Durch einen Zufall wurde Benjamin Ferencz 1947 als 27-Jähriger zum Ankläger im Nürnberger Einsatzgruppen-Prozess ernannt. Er sprach sich damals entschieden gegen das Prinzip der Vergeltung aus und versuchte, die Verantwortlichen für eine der schrecklichsten Episoden des Krieges im Namen neuer, universeller Menschenrechts-Prinzipien zur Rechenschaft zu ziehen. Die Suche nach einer Zukunft, in der diese Prinzipien nicht allein der Ahndung von Kriegsverbrechen dienen, sondern auch ihrer Verhütung, hat ihn nicht mehr losgelassen.
(Teil 2 am 1.9.2019)
Der Deutschlandfunk sendet dazu am 27. August auch ein Feature des israelischen Historikers und Publizisten Daniel Cil Brecher:
Daniel Cil Brecher: Ben Ferencz wurde 1947 ganz zufällig Ankläger bei den Nürnberger Prozessen. Er war damals 27. Seine Erfahrungen beim Prozess, die Konfrontation mit dem Schicksal der Opfer und die Begegnung mit den Tätern haben ihn nicht mehr losgelassen. Die Prinzipien von Nürnberg - Verbot des Angriffskrieges, Strafbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Entschädigung der Opfer und die persönliche Verantwortlichkeit von Politikern und Militärs - sind Themen, mit denen der Jurist und Spezialist für Völkerstrafrecht sich seitdem beschäftigt, leidenschaftlich beschäftigt. Ich besuche den heute 99-Jährigen in seinem winzigen Bungalow in Delray Beach, Florida. Auf der Visitenkarte, die er mir augenzwinkernd überreicht, steht in großen Buchstaben "Recht statt Krieg".
Kann die Herrschaft des Rechts das Mittel des Krieges in internationalen Beziehungen ersetzen? Ist Krieg in seinen Augen ein unzulässiges Mittel der Konfliktlösung?
Ben Ferencz: Ja, absolut. Krieg sollte illegal sein. Aber wir sind noch nicht so weit, dass wir den Krieg verachten. Wir glauben immer noch, dass Krieg ehrenhaft wäre. So ist es seit 1.000 Jahren. Ich will das verändern, weil es jetzt so viel gefährlicher geworden ist. Als David einen Stein gegen Goliath schleuderte, konnten wir noch damit umgehen. Aber der nächste Krieg wird im Cyberspace stattfinden. Wir können jeder Stadt auf unserem Planeten den Strom abdrehen. Die USA können das, die Russen und die Chinesen auch. Das Problem ist nicht mehr die atomare Bewaffnung. Niemand kann diese Waffen benutzen. Wir wissen nur noch nicht, wie wir sie loswerden können. Die Frage ist vielmehr: Werden wir weiter Waffengewalt einsetzen, um Konflikte zu lösen? Das wird immer gefährlicher. Unsere Fähigkeit zu töten ist um vieles größer geworden als unsere Möglichkeit, Menschen zu schützen.
"Ich war noch nie in einem Gerichtsaal gewesen"
Brecher: Ihre Eltern flohen 1921 aus dem Siebenbürgischen Großhorn, heute Șomcuta Mare, in die USA. Sie waren damals ein Jahr alt. Der Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn, der Minderheiten Schutz geboten hatte, war einige Jahre davor zusammengebrochen. Als Sie Ihr Jura-Studium begannen, gab es das humanitäre Völkerrecht praktisch nicht. Es gab allerding das Kriegsrecht, zum Beispiel die Haager Konventionen, die bereits Bestimmungen über Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung enthielten. Als Sie Ende der Dreißigerjahre ein Stipendium für Harvard erhielten, spezialisierten Sie sich auf Strafrecht und dann auf Kriegsrecht.
1943 schlossen Sie Ihr Studium ab und wurden einberufen, als Ermittler für Kriegsverbrechen im besetzten Deutschland. Ihr erster Auftrag war die Untersuchung von Lynchmorden an abgeschossenen amerikanischen Piloten. Dann begannen Sie, Beweismittel für das Internationale Tribunal in Nürnberg zu sammeln, unter anderem in den Schreibstuben der gerade befreiten Konzentrationslager. Die Unterlagen wurden in Berlin im so genannten Berlin Document Center zusammengetragen. Vier Jahre später waren Sie selbst Chefankläger bei einem Kriegsverbrecherprozess, einer juristischen Materie, die so neu war wie Ihr Diplom. Waren Sie vorbereitet und konnten Sie überhaupt vorbereitet sein?
