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Emmanuel Carrère: "Yoga"
Das Privileg, seinem elenden Leben eine Form zu geben

Im Alter von 60 Jahren wird bei Emmanuel Carrère eine bipolare Störung diagnostiziert. „Yoga“ ist ein autofiktionales Buch über die Angst vor dem inneren Feind, über die Grenzen der Psychoanalyse und Demut lehrende Begegnungen mit jungen Geflüchteten.

Von Sigrid Brinkmann |
Emmanuel Carrère und sein Roman "Yoga"
Emmanuel Carrère und sein Roman "Yoga" (Foto: picture alliance / dpa / Pablo Gianinazzi, Hintergrund: Verlag Matthes & Seitz Berlin)
Um Stoff für ein „heiteres Büchlein“ über die spirituelle Dimension und Praxis des Yoga zu sammeln und sein „despotisches, erschütternd neurotisches Ego“ zu zügeln, begibt sich Emmanuel Carrère im Januar 2015 in ein Retreat in der französischen Provinz.
„Vipassana-Kurse sind das Kampftraining der Meditation. Zehn Tage lang zehn Stunden schweigend von allem abgeschnitten: the real shit. In Internetforen berichten viele, diese Hardcoreerfahrung habe sie bereichert und verändert, andere verurteilen sie als sektenhafte Vereinnahmung. Sie beschreiben den Ort als Konzentrationslager und die tägliche Zusammenkunft als Gehirnwäsche. Nordkorea sozusagen.“
Nach fünf Tagen holt ein Anruf den meditierenden Schriftsteller abrupt in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurück. Islamisten haben zwölf Menschen in den Redaktionsräumen der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ermordet. Unter den Opfern ist ein Freund, der Wirtschaftswissenschaftler Bernard Maris. Dessen Lebensgefährtin bittet Emmanuel Carrère, beim Begräbnis die Trauerrede zu halten. Wenig später verliert der Autor die Kontrolle über sein Leben.

Wenn nichts mehr hilft: Elektroschocks

„Obwohl ich meine Situation nicht mit viel schlimmeren Schicksalsschlägen vergleichen möchte, ist eine tiefe Depression – eine so genannte melancholische Episode – wirklich eine menschliche Grenzerfahrung. Die vielen Zuschriften von Leuten, die ähnliches durchgemacht haben, bestätigen das.“
Wenn man wieder seinen Platz zwischen den Lebenden gefunden habe, so Emmanuel Carrère, relativiere man die Hölle zu schnell. Das will er nicht tun.
„Es ist ein Privileg, seinem chaotischen, holprigen und elenden Leben eine Form geben zu können – und sicherlich gehöre ich zu den Menschen, bei denen das Schwanken zwischen Licht und Schatten etwas Pathologisches hat -, aber im Grunde glaube ich, dass es uns allen ähnlich geht. Wenig schmeichelhafte, ja beschämende Dinge auszusprechen, hilft nicht nur einem selber, sondern auch anderen. Ich behaupte, dass mein Schreiben einen Nutzen hat.“
Rückhaltlos berichtet er in seiner autofiktionalen Erzählung von der niederschmetternden Diagnose einer bipolaren Störung und der Anwendung des „allerletzten Mittels“.
“Eine bekannte Nebenwirkung der Elektroschocktherapie ist der Gedächtnisverlust. Ich habe die Erinnerungslücken deutlich wahrgenommen und weil es mir Angst gemacht hat, riet mir ein Freund, mein Gedächtnis wie einen Muskel zu trainieren. Und so habe ich mit 60 Jahren plötzlich einen völlig neuen Zugang zur Dichtung entwickelt und sogar angefangen, Gedichte auswendig zu lernen.“

Vom Nutzen radikaler Offenheit

Im Garten der psychiatrischen Klinik Sainte-Anne rezitiert Emmanuel Carrère Poeme von Ronsard, Guillaume Apollinaire und Yves Bonnefoy. Er entdeckt Louise Labé, eine Lyrikerin des 16. Jahrhunderts. Carrères radikale Offenheit, seine flirrende Intellektualität und sein flüssiger Stil entfalten eine soghafte Wirkung. Der Romancier verhehlt nicht, dass sein Hang zur Selbstanalyse einem ausgeprägten Narzissmus geschuldet ist, aber da er das eigene Erleben immer wieder transzendiert, verbindet er sich mit den Lesenden. Mehr für andere da sein zu wollen, schreibt Carrère, sei doch schließlich „die Geschichte unseres Lebens“.

Von Geflüchteten Demut lernen

Als der Autor hört, dass eine amerikanische Historikerin zuhause alles aufgegeben hatte, um auf der griechischen Insel Leros minderjährige Geflüchtete zu unterrichten, beschließt er, ihr Engagement durch Schreibwerkstätten zu unterstützen. Mit großer Wärme und ohne jede Spur von Paternalismus porträtiert Carrère die in Afghanistan, Pakistan und Syrien aufgewachsenen Jungen; sie wissen besser als ihre wohlmeinenden Förderer, wann der richtige Moment gekommen ist, um etwas Persönliches preiszugeben und anzudeuten, wie tief entwurzelt sie sich fühlen. Niemand nahm Hassan am Vorabend seiner Flucht in den Arm. Nur diese Worte einer Tante erinnert er:
 „Hör auf zu weinen, mein Junge, von allem im Leben muss man Abschied nehmen, immer, und am Ende nimmt man vom Leben selbst Abschied, also hilft es nichts zu weinen, weine nicht.“
 Auf Leros ist Emmanuel Carrère zu einer Randfigur geworden. Sein bescheidenes Tun erscheint ihm geradezu „obszön“. Im Gespräch hält er fest:
„Nietzsche sagte sinngemäß: Die Freude ist tiefer als die Traurigkeit und vielleicht sogar wahrer. Ich empfinde mit van Gogh, der sagte: Die Traurigkeit dauert ewig. Sie bildet, denke ich, den Wesenskern und darauf hat man keinen Einfluss.“
Obwohl für Emmanuel Carrère, wie er hinzusetzt, ein halbvolles Glas eher ein halbleeres ist, lässt er sein ergreifend direktes Buch mit einem freudvollen Ausblick enden. Die Schlussszene wirkt zu schön, um wahr zu sein – aber was soll wiederum unecht sein an der Sehnsucht nach Nähe und erotischem Glück? Und weil der Schriftsteller nicht müde wird, zu erklären, dass die Literatur für ihn der Ort ist, an dem er nicht lügt, nehmen wir ihm die zarte, unerwartete Wendung unbedingt ab. Dass das tiefernste Buch "Yoga" am Ende ein großes Lächeln ins Gesicht zaubert, ist eine meisterlich kalkulierte Überraschung.
Emmanuel Carrère: "Yoga"
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
Matthes und Seitz Berlin, Berlin.
328 Seiten, 25 Euro.