen haben, dass ihnen sehr, sehr viel vorenthalten wird an Wahrheiten, die sie dann dazu disponieren, jeden Unsinn zu glauben. Das ist ein ziemlich kompliziertes Verhältnis. Menschen wollen ja nicht belogen werden, aber sie haben das Gefühl, dass ihnen vielleicht nicht immer alles gesagt wird und dass dahinter sich andere Wahrheiten verbergen.
    Becker: Das wäre dann der Nährboden für Verschwörungstheorien.
    Liessmann: Genau! Das ist dann der Nährboden für Verschwörungstheorien. Das ist der Nährboden für Gehässigkeiten. Das ist der Nährboden für Ressentiments und Unterstellungen und Vermutungen. Aber dahinter steckt ein nahezu authentisches Bedürfnis nach Wahrheit. Im Grunde stehen wir vor diesem uralten philosophischen Problem, das besagt: So wie die Welt, wie die Dinge uns erscheinen, sind sie in Wahrheit eigentlich nicht. Aber wie sind sie dann tatsächlich? Was steckt wirklich dahinter? Und eine Verschwörungstheorie ist ja im Grunde nichts anderes, als sich die allerdenkbarste einfachste Antwort auf eine Frage zu geben, die in der Regel nicht einfach zu beantworten ist.
    "Halte Rede vom postfaktischen Zeitalter für hemmungslos überzogen"
    Becker: Gehen wir in Sachen, was ist plausibel, was ist nicht plausibel, noch mal zurück zur Politik und da zu einem Satz aus der alten analogen Welt. "Die Rente ist sicher" hat der einstige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm gesagt. Halb Deutschland hat sich totgelacht, zumindest das publizistische Deutschland, und viele Jahre und eine Finanz- und Wirtschaftskrise später sieht man jetzt, so Unrecht hat der Mann gar nicht gehabt. Wahrheit und Lüge oder Wahrheit und Unwahrheit in der alten analogen Welt, so einfach war das auch da nicht mit dem Unterscheiden, oder?
    Liessmann: Überhaupt nicht. Ich halte überhaupt die Rede vom postfaktischen Zeitalter oder von einer postfaktischen Politik für hemmungslos überzogen. Beide sind genau in der Tat so wahr, dass der Umgang mit Fakten und das Aussprechen von Wahrheiten in der Politik immer ein Riesenproblem war. In der Politik gab es immer schon Phänomene der Demagogie, der Propaganda, der Versprechungen, der Wahlversprechen, die dann natürlich nicht eingehalten werden konnten, weil Politik natürlich auch sehr, sehr viel mit Strategie, mit Machterhalt, mit Taktik zu tun hat. Schon bei Machiavelli können Sie nachlesen, dass, wenn es um den Machterhalt geht, natürlich der Fürst, der Herrscher die Lizenz hat zu lügen. Selbstverständlich! Das heißt, das ist ein uraltes Phänomen, das uns auch immer schon Kopfzerbrechen gemacht hat.
    Deshalb halte ich es für absolut romantisierend und verklärend, so zu tun als wäre vor dem Einbruch von Social Media in die Politik tatsächlich dort Faktentreue und die Wahrheitsliebe an der Tagesordnung gewesen.
    Es kommt aber noch was anderes dazu. Das Beispiel, das Sie erwähnt haben, ist auch deshalb immer schon ein heikles Beispiel gewesen, weil es hier nicht um Fakten geht, sondern um Prognosen. Prognosen sind keine Fakten, sondern Prognosen sind Perspektiven und sind Vorausberechnungen, sind Trends, die sich bestätigen können oder nicht bestätigen können.
    Becker: Aber man musste damals so einem Satz trauen, oder man musste von vornherein sagen, ach was für ein dummes Zeug.
    Liessmann: Na ja, ich glaube, es gibt schon andere Möglichkeiten, als zwischen diesen beiden ganz harten Alternativen sich zu entscheiden. Man konnte aus politischen Gründen dem Satz trauen, man konnte aus politischen, aus ökonomischen Gründen auch seine gewissen Zweifel haben. Man konnte vor allem eines nicht voraussehen, wie sich die Wirtschaft tatsächlich entwickelt.
    "Gerüchte hat es immer gegeben"
    Becker: Wenn Sie nun sagen, es wurde immer gelogen, und die Empirie spricht ja dafür, dass Sie Recht haben, das ist schlimm genug. Aber was Sie vielleicht dabei nicht in Rechnung stellen, das ist, wie siegreich die Lüge nun sein kann, wenn sie erst mal durch die sozialen Netzwerke wandert. Dann wird sie ja ansteckend, dann wird sie pandemisch geradezu, und dann hat sie auch eine neue Qualität.
    Liessmann: Wenn Sie das so sehen, dann ist das tatsächlich ein neuer Aspekt, der gegenüber vordigitaler Kommunikation jetzt bemerkbar wird, dass sich falsche Nachrichten, dass sich Lügen, dass sich Gerüchte in einem unglaublich rascheren und in einer ungleich intensiveren Form verbreiten können, als das früher der Fall war. Gerüchte hat es immer gegeben, Falschmeldungen hat es immer gegeben, aber die sind nur in beschränkter Weise zirkuliert und sehr oft dann einfach zusammengebrochen und nicht mehr weiter kolportiert worden. Das große Problem ist, dass man solche Falschmeldungen und Gerüchte, wenn sie einmal die sozialen Medien erfasst haben, man kann sie einfach nicht mehr stoppen. Sie versickern auch nicht mehr, wie das früher der Fall war, sondern sie zirkulieren gleichsam ewig im ewigen Netz und können immer wieder auch hervorgehoben werden oder herausgebracht werden, thematisiert werden. Man stößt dann auch immer wieder darauf und das gibt dem Ganzen tatsächlich eine höchst problematische Dimension, der man einfach nur begegnen kann, indem man den Umgang mit solchen Nachrichtenformen, mit solchen Kommunikationsformen tatsächlich versucht, besser zu schulen, und auch junge Menschen von allem Anfang an versucht, dazu zu erziehen, kritisch mit diesen Medien umzugehen, nach den Quellen zu fragen und so etwas wie ein intellektuelles Rüstzeug zu vermitteln, das es erlaubt, eine Urteilskraft zu entfalten, nach der ich dann zumindest Wahrscheinlichkeiten, Plausibilitäten, von denen wir vorhin gesprochen haben, abschätzen kann.
    Becker: Das ist ein zutiefst aufklärerischer Appell, den Sie an den Schluss des Gespräches gestellt haben.
    Liessmann: Das ist ein zutiefst aufklärerischer Appell. Und man darf nicht vergessen: Dieser Mechanismus der Aufklärung, versuchen, selbständig zu denken, glaube nicht alles, was man Dir sagt, befrage kritisch die Quellen, vor allem versuche, mehrere unterschiedliche Quellen zu benutzen, verlass Dich nicht nur auf das, was Dir auf Facebook entgegenkommt, versuch auch noch andere Medien, sowohl analoge wie digitale zu nutzen, dieser Appell, glaube ich, ist heute dringlicher denn je. Ansonsten sind wir tatsächlich dieser Flut von Informationen, von Halbwahrheiten, Unwahrheiten, womöglich sogar auch Wahrheiten, die wir nicht mehr als Wahrheiten erkennen, wirklich hilflos ausgeliefert.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.