Ferencz: Ich hatte keinerlei Erfahrung. Ich war noch nie in einem Gerichtsaal gewesen. Aber ich war weltweit der am besten geeignete Mann dafür. Ich hatte ein Stipendium für Harvard gewonnen auf Basis meiner Prüfung im Strafrecht. Ich war der erste Mann in der US-Armee, der Kriegsverbrechen verfolgte. Ich ging mit in die KZs, als sie befreit wurden. Ich habe die Fliegerfälle untersucht, in denen die Bevölkerung Rache geübt hatte. Und ich habe in die Augen von Massenmördern geschaut. Ohlendorf war für den Mord an 90.000 Juden angeklagt, auf Basis seines eigenen Berichtes. Aber er sagte: Das könnte übertrieben sein, weil meine Leute sich mit der Zahl der Getöteten wichtigtaten. Was für ein Geständnis! Anstatt zu sagen, wir wurden dazu gezwungen, wir konnten nicht anders, prahlten sie damit, dass sie mehr umgebracht hätten als sie tatsächlich hatten. Wie schrecklich! Sie waren stolz darauf.
Brecher: SS-Brigadeführer Otto Ohlendorf war Befehlshaber der Einsatzgruppe D, die beim Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 hinter der Wehrmacht in Moldawien, der südlichen Ukraine und der Krim eingedrungen war, um die so genannte "jüdisch-bolschewistische" Intelligenzschicht zu ermorden. Zusammen mit den drei anderen Einsatzgruppen, die vom Baltikum im Norden bis zum Schwarzen Meer im Süden operierten, wurden von insgesamt 3.000 SS-Männern innerhalb weniger Monate über eine Million Menschen umgebracht, hauptsächlich durch Erschießen. Ohlendorf musste sich 1947 als Hauptangeklagter im Einsatzgruppenprozess verantworten, in dem Sie Chefankläger waren.
Ein Umstand dieses Prozesses erscheint mir aus heutiger Perspektive nur schwer verständlich. Der Einsatzgruppenprozess war der einzige der 12 Nürnberger Nachfolgeprozesse, der sich direkt und ausschließlich mit dem Mord an Juden befasste. Aus heutiger Sicht ist der Massenmord an Juden das paradigmatische Verbrechen des Nationalsozialismus überhaupt. 1947 wurde das offenbar noch nicht so gesehen. Denn der Prozess war nicht geplant und kam offenbar nur durch einen zufälligen Aktenfund zustande. War das wirklich so?
Ferencz: Es war wirklich ein Zufall. Ein Schweizer, ein junger Mann, der für mich arbeitete, fand einen vollständigen Aktensatz. Er kam in mein Büro mit einem Stoß "Ereignismeldungen aus der UdSSR". Sie waren "Geheime Reichssache" und enthielten den Namen des Kommandeurs, den Ort, das Datum und die Zahl der Ermordeten. 3.427 Juden, 50 Zigeuner oder was immer sie waren. Ich addierte die Zahlen mit einer Handrechenmaschine. Als ich bei einer Million angekommen war, sagte ich: genug. Mit einer Stichprobe nahm ich das nächste Flugzeug von Berlin nach Nürnberg, ging zu Telford Taylor und sagte, Herr General, wir müssen einen zusätzlichen Prozess ansetzen. Er sagte: Das können wir nicht. - Warum nicht? Ich habe hier Massenmord! - Weil das Pentagon die Mittel schon bewilligt hat, die Anwälte schon angeheuert sind und beschäftigt. Extrakosten werden nicht bewilligt. Ich sagte: Sie werden diese Massenmörder doch nicht straffrei ausgehen lassen? Na ja, sagte er, können Sie das dann zusätzlich übernehmen? - Ich sagte, sicher. - Okay, dann machen Sie das.
