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Das Pulverfass der Türkei

Ehrenmorde, immer wieder PKK-Anschläge in türkischen Urlaubsorten, Armut und Rückständigkeit in Südostanatolien: Der Kurden-Konflikt in der Türkei ist seit langem Quelle für innenpolitische Unruhen. Doch rund um die kurdische Metropole Diyarbakir sind Veränderungen spürbar - zuhause bei den Familien, in den Kaffeehäusern und Schulen.

Von Gunnar Köhne | 15.09.2007
    Ein stürmischer Frühling, ein bewegter Sommer, jetzt ein Herbst voller Erwartungen: Nach den politischen Unwettern der letzten Monate sehnt sich die Türkei nach einem Neuanfang. Die turbulenten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sind gelaufen, Zeit also, die liegen gebliebenen Aufgaben abzuarbeiten: Die EU-Reformen, die neue Verfassung, und ganz oben auf der To-do-Liste: Die Kurdenfrage. Seine erste Dienstreise im neuen Amt hat Präsident Abdullah Gül diese Woche nach Kurdistan unternommen, auch dies ein Signal. Die größte Minderheit der Türkei ist im tiefen Südosten Anatoliens zuhause - eine ländliche, teils karge Landschaft, gezeichnet vom Bürgerkrieg zwischen PKK und türkischer Armee.

    Kaum irgendwo sind die Narben so sichtbar wie in der einzigen Metropole Diyarbakir, gut 300 Kilometer entfernt von der irakischen Grenze. Schmutz, billige Fassaden, heruntergekommene Viertel, dazwischen nur vereinzelt ein schicker Hotelbau oder Einkaufs-Center. Diyarbakir braucht Geld und Arbeit, darauf warten sie hier. Ihr Wohnzimmer, das ist die Teestube im Vorbau der großen Moschee Ulu Djami. Auf niedrigen Hockern sitzen Männer jeden Alters, mal zu viert, zu zweit, oder allein. Ein Wink genügt, dann kommt der nächste Tee im schlanken Glas. Dunkelbraun, mit drei Stück Zucker auf der Unterschale. Warten und Tee trinken, das ist der Status Quo:

    Reportage 1 Abwarten und Tee trinken: Eine Teehaus-Collage aus Diyarbakir,

    "Ich komme jeden Freitag nach dem Mittagsgebet hierher ins Teehaus. Wir sitzen zusammen und unterhalten uns. Hier kann man entspannen, man trifft Gleichgesinnte. Heute haben wir nach dem Gebet über den Ramadan gesprochen, der vor der Tür steht. Wie bereiten wir uns auf dieses große Fest vor? "Während des Ramadan sitzen wir jeden Tag ein-zwei Stunden hier im Teehaus, danach gehen wir aber wieder zurück zu unserer Arbeit."

    "Nur ein bis zwei Stunden sitzen wir, sagst Du? Ich verbringe hier mindestens 3-4 Stunden! Heute bin ich um 11 gekommen und bleibe bis heute abend. Ich stehe jeden morgen um 4 Uhr auf, für das Morgengebet. Danach gehe ich zum Viehmarkt, ich bin Viehhändler. Um die Mittagszeit komme ich dann hierher, viele meiner Kunden treffe ich dann ebenfalls hier. Gezahlt wird dann bei einem Glas Tee, das ist entspannter.

    Die in der Westtürkei haben vergessen, dass das Fleisch auf ihrem Teller aus unserer Region kommt! Auch Marmor und Öl! Die sind mit unserer Arbeit und unseren Rohstoffen reich geworden!
    Wir reden hier manchmal über die Zukunft der Türkei. Wenn wir der EU beitreten, wird unsere Zukunft glänzend sein. Uns wird die EU nützen, aber die Europäer brauchen uns auch. Irgendwann wollen die Europäer uns dabei haben, aber wir wollen dann vielleicht nicht mehr."

    "Wir verkaufen am Tag zwischen 1000 und 1200 Gläser Tee. Im Winter ist es hier noch voller. Da finden sie hier keinen freien Hocker mehr!"

    "Ich habe bis zur Rente in einem Krankenhaus gearbeitet und habe mir bei den Ärzten dort das Blutdruckmessen abgeschaut. Hinterher wollte ich als Rentner nicht herumsitzen, sondern was Nützliches tun und mir ein paar Cent dazuverdienen. Darum komme ich mit diesem Blutdruckmesser in die Teehäuser und biete meine Dienste an. Einmal Blutdruckmessen kostet 50 Kurusch, umgerechnet 30 Cent.

