"Digitale Zeiten fordern digitale Teilhabe", könnte man als Forschungsimpuls von oper.digital formulieren. Welche Potentiale liegen in Digitalisierung, wie kann Publikumsbeteiligung aussehen? Welche digitalen Devices, also technischen Hilfsmittel gibt es schon, wie können sie für die Kunst genutzt werden?
Warum nicht ein Digitalisierungsteam in jede Technikabteilung eines Opernhauses integrieren, schlägt der Projektleiter Clemens Seemann von oper.digital vor. "Man sieht das ja auch bei großen Firmen, die teilweise eigene Startups in ihre Strukturen integrieren. Sie gründen diese als Inkubatoren, die eine Innovation herbeiführen sollen. Ich finde, dass das ein durchaus vergleichbares Beispiel sein kann, dass das eine Art digitaler Innovationsinkubator in einem Haus sein kann. Man kann das als einen Teil der Zukunft verstehen und sich die Frage stellen: Wie schafft man es, dass man einer Digitalisierung, die in weiten Teilen der Gesellschaft um sich greift, nicht hinterherläuft und dem positiv zu begegnen."
In vier Forschungsabschnitten, als "Labs" bezeichnet, experimentieren die beteiligten Künstlerinnen und Künstler mit praktischen Anwendungen, die sich am Ende auch als ungeeignet herausstellen dürfen. Auf sozialen Medien hat das Team mit dem Beginn seiner Arbeit eine "I-love-you-Challenge" gestartet. Zuschauerinnen und Zuschauer sollen in Mini-Videos die Worte "Ich liebe Dich" in die Welt schicken, als digitalen Kettenbrief. Werbebotschaft zunächst einmal für oper.digital, nicht Partizipationsvorschlag, den man in die nächste gestreamte "Traviata" einbauen könnte.
Welche Räume öffnet die Digitalisierung?
Clemens Seemann: "Auch für uns ist die Oper in der reinen Darbietungsform ein absolutes Heiligtum. Wir wollen aber überlegen: Gibt es durch die Digitalisierung neue Möglichkeiten, Opern aufzuführen, die wir vielleicht bisher noch gar nicht kennen, die aber eine Generation, die mit Tictoc aufwächst, anders wahrnimmt. Also, es ist nicht unser Ziel, dass wir mit digitalen Elementen konservative Aufführungen boykottieren, sondern es ist eher: Was öffnet die Digitalisierung für neue Räume der Darbietung, der Teilnahme und Möglichkeiten, auch vorhandene Opern vielleicht komplett neuartig aufzuführen, zu denken oder mit dem Publikum gemeinsam zu gestalten."
Das erste Laboratorium ist eine Produktion der Neuköllner Oper, die im vergangenen Herbst Premiere hatte: "The Dean of Germany". Die Show erzählt das schillernde Leben von Sänger und Schauspieler Dean Reed, dem "roten Elvis". Der gebürtige Amerikaner war einst ein Star in der DDR und der Sowjetunion. Für das Experiment ist die Show in sechs Abschnitte geteilt, mit sechs verschiedenen Sängerinnen und Sängern als "Dean", die in einer siebten Wettbewerbs-Show gegen einander antreten.
Das Verworner-Krause-Kammerorchester, das mit auf der Bühne steht, arbeitet an der Schnittstelle von neuer, klassischer und Popmusik, immer auf der Suche danach, wie man die Orchestertradition des 20. Jahrhunderts erneuern kann, sagt der Gitarrist und künstlerische Leiter Claas Krause. Ein technisches Experiment ins Musizieren einzufügen, passe genau zu dieser Entdeckerfreude. Er trägt den Conductor-Suit, einen Anzug aus dünnem Stoff, in den Drähte und Textilsensoren eingenäht sind. In der Brusttasche der Anzugweste steckt ein Transponder.
Das Musikprogramm lernt den Ausdruck wie eine Tonsprache
Claas Krause: "Ich bewege mich quasi auf spezielle Arten, wir lernen Bewegungsformen, und diese Bewegungsformen werden dann transliteriert in Value-Sets und mit diesen Value-Sets können wir dann Steuersignale empfangen für Musik." Hebt der Dirigent etwa den rechten Arm oder winkelt den linken an, werden diesen Bewegung je als ein bestimmtes Signal interpretiert. Der Conductor-Suit ist selbst kein Musikinstrument, erklärt Paul Biessmann, der zum Forschungsteam des Einstein Center Digital Future gehört, eines Zusammenschlusses verschiedener Berliner Hochschulen: "Der Anzug selber sammelt nur die Daten und sendet sie weiter an meinen Computer, und dort sitzt die künstliche Intelligenz. Da wird dann verarbeitet, mit einnem Machine-Learning-Modell, damit man nicht alle Sensoren einzeln auslesen muss, sondern man kann sagen: Wenn diese Sensoren sich so verhalten, dann ist das diese gelernte Bewegung. Und das wird dann weitergeschickt an ein Musikprogramm." Das Musikprogramm setzt nicht nur mechanisch die Signale in Töne um, sondern lernt gewissermaßen den Ausdruck des Anzugträgers wie eine Tonsprache.