Brecher: Das Internationale Tribunal, also der erste Nürnberger Prozess gegen die so genannten Hauptkriegsverbrecher, der 1945-46 stattfand und in dem sich unter anderem Herman Göring, Rudolf Hess und Albert Speer verantworten mussten, hatte die Planung und Durchführung eines Angriffskrieges als Schwerpunkt, also das Verbrechen gegen den Frieden. Wo lagen die Schwerpunkte der folgenden 12 Nürnberger Verfahren, die von den USA durchgeführt wurden, und warum ging es nicht um die Judenverfolgung? Welche Absichten verfolgte die US-Regierung mit den Prozessen?
Ferencz: Über den Mord an den Juden wurde in der Tat beim Internationalen Militärtribunal auch nicht viel gesprochen. Es war eine Nebensache. Es ging darum, nicht nur ein Bild der Führung zu zeichnen, sondern zu verstehen, warum die Deutschen insgesamt so ein Programm unterstützen konnten. Der erste Prozess beschäftigte sich mit den Ärzten. Wie konnten Ärzte an hilflosen KZ-Insassen Experimente durchführen? Dann hatten wir den Juristen-Prozess. Wie hatten Richter das alles zulassen können? Dann standen die reichen Industriellen vor Gericht. Warum hatten sie Auschwitz bauen lassen, die Mittel dafür gegeben, um kostenlose Arbeitskräfte zu bekommen? All das war schwer zu verstehen. Wir wollten wirklich ein Gesamtbild zeichnen.
"Zuerst musste ich sicher sein, dass sie noch lebten und in Gewahrsam waren"
Brecher: Beim Prozess gegen die Einsatzgruppen ging es dann nicht mehr um den Nachweis gesamtgesellschaftlicher Schuld, sondern um die direkte Verantwortung für Gewaltverbrechen. Auf welcher Basis haben Sie hier eine Wahl getroffen und wie haben Sie die Angeklagten ausgewählt?
Ferencz: Ich habe 22 Angeklagte ausgewählt aus dem lächerlichen Grund, dass es nur 22 Plätze auf der Anklagebank gab - vom vorangegangenen Prozess von Hermann Göring. Ich hatte die Namen und Dienstränge von 3.000 Männern, die jeden Tag Massenmorde begannen hatten, die Hunderttausende Juden getötet hatten. Und ich musste 22 benennen.
Zuerst musste ich sicher sein, dass sie noch lebten und in Gewahrsam waren. Für alle anderen ließ ich Haftbefehle ausstellen. Dann wählte ich auf Basis ihrer Ausbildung aus. Viele hatten Doktortitel. Einer war sogar Dr. Dr. - Dr. Dr. Rasch. Der hatte das Massaker von Babi Yar zu verantworten, 33.000 Juden in zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941. Auch die anderen habe ich aufgrund ihrer Titel und des Dienstranges General ausgewählt.
"Man kann den Mord an einer Million Juden und anderer nicht mit dem Tod von 22 vergelten"
Brecher: Ihre Emotionen sind immer noch spürbar, nach 70 Jahren. Trotzdem haben Sie in ihrem Schlussplädoyer darauf verzichtet, die Todesstrafe zu fordern. Warum?
Ferencz: Man kann den Mord an einer Million Juden und anderer nicht mit dem Tod von 22 vergelten. Ich suchte nach etwas, das mehr zählte. Ich habe mit Absicht nicht die Todesstrafe gefordert, das überließ ich den Richtern. Und ich sagte, dass wir der Situation nur gerecht werden können, indem wir eine neue Rechtsordnung schaffen, die in Zukunft alle Menschen schützt. Denn diese Menschen wurden zu Opfern, weil sie nicht derselben Gruppe angehörten oder derselben Religion oder Ideologie anhingen wie ihre Mörder. Das war der schreckliche Grund, aus dem Menschen umgebracht wurden.
Brecher: Trotzdem wurden 14 der 22 Angeklagten zum Tode verurteilt, die anderen zu langen Haftstrafen.