    In dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, gab es keine Schule. Lesen und Schreiben habe ich später während des Militärdienstes gelernt. Meine Bildung und mein Wissen habe ich mir durch Beobachten und Nachmachen erworben."

    "Ich habe gerade meine Münzen beim Teeverkäufer gegen Scheine eingetauscht. Die brauchen ja ständig Wechselgeld. Ich bin blind und habe die Münzen nach dem Gebet vor der Moschee geschenkt bekommen. 15 Lira sind es heute geworden, Allah vergelt's. Ich mag das Betteln nicht, aber ich bekomme vom Staat nur 400 Lira Invalidenrente, das sind etwa 220 Euro, - alle drei Monate! Kann man davon leben? "

    Zwei Männer, zwei Kämpfer, zwei Gegner: Der eine ein Kurde, der andere ein Türke. Mit scheinbarer Nüchternheit schildert der Schriftsteller Ahmet Ümit in seiner Kurzgeschichte "Der Spielkamerad" die Begegnung der beiden, erzählt aus der Perspektive des türkischen Armee-Hauptmanns. Er und der PKK-Kämpfer jagen einander in den anatolischen Bergen, im Südosten der Türkei. Mit jedem Hinterhalt und jedem getöteten Kameraden wächst der Hass auf beiden Seiten, aber auch die Neugier. Wie ähnlich sich die Gegner sind, bemerken sie erst, als es zu spät ist:

    Um mit den Terroristen fertig zu werden, musste ich so werden wie sie. Im Normalfall agierten sie aus dem Verborgenen heraus und verfolgten uns so lange, bis wir an einer günstigen Stelle quasi zum Abschuss freigegeben wurden. Dann warfen wir uns zu Boden, suchten verzweifelt zu entkommen, gaben aber in unserer Hilflosigkeit ein hervorragendes Ziel ab. Nun waren die Rollen vertauscht. Mit unseren Nachtsichtgeräten konnten wir sie sogar im Dunkeln beobachten. Sie bemerkten uns nicht, wogegen wir von den Felsen, hinter denen wir uns verschanzt hatten, jede ihrer Bewegungen genauestens verfolgen konnten. Das verschaffte uns ein Überlegenheitsgefühl, das kaum zu beschreiben ist.

    Da summte eines Tages mein Funkgerät, das auf die Frequenz des Hauptquartiers eingestellt war.
    Ich drückte auf die Antworttaste, ohne mir etwas Besonderes zu denken, und vernahm plötzlich eine mir unbekannte Stimme. "Tag, Hauptmann", sagte ein Mann in einwandfreiem Istanbuler Türkisch. "Hier spricht Cemşid, der Kommandant der Schmied-Kawa-Gruppe."
    Was soll ich lügen, ich war schockiert, fasste mich aber schnell. "Na Cemşid, willst Du Dich etwa ergeben?"

    Mit einem unangenehm selbstsicheren Lachen antwortete er: "Nein, nein, dies hier ist nur ein Willkommensgruß für Dich. Schließlich treibst Du Dich ja hier in unseren Bergen herum."
    "Diese Berge sind Teil unseres Vaterlandes. Und wenn Du Dich als Kind dieses Landes begreifst, dann solltest Du Dich ergeben."

    "Du weißt genau, dass ich mich nicht ergebe. Und was diese Berge angeht, die gehören zu unserem Vaterland und nicht zu eurem. Du solltest also gut auf Dich acht geben."


    Der Weg der Türkei in die Europäische Union führt über Diyarbakir - da sind sich die EU-Kommission und die Kurden einig - der Südosten bleibt politisch gesehen ein Pulverfass. Ergo wird die Türkei der Europäischen Union in zwölf bis 15 Jahren nur dann beitreten dürfen, wenn sie den Kurden sämtliche Bürger- und Minderheiten-Rechte zugesteht. Genau an diesem Punkt setzt der türkische Premier Erdogan jetzt an, gestärkt durch seinen überwältigenden Wahlsieg von 47 Prozent: Erdogans ehrgeizigstes Projekt ist die geplante neue Verfassung. Erstmals in der Geschichte der modernen Türkei wird sie nicht vom Militär, sondern vom Parlament erarbeitet werden. Das ist die eine hoffnungsvolle Nachricht für die Kurden, die andere liegt im Inhalt selbst. Die Garantie der Grund- und Menschenrechte für alle Bürger der Türkei soll Kernstück der neuen Verfassung werden. Geplant ist zudem die Festschreibung von Kurdisch-Unterricht an öffentlichen Schulen. Noch aber sieht der Alltag im Südosten anders aus: Nach wie vor gibt es Polizeigewalt und Justizwillkür, und Kurdisch darf bislang nur an privaten Sprachschulen unterrichtet werden, die sich aber kaum ein Kurde leisten kann. Die mangelnde Bildung gehört neben der Armut zu den größten Problemen in Diyarbakir und Umgebung. Reporter berichten immer wieder, dass vor allem Jugendliche frustriert und aggressiv sind.

