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Das Prinzip "Recht statt Krieg" (2/2)
Die Anwälte

Seit einigen Jahren hat der Jahrhundertkonflikt zwischen Israel und Palästina einen neuen Schauplatz: Den Haag. Palästina hat vor dem Internationalen Gerichtshof und dem Internationalen Strafgerichtshof eine Reihe von Verfahren anhängig gemacht. Ein Streitgespräch zwischen zwei internationalen Juristen.

Tal Becker (Israel) und John Dugard (Palästina) im Gespräch mit Daniel Cil Brecher |
Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag
Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (dpa / picture alliance / ANP)
Der Völkerrechtspezialist Tal Becker ist Leiter der internationalen Rechtsabteilung am israelischen Außenministerium in Jerusalem. Der Südafrikaner John Dugard ist emeritierter Professor für Internationales Recht und berät die Regierung Palästinas. Beide Juristen setzen sich für eine Lösung des Konflikts auf Basis des internationalen Rechts ein. Aber in der Interpretation des Rechts unterscheiden sie sich völlig. Der Anwalt Palästinas glaubt an eine juristische Lösung, der Anwalt Israels nicht. Ein Streitgespräch über Besatzung, Siedlungen und den Einsatz von Gewalt.

Daniel Cil Brecher: Kaum ein anderer Konflikt hat so viel Gewalt und Hass hervorgerufen und so tiefe Gräben geschaffen wie der zwischen Israel und den Palästinensern. Alles an diesem Konflikt ist umstritten: Tatsachen, Ursachen, Schuld und nicht zuletzt die Frage, woraus eine Lösung bestehen muss, die von beiden Seiten als gerecht gesehen wird. Wen wundert es, dass dieser längst globalisierte Jahrhundertkonflikt seit einigen Jahren einen neuen Schauplatz gefunden hat: Den Haag. Palästina hat hier eine Reihe von Verfahren über den Konflikt anhängig gemacht, beim Internationalen Gerichtshof, der Konflikte zwischen Staaten behandelt, und beim Internationalen Strafgerichtshof, der Politiker und Militärs wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und gegen den Frieden oder für Völkermord verfolgt.
Damit wurde eine neue Frage aufgeworfen: Kann das internationale Recht, vor allem die 4. Genfer Konvention, die UN-Menschrechtskonventionen und das Römische Statut, die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof, den Parteien dabei helfen, eine Lösung für den Konflikt zu finden? Ich habe diese Frage zwei Völkerrechtsexperten vorgelegt, die sich seit Jahrzehnten mit der rechtlichen Seite des Konflikts befassen. Beide sind auf unterschiedliche Weise sehr stark mit der Suche nach Lösungen befasst. Ich sprach mit Tal Becker, dem Leiter der internationalen Rechtsabteilung beim israelischen Außenministerium, und mit dem Südafrikaner John Dugard, emeritierter Professor für Internationales Recht und ehemaliger UNO‑Sonderberichterstatter, der die Regierung Palästinas berät. Ich traf Tal Becker in Jerusalem und John Dugard in Den Haag.
Tal Becker: Ich bin in Paris geboren, aber in Australien aufgewachsen. Ein bisschen wie die Geschichte vom Ewigen Juden. Mein Vater stammt ursprünglich aus Marokko, meine Mutter wurde in Usbekistan geboren, aber ihre Eltern stammen aus Polen. Meine Familie war immer sehr mit Israel verbunden. Meine Großeltern haben ursprünglich Alija gemacht, sind also nach Israel eingewandert. Ich war immer vom Wunsch getrieben, meinem Land und meinem Volk zu helfen, insbesondere im Friedensprozess, bei dem ich an den israelisch-palästinensischen Verhandlungen beteiligt war.
"Israel fühlt sich zutiefst bedroht"
Brecher: Tal Becker, Sie sind seit den frühen Jahren 2000 im Staatsdienst, sind also schon lange dabei. Sie waren als Berater der Außenministerin Tzipi Livni bei den Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern 2005 bis 2007 dabei, bei der letzten Verhandlungsrunde, die man als ernsthaft bezeichnen kann. Wie haben Sie die Verhandlungen erfahren?