Die Alliierten hatten 1945 im so genannten Statut von London, der Grundlage für die Nürnberger Prozesse, hier neues Recht geschaffen. Die Befehle einer Regierung oder eines Vorgesetzten könnten nicht als Strafausschließungsgrund gelten, hieß es wörtlich. Dass bei den Prozessen Recht angewandt wurde, das es vor 1945 noch nicht gab, war einer der Kritikpunkte gegen die so genannte "Siegerjustiz", wie es damals hieß. Haben sich die Angeklagten im Einsatzgruppenprozess auf die Rechtmäßigkeit ihrer Befehle berufen?
Ferencz: Jeder Soldat hatte in seinem Soldbuch eine Erklärung mit sich zu tragen, dass er allen rechtmäßigen Befehlen folgen musste. Rechtmäßigen Befehlen. Ich glaube keinen Moment, dass Soldaten das Zerschmettern eines Kinderkopfes an einem Baum für rechtmäßig hielten. Sie wussten, dass das gegen ihre Befehle war. Das war kompletter Unsinn, und ich habe das Argument nie akzeptiert.
"Sie hatten damit Erfolg, weil das als Vorwand für Freisprüche dienen konnte"
Brecher: In den 50er-Jahren, als bundesdeutsche Staatsanwälte sich aufmachten, NS-Täter zu verfolgen, entschied der Bundesgerichtshof, dass diejenigen, die rechtmäßigen Befehlen gefolgt waren, straflos blieben. Das Töten von Menschen ohne militärischen Grund galt allerdings als rechtswidrig. Aber das Fehlen eines militärischen Grundes musste im Einzelfall nachgewiesen werden. Diese Entscheidung führte zu einer Reihe von Freisprüchen, zum Beispiel beim Auschwitz-Prozess, der ab 1962 in Frankfurt geführt wurde. Das Nürnberger Prinzip, dass sich alle, ungeachtet des Ranges, für ihre Taten zu verantworten haben, war geschwächt. Angeklagte konnten sich mit Erfolg auf ihre Befehle berufen.
Ferencz: Sie hatten Erfolg damit, weil das als Vorwand für Freisprüche dienen konnte. Irgendwann standen die Verbrecher endlich vor einem deutschen Gericht. Ich habe mich mit den deutschen Anklägern getroffen. Das waren gute Leute. Aber sie sagten: Ben, wir können sie nicht verurteilen. Die Zeugen sagen nicht aus. Sie waren ihre Kammeraden. Sie haben die Morde gesehen, aber jetzt sagen sie: Ich habe nichts gesehen. Es war also sehr schwierig. Und die Öffentlichkeit begriff das nicht, wollte es nicht begreifen.
Brecher: Die Nürnberger Prinzipien wurden 1947 von den Vereinten Nationen zur Grundlage eines sehr ambitionierten völkerrechtlichen Projektes gemacht - der Schaffung eines permanenten Internationalen Strafgerichtshofes, als Teil einer neuen, internationalen Rechtsordnung, die Krieg und Kriegsverbrechen nicht nur ahnden, sondern verhindern sollte. Eine von der UNO ins Leben gerufene internationale Kommission von Juristen sollte die Voraussetzungen dafür schaffen.
Aber dann kam der Kalte Krieg und die vier Großmächte verloren das Interesse. Innerhalb der US-Politik gab es allerdings auch weiterhin eine Lobby dafür. Einer der Befürworter war der Chefankläger des Internationalen Nürnberger Tribunals, Robert Jackson, der 1947 an seinen Platz am Obersten US-Gerichtshof zurückgekehrt war. Gab es noch andere Befürworter?
Ferencz: Richter Jackson, Truman und Präsident Eisenhower. Diese Leute sahen ganz klar, was Eisenhower dann auch in seiner Abschiedsrede als Präsident aussprach: Dass sich die Welt nicht länger auf Waffengewalt verlassen könne. Wenn die Zivilisation überleben wolle, müsse sie sich an der Herrschaft des Rechts orientieren. Das sagte der Oberkommandeur, der den Zweiten Weltkrieg beendet hatte. Man sollte mehr auf ihn hören, als auf diesen Dummkopf John Bolton.