    Viele Lehrer schreckt das ab, und doch kann sich kaum einer wehren, wenn er direkt nach dem Staatsexamen mit gerade mal Anfang 20 aufs anatolische Land versetzt wird. Immerhin: Für eine Station im hintersten Winkel Kurdistans vergibt das Bildungsministerium Bonuspunkte, wohl wissend, dass die jungen Lehrer als türkische Staatsbedienstete in einem kurdischen Klassenzimmer wirken wie ein rotes Tuch. So sitzt der Praxis-Schock bei vielen Lehrern tief:

    Reportage 2 Die junge Lehrerin

    Ein Kasten, klobig und grau in den Staub gesetzt. Über dem Eingang prangt der Name: Eine Grundschule, vor 8 Jahren gebaut und, wie fast alle Schulen in Diyarbakir, nach einem im Kampf gegen die PKK gefallenen Märtyrer benannt, in diesem Fall ein Polizist. Auf dem Schulhof lungern ein paar halbstarke Jugendliche zwischen weggeworfenen Limonadenflaschen herum. Das rostige Eingangstor ist ausgehängt, es steht offen. Doch Elvan Kirca will nicht hinein gehen. Ängstlich blickt die junge Frau über die Mauer. Kirca, die aus Angst vor ihres Arbeitgeber ihren richtigen Namen nicht im Radio hören möchte, tat an diesem kalten Ort zwei Jahre Dienst als Lehrerin:

    ""Hier habe ich wirklich eine schreckliche Zeit durchlebt. Das zieht immer noch wie ein Film an meinen Augen vorbei. Ein Alptraum. Sehen Sie dort, die haben längst kapituliert: Jetzt haben sie vor die Fenster Gitter geschraubt, damit die nicht mehr eingeworfen werden können."

    Ein Junge, 14 Jahre alt, kommt auf Kirca zu. Er hat seine frühere Lehrerin wieder erkannt. Schüchtern stellt er sich neben sie:

    "Die werfen die Scheiben nur aus Langeweile ein. Die Jungs hier sind sehr aggressiv, hier gibt's viele Prügeleien. Aber ich bin nicht so. Ich will später Doktor werden, und lese viel. Wir sind 11 Kinder zuhause. Mein Vater arbeitet nicht, aber vier von meinen älteren Brüdern."

    Als sich immer mehr Jugendliche der Lehrerin nähern, steigt sie ins Auto und fährt davon.

    Ein Vollmond hängt hell über der Stadt, der Abend hat eine kühlende spätsommerliche Brise hinauf zu Elvan Kircas Balkon geschickt. Sie serviert gegrillten Fisch und Raki, im Wohnzimmer läuft stumm der Fernseher. Entspannt schaut die 27jährige hinaus über die Dächer Diyarbakirs. In wenigen Tagen wird sie an einer neuen Schule in der Innenstadt anfangen. Es soll diesmal ein gutes Schuljahr werden - und nie wieder so wie in den vergangenen zwei Jahren:

    "Ich habe mein Staatsexamen in Ankara gemacht, dort bin ich auch aufgewachsen. Obwohl mich alle gewarnt haben, habe ich mich danach freiwillig für einen Dienst in der Südosttürkei gemeldet. Das muss man mal gesehen haben in seinem Leben, dachte ich. In der Westtürkei kennt doch kaum jemand diese Region. Es existieren bloß Vorurteile. Meine Mutter hat geweint und mir geraten warme Sachen mitzunehmen, weil es dort doch keine Heizungen gäbe. Das müssen Sie sich mal vorstellen!

