Ein paar Takte Filmmusik reichen aus, und schon sehen wir wild zerklüftete Bergmassive, grandiose Täler oder weite Ebenen vor uns. Gleich tauchen Winnetou und Old Shatterhand auf, und die Szenerie ist perfekt. Millionen Kinder sind mit den Büchern des Abenteuerschriftstellers aus dem sächsischen Ernsthal groß geworden. Die Verfilmungen haben ihnen noch einmal einen zusätzlichen Schub verpasst. Zugegeben, ich gehöre nicht zu dieser Fangemeinde. Aber die Essays von Gert Ueding, emeritierter Rhetorikprofessor von der Uni Tübingen, sind so interessant, dass man glatt noch einmal hineinschauen möchte in diese Bände. "Der Schatz im Silbersee", "Der Schut", "Unter Geiern", um nur ein paar der bekanntesten Titel zu nennen.
Ueding ist bekennender Karl-May-Fan seit seinem zwölften Lebensjahr und lange schon Mitglied der Karl-May-Gesellschaft. Trotz seiner Begeisterung hat er sich einen kühlen, analytischen Kopf bewahrt und schaut sich in seinem neuen Buch "Utopisches Grenzland. Über Karl May" das Phänomen dieses Vielschreibers aus Sachsen von verschiedenen Seiten her an. So geht er der Frage nach, wie es kommt, dass bis heute in der journalistischen Berichterstattung kaum ein Karl-May-Artikel "ohne gehässig-snobistische Untertöne" auskomme, während aber die Autor-Leserbindung geradezu einzigartig sei. Hier wirke wohl die Tatsache nach, dass May seine Schauplätze im Wilden Westen Nordamerikas und im Orient nie selbst gesehen und recherchierend erkundet habe. Dazu dieser kolportagehafte Mix aus Märchen, Räuberpistole, Reiseroman und Gartenlaube – das ist in der Regel eben nichts für journalistische Edelfedern! Übersehen werde dabei oft, so Ueding, "die synthetische Kraft, mit der Karl May das buntscheckige Arsenal seiner Bildung zu einem einheitlichen Erzählkonzept verband".
Gerade weil May auf literaturästhetische Mittel nicht den geringsten Wert legte, gelinge es ihm, mit seinem unmittelbaren, dialogreichen Erzählstil der "allergewöhnlichsten Alltagsrede" und den geradezu ritualisierten Handlungsschemata den Leser in einen geschlossenen Kosmos zu ziehen – in eine abenteuerliche Traumwelt. Eine Traumwelt, in der sich - wie Ueding in einem spannenden Kapitel ausführt - der Autor selbst verfangen hatte. Gerade deshalb, weil er sich mit seinen Romanfiguren so hemmungslos identifizierte, war Karl May der Verunglimpfungskampagne, die im Jahre 1899 gegen ihn losbrach, nicht gewachsen. Eine pädagogische Anti-Schund-Bewegung brachte ihn zu Fall. Am 30. März 1912 starb der Autor nach zahllosen Prozessen und verleumderischen Artikeln. – Die Essays Gert Uedings erlauben einen lockeren, aber durchweg anspruchsvollen Streifzug durch Leben und Werk Karl Mays.
Gert Ueding
Utopisches Grenzland. Über Karl May, Essays des Germanisten Gert Ueding,
Klöpfer & Meyer Verlag, 303 Seiten, 22,50 Euro.
Ueding ist bekennender Karl-May-Fan seit seinem zwölften Lebensjahr und lange schon Mitglied der Karl-May-Gesellschaft. Trotz seiner Begeisterung hat er sich einen kühlen, analytischen Kopf bewahrt und schaut sich in seinem neuen Buch "Utopisches Grenzland. Über Karl May" das Phänomen dieses Vielschreibers aus Sachsen von verschiedenen Seiten her an. So geht er der Frage nach, wie es kommt, dass bis heute in der journalistischen Berichterstattung kaum ein Karl-May-Artikel "ohne gehässig-snobistische Untertöne" auskomme, während aber die Autor-Leserbindung geradezu einzigartig sei. Hier wirke wohl die Tatsache nach, dass May seine Schauplätze im Wilden Westen Nordamerikas und im Orient nie selbst gesehen und recherchierend erkundet habe. Dazu dieser kolportagehafte Mix aus Märchen, Räuberpistole, Reiseroman und Gartenlaube – das ist in der Regel eben nichts für journalistische Edelfedern! Übersehen werde dabei oft, so Ueding, "die synthetische Kraft, mit der Karl May das buntscheckige Arsenal seiner Bildung zu einem einheitlichen Erzählkonzept verband".
Gerade weil May auf literaturästhetische Mittel nicht den geringsten Wert legte, gelinge es ihm, mit seinem unmittelbaren, dialogreichen Erzählstil der "allergewöhnlichsten Alltagsrede" und den geradezu ritualisierten Handlungsschemata den Leser in einen geschlossenen Kosmos zu ziehen – in eine abenteuerliche Traumwelt. Eine Traumwelt, in der sich - wie Ueding in einem spannenden Kapitel ausführt - der Autor selbst verfangen hatte. Gerade deshalb, weil er sich mit seinen Romanfiguren so hemmungslos identifizierte, war Karl May der Verunglimpfungskampagne, die im Jahre 1899 gegen ihn losbrach, nicht gewachsen. Eine pädagogische Anti-Schund-Bewegung brachte ihn zu Fall. Am 30. März 1912 starb der Autor nach zahllosen Prozessen und verleumderischen Artikeln. – Die Essays Gert Uedings erlauben einen lockeren, aber durchweg anspruchsvollen Streifzug durch Leben und Werk Karl Mays.
Gert Ueding
Utopisches Grenzland. Über Karl May, Essays des Germanisten Gert Ueding,
Klöpfer & Meyer Verlag, 303 Seiten, 22,50 Euro.