Becker: Ich sage oft, nicht ganz ernsthaft, dass Israelis und Palästinenser einander sehr verdienen. Beide reden gerne und haben manchmal Schwierigkeiten, dem anderen zuzuhören. Wir sind alle gut darin, Nein zu sagen. In gewisser Hinsicht haben beide Seiten ähnliche Anliegen. Einer meiner stärksten Eindrücke in den Verhandlungen über die Jahre war, dass dies ein Dialog zwischen zwei traumatisierten Gruppen ist, die in der Vergangenheit verletzt wurden und sich Sorgen um die Zukunft machen. Das hat die Verhandlung sehr, sehr schwierig gemacht, wenn auch aus meiner Sicht nicht weniger notwendig.
Brecher: Sie betonen die ähnlichen Anliegen und Hoffnungen beider Seiten, sicher zurecht, aber ist es nicht auch so, dass die eine Besatzungsmacht ist und die andere unter der Besatzung lebt?
Becker: Es ist schwer, die israelisch-jüdische Denkweise zu verstehen, ohne das Gefühl der Bedrohung einzubeziehen, das israelische Juden haben. Es ist leider ganz offensichtlich, dass Israel sich zutiefst bedroht fühlt, trotz all seiner Erfolge und seiner Macht, und es hat sicherlich Macht. Viele Israelis würden dem Satz zustimmen: Wenn unsere Nachbarn keine Waffen hätten, gäbe es Frieden, und wenn wir keine Waffen hätten, dann gäbe es kein Israel.
"Seltsames Verhältnis zur israelischen Regierung"
John Dugard: Ich bin Südafrikaner. Ich habe über 60 Jahre in Südafrika gelebt, auch während der Apartheid. Ich denke, dass ich Apartheid sehr gut kenne. Ich war Direktor eines Zentrums für Menschenrechte, des Zentrums für angewandte Rechtsstudien, das sich auf Forschung und Verfahren gegen Apartheid konzentrierte. Ich bin vor ungefähr 20 Jahren in die Niederlande gekommen, nachdem ich in Südafrika emeritiert wurde. 2001 wurde ich zum Mitglied, später zum Vorsitzenden der Untersuchungskommission für die Zweite Intifada ernannt, die von der damaligen UNO‑Menschenrechtskommission eingesetzt wurde. Danach wurde ich zum Sonderberichterstatter für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten berufen und habe das sieben Jahre lang gemacht. Seitdem bin ich in palästinensischen Angelegenheiten aktiv geblieben und in denen des Nahen Ostens.
Brecher: John Dugard, laut Ihren Berichten haben Sie Israel und die palästinensischen Gebiete regelmäßig besuchen können. Inzwischen haben UN-Berichterstatter keinen Zugang mehr. Hat die israelische Regierung bei Ihren Untersuchungen kooperiert?
Dugard: Ich hatte ein seltsames Verhältnis zur israelischen Regierung. Kurz nach meiner Ernennung zum Sonderberichterstatter habe ich mit dem israelischen Botschafter in Genf gesprochen und er sagte mir: Als Südafrikaner brauchen Sie kein Visum. Sie sind in Israel sehr willkommen, aber die Regierung wird nicht mit Ihnen sprechen. Wir haben nichts mit Ihnen zu tun.
Brecher: Sonderberichterstatter sind oft Politiker oder Diplomaten, aber Sie sind unabhängiger Jurist und Wissenschaftler, der auch noch auf Menschenrechte spezialisiert ist. Hat das etwas ausgemacht?
Dugard: Natürlich wurde ich nicht als Jurist zum Sonderberichterstatter für Palästina ernannt, aber ich habe die Situation aus der Sicht eines Juristen betrachtet. Ich denke, das war einer der Gründe, warum meine Berichte so unpopulär waren. Es war weniger einfach, sie zu kritisieren, weil ich die Situation von einem sehr technischen Standpunkt aus beurteilt habe.
Brecher: Was waren die wichtigsten Punkte in Ihren Berichten?
Dugard: Israel hat es immer versäumt, zwischen zivilen Zielen und militärischen Zielen zu unterscheiden. Das ist die Hauptkritik an der israelischen Reaktion auf Proteste während der Zweiten Intifada. Ich hatte 2009 den Vorsitz einer Untersuchungskommission für die Operation Gegossenes Blei. Und auch hier war sehr klar, dass Israel nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterschieden hat.
Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen
Brecher: Palästina hat sich 2018 an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gewandt, um das israelische Vorgehen in den besetzen Gebieten und im Gazastreifen untersuchen zu lassen. Teile der Klage beziehen sich auf das Besatzungsregime im Westjordanland, auf den Bevölkerungstransfer beziehungsweise den Bau von Siedlungen, auf Enteignungen, aber auch auf die Frage, ob Israel beim Einsatz von Gewalt im Gazastreifen ausreichend Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen hat. Seit der Operation Gegossenes Blei 2008 sind Tausende von Zivilisten im Gazastreifen getötet worden. Tal Becker, ist Israel bei den Auseinandersetzungen mit den Milizen im Gazastreifen zu weit gegangen?
Becker: Sie müssen untersuchen, was passiert ist und ob die Gesetze angemessen angewendet wurden. Hier geht es um die Grundsätze der Unterscheidung, der Verhältnismäßigkeit und eine ganze Reihe von Verpflichtungen im Kontext eines bewaffneten Konflikts. Die Situation im Gazastreifen ist besonders schwierig, weil wir einen Gegner haben, der diese Grundsätze nicht nur selbst nicht beachtet, sondern auch noch versucht, sie gegen uns zu verwenden. Das geschieht, wenn Zivilisten als menschliche Schutzschilde verwendet werden oder sich Kämpfer zwischen Zivilisten verstecken. Dies macht die Anwendung der Gesetze so schwierig. Wir bemühen uns sehr, unsere Soldaten über diese Prinzipien zu informieren und dann zu überprüfen, wie sie diese Prinzipien in der Praxis anwenden. Wir ziehen Lehren aus der Praxis und untersuchen Vorfälle, bei denen ein mutmaßlicher Verstoß vorliegt.
Brecher: John Dugard, darf ich Sie bitten, auf die Argumente von Tal Becker einzugehen? Hat Ihrer Ansicht nach die israelische Armee die Prinzipien der Proportionalität und der Unterscheidung zwischen zivilen und militärischen Zielen bei den Einsätzen im Gazastreifen respektiert?
Dugard: Sie kennen vielleicht den Untersuchungsbericht über die Demonstrationen entlang der Grenze zum Gazastreifen. Das war eine sehr gründliche Untersuchung. Sie hat sich eingehend mit bestimmten Vorfällen befasst und festgestellt, dass es in fast allen Fällen keine Rechtfertigung gab, letale Gewalt anzuwenden und Personen zu töten. Es ist ziemlich klar, dass israelische Soldaten nicht wirklich in Gefahr waren. Offenbar wurden bestimmte Personen, medizinisches Personal und Journalisten, absichtlich von Scharfschützen erschossen. Dies sind Opfer, die man sicher nicht als Kämpfer bezeichnen kann.
Zivile Todesopfer in Gaza
Brecher: Wie wir gerade gehört haben, müsste sich die israelische Justiz eigentlich solcher Todesfälle annehmen und prüfen, ob die Armee sich an die rechtlichen Normen für den Schutz von Zivilisten hält. Das Gleiche gilt für den Umgang Israels mit der Zivilbevölkerung im Westjordanland, zum Beispiel bei der Frage der Siedlungen. Tal Becker hat argumentiert, dass Israel mögliche Vergehen im Sinne des internationalen Rechts selbst gerichtlich untersucht. Dieses Argument ist deshalb so wichtig, weil es sich direkt auf die Frage der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs bezieht. Der IStGH kann unter anderem nur dann aktiv werden, wenn die eigentlich zuständigen Gerichte vor Ort diese Verbrechen nicht untersuchen wollen oder können. Übt die israelische Justiz diese unabhängige Kontrollfunktion aus?