    Na ja, jedenfalls wurde ich in Diyarbakir, also in einer Großstadt, eingeteilt. Frauen werden meistens nicht mehr in die abgelegenen Dörfer geschickt. Die Schule, zu der sie mich brachten, war in jeder Hinsicht ein Schock: das Gebäude in einem miserablen Zustand, die Schülerschaft verroht. Kein Wunder, denn das waren fast alles Kinder aus Familien, die vor dem Bürgerkrieg in die Stadt geflohen waren. Hier leben sie am Stadtrand unter primitivsten Bedingungen. Die Kinder hatten in den Dörfern viel Gewalt gesehen und waren entsprechend gestört. Die meisten haben mein Türkisch kaum verstanden, drei waren unter ihnen, die überhaupt kein Türkisch konnten und denen ich Englisch beibringen sollte! Die Kinder haben uns gehasst, wir gehörten für sie zur falschen Seite, eine Art Besatzung. sie haben uns bedroht, haben uns Steine nachgeworfen."

    Elvan Kirca ist 27 Jahre alt. Ihre kurzen Haare hat sie dunkelblond getönt, dazu ein enges T-Shirt und lackierte Fingernägel. Sie stochert im Salat auf ihrem Teller herum -und in ihren Erinnerungen:

    "Da fällt mir wieder ein wie ich mich bei einem Vater über das unverschämte und brutale Verhalten seines Sohnes beschwert hatte. Da antwortete der: Wissen Sie was, Frau Lehrerin, mich hat der auch neulich zur Weißglut getrieben. Da habe ich das Gewehr genommen, aber ich habe ihn nur am Bein erwischt. Ich dachte, ich höre nicht richtig: Der erzählte mir, wie er versucht hatte seinen eigenen Sohn umzubringen! Wie soll ich da erwarten, dass die Kinder mich respektieren?"

    Kurdistan ist der wilde Osten der Türkei. Millionen Menschen gefangen im Teufelskreis aus Armut, Unterdrückung, Gewalt und archaischen Traditionen. Und Elvan Kirca, die zierliche Lehrerin, mittendrin.

    "Die Schüler haben alle Abdullah Öcalan, den Anführer der PKK, verehrt. Mir haben sie gedroht, wenn ich nicht der Kurdenpartei DTP meine Stimme gebe. Zur Politik habe ich mich besser nie geäußert. Jetzt habe ich aber verstanden, dass es in diesem Land ein Kurdenproblem gibt. Ich wünschte, alle Türken, vor allem die Politiker, würden dass einsehen und für die Menschen hier ein wenig mehr investieren. Vor allem in die Bildung. Aber das sage ich vielleicht auch nur, weil ich Lehrerin bin."

    "Du solltest also gut auf Dich acht geben."

    "Ich wollte Dir gerade den gleichen Rat geben", erwiderte ich spöttisch. "Für Leute, die im Sold von Syrien oder dem Irak stehen, haben diese Berge nämlich nichts übrig. Sei also vielmehr Du vorsichtig." Er nahm diese Spitze gelassen hin. "Nun gut, Du musst es wissen", antwortete er ruhig. "Aber gewarnt habe ich Dich." "Einen Augenblick noch", sagte ich, da ich dachte, er würde gleich auflegen. "So gut, wie Du türkisch sprichst, bist Du doch kein Kurde." "Ich bin schon Kurde, ich kann nur kein Kurdisch. Ich bin eben von der Türkischen Republik assimiliert worden. Genauso wie Du."

    Wieder war es ihm gelungen, mich zu verblüffen. "Red keinen Unsinn", versetzte ich nervös, "ich bin nicht kurdischstämmig." "Ist Dein Vater etwa nicht in Van geboren, Hauptmann Eşref? Du bist genau wie ich ein assimilierter Kurde." "Mein Vater ist zwar in Van geboren, aber wir sind keine Kurden. Mein Großvater war Offizier, und während er in Van stationiert war, ist mein Vater dort auf die Welt gekommen. Du bist also einer Falschinformation aufgesessen", sagte ich und schaltete das Funkgerät ab.

    Es begann aber in mir ein Zweifel zu nagen.