Ferencz: Für die USA ist der Internationale Strafgerichtshof gestorben
Brecher: John Bolton ist der Sicherheitsberater Präsident Trumps. Sie sind ganz offenbar kein großer Freund der heutigen Regierung. Die Grundlage für den Internationalen Gerichtshof kam erst 50 Jahre später zustande, 1998, nach Ende des Kalten Krieges, bei einem UN-Gipfel in Rom. Fast alle Staaten unterzeichneten dort das so genannte Römische Statut, darunter auch die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs. Aber in den Jahren darauf, in denen die USA in Afghanistan und im Irak einmarschierten, verschwand das Interesse wieder. Eine Reihe von Staaten zog ihre Unterschrift zurück. Bis heute haben sich rund 120 Vertragsstaaten der Zuständigkeit des Strafgerichtshofs unterworfen. Die USA, Russland, China und Israel haben damit begonnen, die Arbeit des seit 2002 in Den Haag residierenden Gerichts aktiv zu behindern, unter anderem dadurch, dass sie Gerichtsbeamten die Einreise verweigern.
Ferencz: Und wer führt die Parade an? Die USA. Und wer liefert die Argumente? John Bolton. Er war mit dem Präsidenten in Moskau, er saß hinter ihm während dessen Rede bei der UN-Vollversammlung. Und was ist seine Politik? America first! Internationales Recht existiert nicht, den Internationalen Strafgerichtshof gibt es nicht. Für die USA ist er gestorben. Wir werden den Internationalen Strafgerichtshof nie akzeptieren, hat er gesagt. Er sagt es immer wieder: Wir brauchen keinen Gerichtshof. Wer braucht ein Gericht? Wir haben die Macht - und nutzen sie.
Brecher: Das Prinzip einer universellen Gerichtsbarkeit für Kriegsverbrechen ist bis heute nur zu einem kleinen Teil verwirklicht. In den Neunzigerjahren wurden vom UN-Sicherheitsrat zwei Tribunale geschaffen, die sich mit den Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda beschäftigt haben. Der Internationale Strafgerichtshof wurde kurze Zeit später errichtet. Aber die Bilanz ist mager. Die Zuständigkeit des Gerichts ist auf das Territorium und Staatsangehörige von Mitgliedsstaaten beschränkt. Fälle können praktisch nur von Mitgliedsstaaten oder vom Sicherheitsrat vorgebracht werden. Die Anklagebehörde hat kaum Raum für eigene Untersuchungen und ist bei der Fahndung nach Tätern und der Suche nach Beweisen von den Mitgliedsstaaten abhängig. Weniger als zwei Dutzend Fälle wurden bislang vom Haager Gericht untersucht und nur acht Angeklagte verurteilt. Alle Fälle betrafen afrikanische Staaten, die politisch oder finanziell nicht in der Lage waren, sich mit Kriegsverbrechen oder massiven Menschenrechtsverletzungen selbst auseinanderzusetzen. Viele Beobachter sprechen deshalb von einer kurzen Phase universeller Zustimmung für dieses Projekt in den Neunzigerjahren, gefolgt von einem deutlichen Schwund an politischer Unterstützung in den letzten 15 Jahren. Wo sehen Sie die größten Hindernisse bei der weiteren Entwicklung des Gerichts?
Ferencz: Sie können mit einfachen Lösungen kommen, aber sie sind nicht einfach umzusetzen und das braucht Zeit. Wenn wir Gewalt als Mittel zum Erreichen nationaler Ziele aufgeben wollen, widerspricht das allem, was wir seit Erfindung des souveränen Staates getan haben. Meiner Meinung nach ist der souveräne Staat überholt. Die Welt hat sich verändert und sie ist kleiner geworden. Einem großen Teil der Öffentlichkeit ist bewusst, dass wir andere Menschen menschlicher behandeln müssen. Das ist ein komplexes Ziel. So gesehen sind wir erstaunlich weit gekommen. Wir haben einen internationalen Strafgerichtshof mit großer Mehrheit geschaffen. Ich war in Rom dabei, als abgestimmt wurde, und habe eine der Eröffnungsreden gehalten. Ich habe gesagt: Jetzt und hier ist die Zeit. Ich spreche an Universitäten und anderen Orten und bekomme immer stehenden Applaus. Warum? - Weil diese jungen Leute sagen: Er hat recht. Ich weiß, dass ich recht habe. Wie lange wird es noch dauern, bis sie die Mehrheit sein werden? Es geht in die richtige Richtung. Und eines Tages wird sich etwas ändern.
