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"Das Provisorium der Liebe"
Das Erbe der Familienakten

Geraubte Zeit: In "Das Provisorium der Liebe" erzählt Gabriela Adameșteanu von der gesellschaftlichen Lähmung im Rumänien der 70er-Jahre, von Fluchten in die Liebe und einem kafkaeskes Gebäude, in dem das ebenso kafkaeske "Vollständige Traktat der Sozialistischen Republik" entstehen soll.

Von Tobias Lehmkuhl |
Die rumänische Schriftstellerin Gabriela Adameşteanu und ihr Roman „Das Provisorium der Liebe“
Die rumänische Schriftstellerin Gabriela Adameşteanu und ihr Roman „Das Provisorium der Liebe“ (Foto: IMAGO / Chris Emil Janßen, Buchcover: Aufbau Verlag)
Auch den jüngsten Roman von Gabriela Adameșteanu hat Eva Ruth Wemme vorbildlich übersetzt; eben weil man niemals das Gefühl hat, es mit einer Übersetzung zu tun zu haben. Nur der deutsche Titel führt den Leser auf eine falsche Fährte, denn bei "Provisorium der Liebe" handelt es sich zwar auch, aber nicht allein oder in der Hauptsache um einen Liebesroman. Zwar geht es um die knapp dreißigjährige Letitia, ihre Ehe mit Petru Arcan und ihre langjährige Affäre mit Sorin Olaru. Zugleich aber entwirft Adameșteanu ein breites, farbiges und doch sehr subtiles Panorama vom Leben und Arbeiten im Bukarest der siebziger Jahre.
Im Rumänischen heißt das Buch schlicht "Provizorat". Das ist der offenere und im Grunde doch genauere Titel: Einerseits verweist er auf das amouröse Provisorium, in dem sich die Heldin Letitia eingerichtet hat, verweist auf eine entschieden-unentschiedene Situation in der sie zwischen ihrem Ehemann und ihrem Geliebten hin und her pendelt. Andererseits aber evoziert der Titel auch ganz allgemein jenes politisch-gesellschaftliche Provisorium, in dem sich die Figuren des Romans bewegen, einen Zustand, in dem die Entscheidungsgewalt selbst in den kleinsten Belangen allein beim Großen Genossen Nikolai Ceaușescu liegt, ein Zustand der bangen Erwartung und natürlich auch der Angst, kurz: eine Zeit der gesellschaftlichen Lähmung.

Der Geruch der Zeit

"Provizorat" bezeichnet also nicht nur einen Raum, den die Dinge vorübergehend einnehmen, es bezeichnet im Rumänischen auch ganz wörtlich eine "Zwischenzeit". Bezogen auf Adameșteanus Roman dauert diese Zwischenzeit freilich Jahre; Jahre, in denen die Figuren unablässig damit befasst sind, Zeichen zu lesen und sie auf mögliche Veränderungen hin abzuhorchen. So ist der erste Teil der fünf Abschnitte des Romans auch mit "L’Air du Temps" - französisch: der Geruch, die Anmutung der Zeit - überschrieben. Ihm vorangestellt ist ein Zitat des rumänischen Schriftstellers und Religionswissenschaftlers Mircea Eliade:
"Ich fühlte manchmal, dass das Schicksal wieder etwas Neues für mich bereithielt, etwas, was die Kurve meines Lebens noch einmal verändern würde. Dann sah ich für ein paar Augenblicke die Zeichen, wie Scheinwerfer, die plötzlich in der Dunkelheit aufblitzen und schnell wieder verschwinden, zu schnell, als dass ich ihren Sinn verstehen könnte. Ich stieg aus dem Bett und wusste, man hatte mir Zeichen gegeben – aber wie sollte ich sie entschlüsseln?"

Der gleiche Weg an jedem Tag

"L’Air du Temps" - dieser Geruch oder auch: das Klima der Zeit, es hat immer etwas Vages, Unnennbares. Die einen finden sich besser in ihm zurecht, die anderen schlechter. Petru Arcan gehört auf gewisse Weise zu letzteren. Er bemerkt nicht, dass seine Frau Letitia an ihrem Geburtstag stets ein neues Fläschchen des Parfums "L’Air du Temps" von Nina Ricci ins Badezimmerschränckchen stellen kann, das verlässliche Geschenk ihres Geliebten Sorin Olaru.
Lesern von "Der gleiche Weg an jedem Tag", Gabriela Adameșteanus Debütroman, ist diese Letitia schon vertraut. "Der gleiche Weg an jedem Tag" ist in den fünfziger und sechziger Jahren angesiedelt, Letitia lebt mit ihrer Mutter und ihrem Onkel Ion, dem Bruder der Mutter, in kargen, provinziellen Verhältnissen. Diesen möchte sie entkommen. Sie lernt den jungen Wissenschaftler Petru Arcan kennen, heiratet ihn, und gemeinsam beziehen sie eine Wohnung in Bukarest.
Man muss diese Vorgeschichte nicht kennen, sie erschließt sich durch die Lektüre von "Provisorium der Liebe" wie von selbst. Jener Onkel Ion, zum Zeitpunkt der Handlung Mitte der siebziger Jahre längst verstorben, ist Letitia doch als vollgültiger Vaterersatz in guter Erinnerung; ein sanfter, durchaus ängstlicher Mensch.