Dugard: Die Antwort auf diese Frage hängt sehr stark vom gegenwärtigen israelischen Obersten Gerichtshof und dem Gerichtssystem ab. Früher hatte ich den Eindruck, dass der israelische Oberste Gerichtshof sich stärker um die Menschenrechte auf palästinensischem Gebiet gekümmert hat. Das war in der Zeit, als Aharon Barak Oberster Richter war. Heute scheinen die israelischen Gerichte nachlässiger zu sein. Die Justizministerin Ayelet Shaked hat deutlich gemacht, dass sie entschlossen ist, konservative Richter zu ernennen. Interessant ist, dass in letzter Zeit israelische Anwälte und Wissenschaftler in Veröffentlichungen das israelische Justizsystem in den besetzten Gebieten stark kritisiert haben. Sie neigen zur Ansicht der Palästinenser, dass sie vor israelischen Gerichten kein Recht bekommen. Natürlich ist eine der Schwierigkeiten - und ich denke die Hauptschwierigkeit -, dass der israelische Oberste Gerichtshof die Auffassung vertritt, dass die Rechtmäßigkeit von Siedlungen eine politische Frage ist und nicht unter gerichtliche Zuständigkeit fällt. Sie werden sich also überhaupt nicht zur Rechtmäßigkeit von Siedlungen äußern. Für Siedlungen gibt es also auch keine Abhilfe.
Brecher: Tal Becker, kümmern sich israelische Gerichte ausreichend um den Tod von Zivilisten in Gaza?
Becker: Israel ist ein Land, das sich der Rechtsstaatlichkeit verpflichtet fühlt. Ich sage oft, dass es aus gutem Grund keine Fernsehsendung "CSI Gaza" gibt. In einem asymmetrischen Konflikt zwischen einem Staat und einer terroristischen Organisation, dazu in einem Territorium, das Sie nicht kontrollieren, ist es sehr schwer, in einem kriminalistischen Sinn herauszufinden, was geschehen ist. Wir können keine Haarproben nehmen wie im Fernsehen. Wir stehen hier sehr oft vor Dilemmata, für die es keine einfachen Lösungen gibt.
Streifrage Siedlungsbau
Brecher: Aber wie steht es mit den Siedlungen? Hier müssen keine Beweise gesammelt und unters Mikroskop gelegt werden. Israelische Regierungen betreiben das Siedlungsunternehmen ganz öffentlich, mit einigem Stolz, obwohl nach allgemeiner Auffassung der Transfer der eigenen Bevölkerung in besetzte Gebiete, also der Bau von Siedlungen, illegal ist und damit auch das Leben der unter Besatzung lebenden Bevölkerung stark eingeschränkt wird.
Becker: Nach Ansicht Israels handelt es sich hierbei nicht um eine Standardsituation für den Transfer von Bevölkerungsgruppen in ein besetztes Gebiet. Es gibt verschiedene einzigartige Aspekte. Vielleicht weise ich zunächst darauf hin, dass, selbst wenn es sich um einen Rechtsbruch handeln würde, die Parteien sich darauf geeinigt haben, den Konflikt durch Verhandlungen und eine politische Lösung beizulegen. Wenn eine Seite oder die internationale Gemeinschaft Kritik an den Siedlungen übt, bedeutet es für mich nicht, dass dies vor einen Strafgerichtshof gehört. Es gibt noch andere Aspekte. Erstens: In der klassischen Besatzungssituation gab es vorher einen legitimen Souverän über das Territorium. Mit anderen Worten, Sie erobern das Gebiet eines früheren Souveräns, sind für einen bestimmten Zeitraum der Verwalter des Gebiets, bis Sie zu einer politischen Einigung über die Rückgabe dieses Gebiets kommen. Aber ich glaube nicht, dass hier jemand für eine Rückkehr zum Status quo ante plädiert, also zur illegalen jordanischen Annexion dieses Territoriums zwischen 1948 und 1967. Zweitens bestehen aus israelischer Sicht klare Souveränitätsansprüche auf das Westjordanland, Judäa und Samaria. Sie ergeben sich aus dem Palästina-Mandat und der Zuweisung dieses Gebiets als jüdische Heimstätte. Die Vorstellung, dass dieses Territorium jemand anderem gehört, dass wir eine Art Belgier im Kongo wären, eine Art fremder Kolonialisten, ist meines Erachtens keine angemessene Beschreibung der Situation.