Brecher: Ende 1947 wollten Sie endlich mit ihrer Frau Gerda und ihren Kindern, die in Nürnberg geboren sind, nach New York zurückkehren. Aber dann wurden Sie gebeten, als Vertreter von Opfergruppen an der Rückerstattung von geraubtem Vermögen und den Verhandlungen über die verschiedenen Entschädigungsregelungen teilzunehmen. Sie waren dann bei den Verhandlungen zwischen der Bundesregierung und den Opfergruppen über das Bundesentschädigungsgesetz 1952 im Niederländischen Wassenaar dabei. Das Gesetz, das die Opfer des Nationalsozialismus entschädigen sollte, trat 1956 in Kraft. Leistungen nach diesem Gesetz werden bis heute ausgezahlt. Milliarden D-Mark beziehungsweise Euro. Nicht alle Opfergruppen wurden entschädigt, aber dass die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch Entschädigung für einzelne Opfer leisten mussten, war eine revolutionäre Neuerung.
Ferencz: Sie dachten, dass das Problem innerhalb von zehn Jahren vom Tisch wäre. Das war vor 50 Jahren und die Sache läuft immer noch. Ich bin sehr stolz darauf, dass alle Opfer im Westen entschädigt wurden. In Russland oder Polen hatten sie nicht das Glück. Aber insgesamt haben die Entschädigungen allen geholfen. Während meines ersten Jahres an der Universität Harvard habe ich gelernt: Wenn du Schaden zufügst, musst du ihn wiedergutmachen. Um nichts anderes ging es bei den Wiedergutmachungsgesetzen. Adenauer, ein anständiger deutscher Katholik, sagte, dass schreckliche Verbrechen vom Deutschen Volk begangen worden waren und es daher zur Entschädigung verpflichtet sei. In meinen Augen war das gesunder Menschenverstand oder einfach Anstand.
Brecher: Eine der Hoffnungen, die mit der Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs verbunden war, ja mit allen Formen des humanitären Völkerrechts und der Entschädigungsgesetzgebung, ist der Effekt der Abschreckung - durch Androhung von Strafverfolgung und der Pflicht zur Entschädigung. Wie hat sich das ausgewirkt?
Ferencz: Seit bekannt ist, dass es dieses Gericht gibt und man angeklagt werden kann, gibt es diesen Abschreckungseffekt. Wenn man weiß, es gibt kein Gericht, was hätte man zu verlieren, wenn man der Sieger ist. Aber es hat lange gedauert, bis wir an diesen Punkt gekommen sind. Ich selbst habe Verfahren gegen deutsche Firmen betrieben, die Zwangsarbeiter eingesetzt hatten. Ich wollte, dass die Überlebenden entschädigt werden. Ich habe ein Buch darüber geschrieben, "Less than Slaves", Geringer als Sklaven, über das ich noch etwas erzählen möchte.
Brecher: Um das noch schnell deutlich zu machen: Rund 100 deutsche Unternehmen haben von Zwangsarbeit profitiert, aber jede Verantwortung für den Einsatz von Zwangsarbeitern abgelehnt. Die Firmen beriefen sich darauf, dass Zwangsarbeit vom Reich und vom Ministerium für Rüstung angeordnet worden war und sie nur Befehle ausgeführt hätten.
Ferencz: Ich habe in diesem Buch das Verhalten dieser Deutschen beschrieben: Firmen wie IG Farben, die Auschwitz gebaut hat, um billige Arbeitskräfte zu bekommen; und Krupp, Siemens und AEG, Telefunken. Sie alle haben Sklavenarbeiter eingesetzt nach der Regel "Vernichtung durch Arbeit". Gib ihnen so wenig wie möglich zu essen, und wenn sie nicht mehr arbeiten können, verbrenne sie. Das war das Programm.