In Sippenhaft genommen

Man lernt ihn genauer im zweiten Teil der fünf Teile des Romans kennen. Er trägt den Titel "Familienakten" und führt zurück in jene wenigen Jahre der Antonescu-Diktatur, in denen sich für Millionen Rumänen entschieden hat, welche Chancen sie in den Jahrzehnten nach dem Krieg haben würden, nämlich gar keine. Anders, oder doch in ganz anderem Ausmaß als etwa in den kommunistischen Regimen Polens oder der DDR, wurden Nachkommen jener Rumänen, die im Krieg auf der falschen Seite standen, in Sippenhaft genommen.
Wessen Eltern, Onkel, Tanten oder Geschwister, ja sogar wessen Cousins mit den Faschisten sympathisierten, hatte auch als Nachgeborener wenig Aussicht, studieren zu dürfen oder im System aufzusteigen. Deswegen war die "Familienakte" von größter Bedeutung, war es von größter Bedeutung sie zu schönen, zu fälschen, so weit es geht geheim zu halten. Ein in der Regel aussichtsloses Unterfangen, denn die Securitate, der kommunistische Geheimdienst, hatte die Akten der faschistischen Vorgängerbehörde übernommen und wusste mitunter besser über die Familiengeschichte Bescheid als manche Familienmitglieder.
"’Die Generation der Befreiung! Wie findest du diesen Titel?’, schlägt Sorin ihr vor. Sie wiegt zweifelnd den Kopf, sie hat sich schließlich ihre ganze Kindheit gelangweilt, wenn sie vor dem Film die Nachrichten sah und die Stimme aus dem Off hörte: Es lebe der 23. August, der Tag der Befreiung unseres Landes vom faschistischen Joch durch die Sowjetarmee! Dann im Vordergrund das Gesicht des sowjetischen Panzerfahrers, die Frauen mit Blumensträußen am Straßenrand und Panzer mit rotem Stern auf der Piața Palatului. Und im Garten unter dem blühenden Birnbaum saß Biță, der Onkel Ion etwas über die Saufgelage der russischen Soldaten zuraunte, über Vergewaltigungen, über die Geschäfte, deren entsetzte Besitzer die Rollläden herunterließen."

Sorin Olaru ähnelt dieser Pechmarie

Auch Sorin und Letitia, die beiden Geliebten, kennen nur eine unvollständige Version ihrer jeweiligen Familiengeschichten. So wissen beide nicht, dass eine Verbindung zwischen ihren Eltern bestand, und schon gar nicht ahnt Sorin, dass seine Eltern nicht seine leiblichen Eltern sind, zumindest die Mutter nicht; der vermeintliche Adoptivvater kommt sehr wohl auch als leiblicher Vater in Frage. Die leibliche Mutter hingegen geriet ins Gefängnis, weil ihr Ehemann ein Legionär war, ein Mitglied jener faschistischen Garde, die an Brutalität den Schergen in den Gefängnissen des rumänischen Stalinismus in nichts nachstand.
"Sorin Olaru ähnelt dieser Pechmarie, die sie in einer Nacht bei der Untersuchung als Fickmatratze hatten rumgehen lassen! Auch wenn Pulică ihm rechtzeitig gesagt hätte, dass sie seine Cousine war, er war nicht überzeugt, dass es ihm gelungen wäre, sie aus Pantiuşas Klauen zu befreien! Aber als er es erfuhr, war sie schon total durchgedreht, sie sagte immer, nicht der aus den Bergen wäre der Vater des Kindes, aber egal, was man ihr antun würde, sie würde nicht sagen, wer es wäre, sie schrie herum, sie wäre eine Märtyrerin, sie war es am Ende wirklich, und sie war bekannt wie eine bunte Kuh, klar, dass man sie nicht mehr gehen lassen konnte!"