Dugard: Das ist die Theorie, die Yehuda Blum aufgestellt hat, Professor für Rechtswissenschaft an der Hebräischen Universität. Er argumentiert, dass es im Westjordanland und im Gazastreifen keine souveräne Macht gegeben hat. Es war sozusagen Niemandsland und als Israel es besetzte, tat es dies nicht zu Lasten eines souveränen Staates. Israel hat argumentiert, dass die Genfer Konventionen nur für die Besetzung des Territoriums eines anderen souveränen Staates gelten. Dieses Argument wurde von Israel vor dem Internationalen Gerichtshof vorgetragen. Es wurde vom Internationalen Gerichtshof im Jahr 2004 geprüft, sorgfältig geprüft, und es wurde abgewiesen. Was die Illegalität von Siedlungen anlangt, ist die Rechtslage sehr klar. Die 4. Genfer Konvention, die laut Internationalem Gerichtshof für die Besetzung anwendbar ist, sagt in Artikel 49 Absatz 6 ganz klar, dass der Transfer von Zivilisten der Besatzungsmacht in besetztes Gebiet rechtswidrig ist. Das ist also rechtswidrig. Der Internationale Gerichtshof hat entschieden, dass Siedlungen in ihrer Gesamtheit rechtswidrig sind, und der Sicherheitsrat hat dies auch wiederholt festgestellt.
Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs
Brecher: Palästina hat im Januar 2015, als Reaktion auf den Gaza-Krieg im Sommer 2014, das Römische Statut unterzeichnet. Damit wurden das Westjordanland und der Gazastreifen der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs unterworfen. Die Anklagebehörde eröffnete daraufhin auf eigene Initiative eine sogenannte Vorprüfung des Falles. Im Mai 2018 wandte sich Palästina dann als Vertragsstaat selbst an das Gericht und beantragte eine Untersuchung der Gesamtsituation. Die Chefanklägerin Fatou Bensouda hat allerdings bisher keine neuen Schritte unternommen. Die Vermutungen über das Ausbleiben weiterer Schritte reichen von ungeklärten Fragen der Zuständigkeit bis zur politischen Beeinflussung durch Israel. Israel hat das Römische Statut nicht ratifiziert, ist also kein Vertragsstaat. Israelische Bürger müssten allerdings, sollte Fatou Bensouda Anklage gegen einzelne Politiker, Beamte oder Militärs erheben, vor Gericht erscheinen. Israel zieht die Zuständigkeit des Gerichts in Zweifel. Tal Becker, was sind Israels Argumente?
Becker: Die gibt es auf mehreren Ebenen. Das erste betrifft grundlegende rechtliche Fragen. Erstens, wäre das Gericht in einem solchen Fall zuständig? Es stellt sich zum Beispiel die Frage, ob der palästinensische Staat, die palästinensische Einheit ein Staat nach internationalem Recht ist. Dies ist sehr umstritten. Das Gericht ist ein Gericht mit delegierter Zuständigkeit, die von Staaten mit souveräner Fähigkeit zur Strafverfolgung delegiert wurde. Ich glaube nicht, dass Sie aus juristischer Sicht auf einen Zeitpunkt in der Vergangenheit oder heute verweisen können, an dem die Palästinenser diese Kompetenz besaßen, die sie an das Gericht hätten delegieren können. Zweitens muss der Staatsanwalt dazu prüfen, ob es ein Staatsgebiet gibt. Was ist das Territorium? Das genaue Territorium ist Gegenstand von Verhandlungen zwischen den Parteien. Wie soll die Prüfung erfolgen?
Brecher: John Dugard, ist Palästina, was den Internationalen Strafgerichtshof anlangt, ein Staat?
Dugard: Die Antwort lautet: Dies entscheidet die Versammlung der Vertragsstaaten; es ist also eine politische Entscheidung. Die Versammlung der Vertragsstaaten hat entschieden, dass Palästina ein Staat ist und hat Palästina als Mitgliedsstaat zugelassen. Die Chefanklägerin hat diese Entscheidung nicht in Frage zu stellen. Ich glaube allerdings, dass sie sie in Frage stellt.
Brecher: John Dugard erwartet, dass die Anklägerin im Fall Palästina nicht weiter ermitteln wird, weil sie unter politischem Druck steht. Es gibt Gerüchte, dass Israel mit Fatou Bensouda seit einiger Zeit vertrauliche Gespräche führt. Israel ist kein Vertragsstaat. Tal Becker, finden diese Gespräche statt und, wenn ja, was versucht Israel mit diesen Gesprächen zu erreichen?