Ich habe zuerst mit der IG Farben verhandelt. Die haben schließlich unter dem Druck der Öffentlichkeit ein wenig bezahlt. Einige Firmen wollten nicht öffentlich bloßgestellt werden: Siemens, AEG, einige der großen Unternehmen. Aber die meisten sagten: Was willst du von uns? Die haben Seite an Seite mit den Deutschen gearbeitet. Was beschweren Sie sich? Auch sie haben Hunger gelitten. Sie wollten nicht bezahlen und stritten ab, dass sie etwas verbrochen hätten.
Brecher: All das spielte sich Ende der Fünfziger-, Anfang der Sechzigerjahre ab, noch bevor nationalsozialistische Verbrecher vor deutsche Gerichte kamen. Alliierte Gerichte hatten zwar sehr viele Verantwortliche verurteilt, aber praktisch alle, die Haftstrafen erhalten hatten, waren inzwischen wieder frei. Eine Ausnahme war Albert Speer, den Sie offenbar getroffen haben.
Ferencz: Albert Speer, ein Freund und Bewunderer von Hitler, war für die Versorgung mit Arbeitskräften zuständig. Er hatte 20 Jahre in Spandau gesessen. Als er aus der Haft entlassen wurde, wollte ich ihn sprechen. Ich schlug ihm ein geheimes Treffen am Flughafen Frankfurt vor. Er kam und wir setzten uns in eine Ecke. Ich dachte, dass er sagen würde: Hör zu Judenbengel, lass mich in Ruh. Ich habe meine Strafe abgesessen. Sein Stellvertreter war zum Tode verurteilt worden, obwohl er der Chef war...
"Auch das ist Deutschland"
Brecher: Speer war Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion und ab 1943 auch für Straßenbau und andere zivile Bereiche zuständig.
Ferencz: Er war also gerade entlassen worden. Ich sagte zu ihm: Ich kenne Ihre Akten und weiß, dass Zwangsarbeiter nur mit Ihrer Zustimmung zugeteilt wurden. Und dass die Firmen nachweisen mussten, dass sie die Gefangenen bewachen konnten, dass es um kriegswichtige Arbeit ging und dass die Gefangenen nur das absolute Minimum an Nahrung erhalten würden. Das steht alles in Ihrem Schriftverkehr, aber die Firmen bestreiten das. Speer sagte: Die lügen. Ich habe ihm dann erzählt, dass ich ein Buch darüber schreibe und ihn bitten wollte, das Manuskript zu lesen und mich auf etwaige Fehler hinzuweisen. Er war einverstanden. Ich gab ihm das Manuskript und er schrieb dann an jeder wichtigen Stelle an den Rand: Einverstanden, einverstanden, einverstanden. Er hätte das nicht tun müssen. Er hatte seine Strafe abgesessen. Trotzdem hat er es getan, ein verurteilter Kriegsverbrecher. Auch das ist Deutschland.
"Wir haben riesige Fortschritte erzielt"
Brecher: In der Tat erstaunlich, dass er Ihnen damit geholfen hat, gegen deutsche Firmen vorzugehen. Deutschland hat ja auf vielen Ebenen Konsequenzen aus der Geschichte gezogen. Die Bundesregierung hat deshalb auch beim Zustandekommen des Römischen Statuts eine wichtige Rolle gespielt. Trotzdem scheint das staatliche Engagement für Menschenrechte ganz allgemein viel zu zögernd und schwach, angesichts der massiven Verstöße, der Unterdrückung von Minderheiten, der Gewalt gegenüber Zivilisten. Wir haben heute den Internationalen Strafgerichtshof. Sind Sie mit dem Funktionieren dieses Gerichts zufrieden?
Ferencz: Wir haben riesige Fortschritte erzielt. Vor kurzem war ich bei einem Essen zu Ehren von Frau Clinton. Eigentlich war es zu Ehren von Frau Roosevelt, die für universelle Menschenrechte gekämpft hat, und von vielen anderen, die sich für Menschenrechte eingesetzt haben. In meiner Kindheit gab es so etwas wie Menschenrechte noch nirgendwo auf der Welt. Wir müssen also die Menschen dazu erziehen, menschliches Leben zu respektieren und Kompromisse zu akzeptieren. Kompromisse sind kein Zeichen der Schwäche. Wir brauchen die Einsicht, dass wir mit bestimmten Unterschieden leben können und dass wir menschliches Leben achten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.