Haus der Presse als Vorbild

Von so offensichtlichen Grausamkeiten ist die Bukarester Gesellschaft, in der sich Sorin und Letitia in den siebziger Jahren bewegen, scheinbar weit entfernt. Beide arbeiten in einem nicht näher definierten "Institut", das häufig schlicht "das Gebäude" genannt wird und in dieser namhaften Namenlosigkeit an Franz Kafkas Schloss erinnert. Unklar bleibt, was das genau für ein Institut ist, worin seine Aufgabe besteht, womit Sorin und Letitia ihre Zeit verbringen.
Als Vorbild für das "Gebäude" selbst diente Gabriela Adameșteanu das monumentale "Haus der Presse" in Bukarest, denn offensichtlich haben die Mitarbeiter des Instituts in "Provisorium der Liebe" die Aufgabe, Texte zu produzieren, genauer: das sogenannte "Vollständige Traktat der Sozialistischen Republik Rumänien". Was dieses Traktat aber traktiert, bleibt nebulös. Gleichwohl hängt die Zukunft des Instituts und seiner Mitarbeiter von ihm ab; Wird es von der Partei und das heißt vor allem vom Großen Genossen durchgewunken, ist alles gut. Fällt das Traktat durch, stehen "Umstrukturierungen" an.
Wir verraten nicht zuviel, wenn wir sagen: Es wird nicht durchgewunken. Es finden Umstrukturierungen statt, und es sind vor allem die Familienakten, die bei diesen Umstrukturierungen darüber entscheiden, ob man hinausgeworfen, degradiert oder befördert wird.
Bukarest: Breite Boulevards prägen das Stadtbild Bukarests.
Die rumänische "Suche nach der verlorenen Zeit"
35 Jahre nach seiner Veröffentlichung ist der Roman "Verlorener Morgen" endlich auf Deutsch erschienen. Er gilt als wichtigstes Buch der Schriftstellerin Gabriela Adameşteanu und als rumänisches Pendant zu Marcel Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit".

Technokraten und Dichterinnen

Das alles klingt nun fast so, als hätten wir es mit einem Thesenroman zu tun. Doch das "Provisorium der Liebe" ist alles andere als eine in Romanform gepackte Abhandlung über das Leben in Ceaușescus Rumänien. Es ist alles andere als ein blutleeres Traktat. Die Geschichte, die Atmosphäre wird ganz und gar aus den Figuren heraus entwickelt. Das "Provisorium der Liebe" ist ein psychologischer und zugleich ein sehr sinnlicher Roman.
"’Weißt du, dass wir die Generation der Befreiung sind?! Eine glückliche Generation’, sagt er. Die Generation der Befreiung? Sie hat überhaupt keine Lust, über so etwas nachzudenken. Den ganzen Weg bis hierher hat sie nur gemerkt, dass Sommer ist: ein neuer Sommer mit schwerem, rauschendem Grün. Die sanfte, kühle Luft des späten Junis, flimmerndes, goldenes Licht auf dem Asphalt, die gelben, roten, weißen Tupfen der Blüten in den Büschen rings um die noch nicht abgerissenen kleinen Häuser und eine ganze Stadt, die sich mit ihr beeilt, am Handgelenk nach den Minuten schaut, den Bus besteigt, ihn sich zur Seite neigen lässt. Gesichter abseits von Körpern, sie tauchen an den Fenstern der Trams auf genau wie ihres, mit Bedauern sieht sie ihnen zu, wie sie zusammen mit ihren unbekannten Leben weitergetragen werden."
Das "Provizorat", dieses "Provisorium der Liebe", damit ist eben auch jener Rückzugsraum gemeint, den sich Sorin und Letitia schaffen. Sie, die verheiratete, politisch unambitionierte junge Frau, die Schriftstellerin sein möchte. Die schon in Zeitschriften veröffentlicht hat und ihr gelbes Schreibheft unter der Matratze versteckt, damit weder Ehemann noch Geliebter lesen, was sie über ihr Leben zu dritt schreibt.