Becker: Nun, ich meine, ich würde mit einiger Zurückhaltung sagen, dass entschieden wurde, dass Israel sich an die Anklägerin wendet, insbesondere in Fragen der Zuständigkeit des Gerichts. Obwohl wir der Meinung sind, dass das Gericht nicht zuständig ist und obwohl wir kein Vertragsstaat sind. Unser Engagement war diskret. Wir wollten zeigen, warum es für das Gericht so unangemessen wäre, diese Voruntersuchung fortzusetzten. Dies ist ein Gericht, das als letztes Mittel gegen Massengräueltaten gedacht ist. Einer der größten Kritikpunkte ist im Moment, dass dieses Gericht mit seinen begrenzten Ressourcen über sein ursprüngliches Mandat hinausgeht. Wir wollen mit diesem Engagement zeigen, wie offensichtlich ein Vorgehen in diesem Fall einen Missbrauch der Ressourcen des Gerichts bedeuten und über dieses Mandat hinausgehen würde.
Dugard: Ich denke, dass Israel sehr deutlich gemacht hat, dass es schlimme Konsequenzen für das Gericht haben würde, wenn es zu einer Untersuchung käme, und dass die Anklägerin die Botschaft empfangen hat. Deshalb weigert sie sich, Ermittlungen einzuleiten. Ich hatte Treffen mit ihr, in denen sie es bestritten hat. In der Öffentlichkeit hat sie es bestritten. Und ich hatte Treffen mit ihr zusammen mit den Palästinensern, in denen sie es bestritten hat.
Brecher: Tal Becker, glauben Sie, dass die Chefanklägerin Israels Argumente akzeptiert hat?
Becker: Diese Gespräche sind vertraulich. Ich werde meine Eindrücke also nicht teilen. Ich glaube, dass es keines besonderen rechtlichen Mutes bedarf, um zu dem Schluss zu kommen, dass in diesem Fall keine Zuständigkeit besteht. Aus unserer Sicht, und ich weiß, dass das nicht populär ist, hätte dieser Fall längst geschlossen werden müssen.
Basis für Verhandlungen
Brecher: Die letzten ernsthaften Verhandlungen über eine diplomatische Lösung des Konflikts liegen mehr als zehn Jahre zurück. Beide Seiten geben sich gegenseitig die Schuld dafür. Beobachter sehen in der Unterbrechung vor allem einen Vorteil für Israel, das durch die Besatzung des Westjordanlandes und die Blockade des Gazastreifens Druck ausüben kann, um die palästinensische Seite zu einem Einlenken in Sachen Siedlungen, Territorium und Souveränität zu bewegen. Man könnte also die juristischen Schritte Palästinas beim Internationalen Gerichtshof und beim Internationalen Strafgerichtshof als eine Strategie verstehen, aus diesem Würgegriff auszubrechen. John Dugard, bietet der Gang zu diesen zwei Institutionen und der Appell an das Völkerrecht eine Alternative zu Verhandlungen? Ist die Basis für Verhandlungen, die Oslo-Verträge, überhaupt noch vorhanden?
Dugard: Beginnen wir mit den Endstatusfragen wie Siedlungen, Flüchtlinge und Jerusalem. Die hätten innerhalb von fünf Jahren nach der Grundsatzerklärung in Oslo 1 geklärt werden müssen. Die Frist wurde 1995 in Oslo 2 um zwei Jahre verlängert. Es ist klar, dass diese Fragen vor vielen Jahren hätten gelöst werden müssen. Die Frage ist jetzt, ob die Oslo‑Abkommen heute noch gültig sind. Einerseits sind die Verstöße so schwerwiegend, dass man sagen könnte, die Abkommen existierten nicht mehr. Andererseits bilden sie weiterhin die Grundlage für palästinensische Strukturen und für die Aufteilung des Westjordanlandes in die Gebiete A, B und C. Man kann also nicht wirklich sagen, dass sie ganz unwirksam sind.