Kann ein über die eigenen Bewegungen gesteuerter Computer zum adäquaten Musikpartner werden – mit dem am Ende sogar das Publikum an seinem Bildschirm interagieren könnte? Dieses Forschungsfeld steht im Raum, wird aber beim ersten Lab von oper.digital noch nicht bearbeitet. Vorerst ist der Conductors Suit mit einer Software verbunden, die je nach Bewegung und Berührung Beifallgeräusche über den Lautsprecher schickt.
Clemens Seemann, Projektleiter von opera.lab sieht in den Westen ein großes Potential, wenn auch Tänzer und Musikerinnen sie tragen. Ab einem bestimmten Niveau können auch das Publikum zum Beispiel Handschuhe tragen und so bestimmte Elemente der Bühnenperformane mitbestimmen. "Das sind alles Überlegungen, die wir nicht innerhalb eines Labs abbilden können, aber ganz gezielt wollen wir an den Startpunkt gehen und sagen: Ok, es gibt diese Tools, wir haben alle schon mal von denen gehört, und wir möchten jetzt Praxisfelder dafür schaffen, dass wir anfangen können, das auszuprobieren."
Der digitale Applaus wird interessant
Ein interaktives Beifall-Device wird im ersten Lab ebenfalls erforscht. Applaus auf der einen Seite der Streaming-Plattform spenden und auf der anderen wahrnehmen können, ist auch für die Künstlerinnen und Künstler auf der digitalen Bühne etwas ganz Wichtiges. Paul Biessmann hat ein Programm geschrieben, mit dem der Zuschauer der Dean-Show sein Handy schütteln kann und je stärker die Bewegung, desto lauter der Applaus im Saal, aus dem gestreamt wird.
Dafür wird es in der Zukunft von digital übermittelter Kunst ganz sicher Möglichkeiten geben, sagt Projektleiter Seemann: "Dass Sie die Möglichkeit haben zu klatschen, zu jubeln, in ekstatischen Momenten vielleicht auch in Ihr Handy zu schreien, was dann wieder auf irgendeine Weise übertragen wird. Daran wollen wir arbeiten, an dieser Form der Rückkopplung: Wie kann die Emotion des Zuschauers zu den Musikern gelangen. Da ist dieser digitale Applaus ein Ansatz."
Mit Moderation, Live-Schalten in den Nachrichtenraum und ausgeklügelter Kameraregie holt die Produktion "The Dean of Germany" das Publikum schon sehr nah ans Geschehen heran. Ein Chat, der parallel läuft und "Throwables", also gezeichnete Herzchen, Klatschhände und Biergläser stören eher. Aber das Handy-Applaus-Device und ein Hybrid zwischen live und digital verspricht interessant zu werden. Ein weiteres relativ simpel funktionierendes Programm, das verbunden mit einem digitalen Sportgegenstand ein lustiges Gestaltungsmittel werden kann, erklärt Paul Biessmann so: "Sechs Leute werden ausgelost und dürfen bei der letzten Vorstellung dabei sein und tragen dann Fitness-Tracker, die die Herzfrequenz und die Herzvariabilität messen und schauen sich zwei Challenges an, und anhand der Fitnesstracker entscheiden wir dann, wer gewonnen hat."
Eine auswertende Lab-Konferenz gibt es zum Ende der ersten Laboratoriumsreihe von oper.digital am 4. Mai 2021. Danach folgen drei weitere Versuchsanordnungen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern. Knapp 100.000 € Fördermittel stehen für die Experimente zur Verfügung. Wie genau sie aussehen, das darf sich im Laufe des Jahres entwickeln.
Weitere Vorstellungen von "Dean of Germany" ab dem 27. April 2021 – online und kostenlos unter www.neukoellneroper.de.
Weitere Informationen über das Forschungsvorhaben und die Tools, mit denen das Projekt oper.digital experimentiert unter www.oper.digital.
Weitere Informationen über das Forschungsvorhaben und die Tools, mit denen das Projekt oper.digital experimentiert unter www.oper.digital.