Die Ära der Parteiaktivisten

Sorin dagegen, ein junger, ehrgeiziger Technokrat ist anfangs noch der Meinung, einer glücklichen, vom Krieg verschonten Generation anzugehören. So heißt der dritte Teil des Romans auch "Die Jahre der Technokraten". Er verhandelt eine Zeit, in der die Ideologie scheinbar zurücktritt und die Hoffnung aufkeimt, dass nicht mehr allein die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt.
"Guck mal, sagt er, wie sie mit schlafverquollenen Augen vor sich hin dämmern, wie sie apathisch auf das von Fliegen bekleckste Plakat mit dem Opernprogramm von vor sechs Monaten starren. Ihr ganzes Leben stehen sie schon um diese Zeit auf und sehen durch die gleichen schmutzigen Fenster die gleichen Häuser, an denen der Bus noch jahrzehntelang vorbeifahren wird. Er betrachtet sie mit umso mehr Geduld, weil er immer sicherer ist, dass er nicht lange einer von ihnen sein wird, er wird bald eine Lösung finden, sich anderswo einen Platz suchen, etwas Endgültiges, so wie er es auch geschafft hat, auf diesen Sitz zu kommen."
Der vierte, der vorletzte Abschnitt ist mit "Die Ära der Parteiaktivisten kehrt zurück" überschrieben und erzählt von den Machtkämpfen, von Umstrukturierungen, von der Rolle des Geheimdienstes, jener Männer, die, wie man erst jetzt erfährt, in der obersten Etage des "Gebäudes" sitzen und alle Gespräche und Telefonate mitschneiden.
Dass in einem solchen Klima, einem solchen "L’Air du Temps" ein jeder zu einem Meister der Klandestinität wird, liegt nahe. Sorin und Letitia auf jeden Fall gelingt es, ihre Beziehung über Jahre hinweg geheim zu halten. Niemand ahnt davon, kein Mensch ist eingeweiht. Nur Florinel, ein Freund Sorins, weiß, dass Sorin seine Wohnung für geheime Stelldicheins nutzt.

Erzählpartikel im Fluss

Diese Wohnung funktioniert wie ein Raum außerhalb der Zeit, ein weltentrücktes Raumschiff. Einmal pro Woche, für wenige Stunden, ist dieser Raum der nicht nur körperlichen Liebe vorbehalten, wenn auch Sorin, wie es heißt, die Hälfte der Zeit mit politischen Reden verschwendet. Aus ganzem Herzen Karrierist, kann er nicht anders, als die politische Lage im und außerhalb des Instituts mit Letitia zu besprechen, oder besser doch: vor ihr auszubreiten und ihr immer wieder vorzuwerfen, wie desinteressiert und ahnungslos sie ist.
Dabei ist Sorin alles andere als ein Machtmensch, eher jemand, der den geschmeidigsten Weg des Überlebens sucht, vor allem nachdem er einsehen muss, dass das System jegliche Veränderung verhindert
"Und die Tage sind leer, bis sie sich wiedersehen. Selbst wenn sie im selben Raum sind, spürt sie die unsichtbare Trennlinie, die sein Lachen, seine Worte von ihr fernhalten. Sie sieht seine wachsamen Bewegungen, es beleidigt sie, auch wenn sie versteht. Sie verabscheut seine Feigheit, aber sie ist abhängig von seinen Gesten, die auch ihre mitbestimmen. Das Adrenalin explodiert im plötzlich verrücktspielenden Blut und der Bildschirm ihres Verstandes flackert, gestört von einer einzigen Angst, wissen sie etwas, sehen sie etwas, sieht man es?"
Als Bezugspunkt für Gabriela Adameșteanus Schreiben wird immer wieder das Werk Marcel Prousts genannt. Über "Die Suche nach der verlorenen Zeit" hat sie 1965 ihre Abschlussarbeit an der Universität geschrieben, und auf gewisse Weise kann man ihr gesamtes Werk als eine Suche nach der verlorenen Zeit begreifen, einer Zeit die nicht nur vergangen, sondern auf gewisse Weise auch verschwendet ist, die geraubt wurde von einer Ideologie und einem System, dass der Gesellschaft alle Energie entzog, ohne ihr etwas zurückzugeben. Insofern ist Adameșteanus Suche nach der verlorenen Zeit auch eine Suche nach den Spuren, die sie dennoch hinterlassen hat, eine Suche vielleicht auch danach, was an Menschlichem, an Gutem, trotz allem vorhanden gewesen sein mag.

Sodom und Gomorra

Erzählerisch aber verfährt sie ganz anders als Proust, nicht in Form eines kaskadenartigen Erinnerungsstroms, sondern in kleinen, häufig nur eine Seite langen Sequenzen, kleinen Szenen, Gesprächen, Bildern von inneren Landschaften. Sequenzen, die nur einer ungefähren Chronologie folgen und zuweilen undatierten Tagebucheinträgen ähneln. Tatsächlich scheut sich Adameșteanu nicht, eine längere Passage aus Letitias Tagebuch einzufügen, und an einer Stelle sogar, als Reverenz an ihr eigenes Debüt, von der allwissenden in die Ich-Erzählperspektive zu wechseln.
Durch diese sich zu einem Fluss fügenden Erzählpartikel, durch seine sprachliche Souveränität, wirkt der Roman sehr beweglich und lebendig und genauso wie Prousts "Suche" - nur eben auf ganz andere Weise - in sich geschlossen. Die Brutalität der Kriegszeit, die Monotonie der Nachkriegszeit, die Leere jener Gegenwart ohne Zukunft, die sie so meisterlich einfängt, wird aufgefangen und abgefedert durch die aus der Zeit gefallen Liebesstunden im geliehenen Nest.
So ist es, könnte man sagen, am Ende also die Liebe, die der Geschichte Gestalt und Form verleiht. Aber es umfasst das "Provisorium der Liebe" eben noch einen fünften und letzten Teil, und gerade ihm ist ein Zitat aus Prousts Roman vorangestellt, bezeichnenderweise aus "Sodom und Gomorra".