Brecher: Tal Becker, Israel wirft der palästinensischen Seite vor, in den Verhandlungen gegenüber israelischen territorialen Forderungen nicht flexibel genug zu sein. Israel fühlt sich im Recht, was den Bau von Siedlungen anlangt. Können die internationalen Gerichte hier eine Lösung bieten?
Becker: Der Gang zu diesen Institutionen gibt dem palästinensischen Volk die falsche Hoffnung, dass es eine Alternative dazu gäbe, sich mit Israel zu einigen. Nur hier können palästinensische Interessen vor Ort entscheidend vorangebracht werden. In diesem Zusammenhang wird das Völkerrecht so hingestellt, als wäre es eine Art Steuergesetzbuch, das eindeutige Antworten auf alle Fragen gibt. Meiner Meinung nach ist das genau das Gegenteil einer Friedensdynamik. In einer Friedensdynamik versuchen Sie, einander entgegenzukommen und nicht zu polarisieren und sich gegenseitig auf negative Weise darzustellen.
Brecher: John Dugard, die palästinensische Seite hat sich sowohl an den Internationalen Strafgerichtshof wie an den Internationalen Gerichtshof gewandt. Der Internationale Gerichtshof befasst sich zurzeit mit einer Klage Palästinas gegen die USA wegen Verlegung der Botschaft nach Jerusalem. Schon 2004 hat der Internationale Gerichtshof in einem Rechtsgutachten über die Sperranlagen zugunsten der Palästinenser entschieden, auf Antrag der UNO-Generalversammlung. Die UNO wird von israelischen Regierungen oft als parteiisch und voreingenommen beschrieben. Fühlt sich die palästinensische Seite von der UNO und den Institutionen des internationalen Rechts unterstützt?
Dugard: Die Vereinten Nationen haben das palästinensische Volk ganz offensichtlich im Stich gelassen und es nicht geschafft, eine Einigung im Nahen Osten zu erzielen. Ich denke, ein Großteil der Schuld trifft die Vereinten Nationen. Als ich Sonderberichterstatter war, hatte ich immer das Gefühl, dass hochrangige UN‑Beamte den Interessen Israels gegenüber sehr empfänglich waren. Ich denke, die Vereinten Nationen sind gescheitert. Die Europäische Union hat es nicht besser gemacht. Die Institutionen des Völkerrechts haben keine bedeutende Rolle gespielt. Hier würde ich den Internationalen Strafgerichtshof einbeziehen. Und ich denke, der Internationale Gerichtshof hat derzeit eine gute Bilanz, wegen seines Gutachtens von 2004
Bedeutung des Völkerrechts
Brecher: Tal Becker, kann das Völkerrecht eine bedeutendere Rolle spielen?
Becker: Das Völkerrecht ist in diesem Zusammenhang kompliziert, weil die Tatsachen umstritten sind und das Recht umstritten ist. Im besten Fall bietet das Völkerrecht eine Art Sprache und eine Möglichkeit, einige Schwierigkeiten zu überbrücken und auf bessere Weise darüber zu sprechen. Aber es schreibt keine Lösungen vor. Bei Verhandlungen geht es darum, ein Ergebnis zu finden, das unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen gerecht wird. Ich habe auf palästinensischer Seite manche gefunden, die zu einem solchen Gespräch bereit sind, und andere, die den Konflikt leider in einer sehr selbstgerechten Art und Weise interpretieren.
Dugard: Das Völkerrecht ist wichtig, weil es die Illegalität der Besatzung betont. Die Besatzung ist illegal, dafür gibt es starke Beweise. Israel hat Menschenrechte verletzt. Wenn Israel seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen würde, wäre dies eine Grundlage für eine Einigung. Das ist es, was wir heute brauchen. Ob es sich um eine Zwei-Staaten-Lösung oder eine Ein-Staaten-Lösung handelt, ist mir gleich. Das Völkerrecht kann eine wichtige Rolle beim Erreichen einer Einigung spielen. Um eine Einigung zu erzielen, sollte Israel zugeben, dass es illegal gehandelt hat. Auch das südafrikanische Apartheid-Regime hat eingestehen müssen, dass es sich illegal und falsch verhalten hat. Dies bildete dann die Grundlage für eine Beilegung des Konflikts.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.