Die Sintflut der Wirklichkeit

"Ich war zu einer schrecklichen Terra Incognita gelangt, zu neuen und ungeahnten Qualen. Und doch hatte ich die Sintflut der Wirklichkeit, die mich jetzt verschlang, riesig im Vergleich zu meinen nichtigen und schüchternen Zweifeln, dank ihrer vorausgeahnt. Nur die fehlende Vorstellungskraft schützt uns vor der vollkommenen Qual. Und die schreckliche Wirklichkeit bringt uns zugleich mit dem Leid auch wahre Freude, wenn wir auf klare und neue Weise all das entdecken, was wir so lange Zeit im Geiste wälzten."
Die Sintflut der Wirklichkeit, die Marcel mit sich reisst, scheint auf den ersten Blick nichts mit der unscheinbaren, wenngleich beharrlichen Tröpfchenfolter des rumänischen Stalinismus zu tun zu haben. Aber auch Letitia hat vorausgeahnt, was im fünften Teil über sie hereinbricht. Sie hat sogar alles daran gesetzt, dieses Ereignis zu vermeiden, das schlimmste, was sie sich vorstellen kann. Nicht davor, ihren Job zu verlieren oder mit ihrer Affäre aufzufliegen, graut ihr, sondern davor schwanger zu werden.
Stets zählt sie ihre Tage, lässt Sorin kommunistisch-raue Kondome benutzen, setzt, wenn es selbst die nicht gibt, auf Coitus interruptus. Denn wenn sie eines nicht will, dann in diese Welt ein Kind zu setzen, einem Kind ihre Biographie mit auf den Weg zu geben, jene Biographie, die ihr Mann Petru ihr immer wieder vorhält, ist er doch überzeugt, dass ihm aufgrund der Familienakte seiner Frau das Doktorat an der Universität verweigert wird.
Dann aber wird sie doch schwanger, und mit dieser Schwangerschaft scheint sich auch alles weitere aufzulösen und die große Leere der Gegenwart offenbar zu werden.

Unter der Matratze versteckt

Schwer zu sagen, warum Gabriela Adameșteanus Prosa trotz allem jede Düsternis abgeht, jene Düsternis, die etwa die Werke ihres großen Bukarester Kollegen Mircea Cătărescu durchzieht. Es scheint auf jeden Fall in ihrer Hauptfigur, die sicher auch Züge der Autorin trägt, eine gewisse Immunität gegen die Macht zu stecken, eine Widerständigkeit, die ihre Heimstatt, ihren Rückzugsort im Schreiben, im gelben Heft unter der Matratze findet.
"Bis dahin hat sie alle Zeit der Welt, in das Heft zu schreiben, das sie unter der Matratze versteckt. Er kommt immer lieb und zärtlich zu mir, manchmal hat er einen Strauß Schneeglöckchen dabei, ein andermal holt er ein kleines Geschenk aus seiner Aktentasche: eine Lux-Seife, für die er sich verlegen entschuldigt, ein Päckchen Kent, ein gerade erschienenes Buch. Und die Flasche, deren Etikett immer variiert, anfangs waren es Campari, Martini oder Cinzano, seit das nicht mehr zu kriegen ist, kommt er mit albanischem Wein oder rumänischem Wacholderschnaps. Aber vor allem bringt er das Versprechen unendlicher Zärtlichkeit und grenzenloser Geduld mit."
Wenigstens im Schreiben, so kann man schließen, liegt ein Versprechen, in den ungeborenen Romanen eine mögliche Zukunft. Von langem erzählerischem Atem, formaler Virtuosität und sprachlicher Nuanciertheit getragen, erfüllt "Das Provisorium der Liebe" dieses Versprechen.
Gabriela Adameșteanu: "Das Provisorium der Liebe"
aus dem Rumänischen von Eva Ruth Wemme
Aufbau Verlag, Berlin. 480 Seiten, 26 Euro.