    Das tiefe Misstrauen der Kurden gegen die Obrigkeit hat Jahrhunderte alte Wurzeln. Schon im Osmanischen Reich zwischen dem 13. und dem frühen 20. Jahrhundert war das Verhältnis zwischen den Kurden und der Hohen Pforte in Istanbul angespannt. 1920 gestand der Vertrag von Sèvres den Kurden erstmals das Recht auf einen eigenen Staat zu, nur trat dieser Vertrag nie in Kraft. Dafür wurde 1923 die Republik Türkei gegründet - ein Fanal für die nach Autonomie strebenden Kurden. Von nun an begann die Politik der "Türkisierung", getreu der Sichtweise Atatürks, wonach nur Einheit und nicht Vielfalt den Staat zusammenhält. Nach dem türkischen Militärputsch 1980 nahm die Politik der Unterdrückung in dem Maße zu, wie die Radikalisierung der Kurden wuchs. Schließlich der Bürgerkrieg. 4000 kurdische Dörfer hat die türkische Armee in den 90er Jahren zerstört. 24 Jahre lang galt in den Kurdengebieten in Südostanatolien der Ausnahmezustand.

    Frieden ist bis heute nicht eingekehrt. Einen zwischenzeitlichen Waffenstillstand brach die PKK und ließ mitteilen, das kurdische Problem sei nicht allein eins der Türken, sondern auch ein Problem der EU. Das Timing war Teil der Strategie, denn nur wenige Wochen später begannen im Herbst 2005 die Beitrittsgespräche mit der Europäischen Union. Seitdem ist kaum eine Woche vergangen ohne neue Gewalt. Erst seit den Wahlen in diesem Sommer haben die Gefechte nachgelassen.

    Viele Kurden setzen jetzt Hoffnung in die nationalistische Kurdenpartei DTP, die im neuen Parlament in Ankara so stark vertreten ist wie noch nie. "Wir wollen keinen eigenen Staat", versichern ihre Abgeordneten. Aber in den Kurdengebieten selbst gibt es viele sehnsüchtige Blicke in Richtung Nordirak, wo die irakischen Kurden leben. Eine wirtschaftlich florierende Region, die von Bagdad weitgehend unabhängig ist ...


    Reportage 3 Der Marmor-Unternehmer

    Es lärmt und ganz besonders staubt es in Irfan Türks Fabrik. Eigentlich kein Ort für ein blütenweißes Oberhemd, wie es der 36jährige trägt, während er lässig durch die Halle schlendert. Zu beiden Seiten des Ganges werden kantige Felsbrocken zu daumendicken Marmorplatten gesägt und gefräst. Türk ist stolz auf seine Marmor-Fabrik; sie liegt vor den Toren Diyarbakirs am Ende eines Areals, das den Namen "Industriegebiet" trägt. Dabei ist nur in dieser Halle Leben. Ringsherum Brachland, wo eigentlich irgendetwas produziert werden sollte. Betonskelette, eingeworfene Bürofenster, Feldweg statt Asphaltzufahrt. Irfan Türk dagegen ist gut im Geschäft, er liefert seinen Marmor bis nach Deutschland und Japan. Er zeigt auf eine Gruppe Arbeiter in Blaumännern, die eifrig rechteckige rosafarbene Oberflächen polieren:

    "Diesen Stein finden sie nur in dieser Region. Der ist wegen seiner Oberfläche, in der Muscheln sichtbar werden, besonders begehrt. Den bauen nur wir und zwei andere Firmen ab. Die Steine gehen weg wie warme Semmeln."

    Entspannt empfängt Irfan Türk einen Besucher in seinem Büro zu einem Plausch, nur ab und zu wirft er einen Blick auf den Überwachungsmonitor neben seinem Schreibtisch: Marmor ist teuer, da soll nichts unerlaubt vom Hof gefahren werden.

    Türk lässt sich lieber mit seinem Vornamen Irfan anreden. Nachnamen gibt es in der Türkei erst seit gut 70 Jahren, als Staatsgründer Atatürk jeden Türken zwang, sich einen zuzulegen. Nicht jeder durfte sich einen Wunschnamen aussuchen, sondern erhielt ihn von böswilligen Beamten zugeteilt. Deshalb heißen viele Kurden ausgerechnet Türk, Öztürk oder Asiltürk - Türke, echter Türke, reiner Türke.

    Irfan Türk ist stolz darauf, Kurde zu sein. Und er erzählt seinen Besuchern gerne davon welches Glücksgefühl es für ihn war, das erste Mal in ein Land zu kommen, dass sich "Kurdistan" nennt:

    "Als ich das erste Mal die Grenze in den Nord-Irak überquerte, habe ich gleich ein Foto machen lassen von mir neben der kurdischen Fahne. Das musste ich hinterher verstecken, ein Freund hat wegen eines solchen Fotos an der Grenze schon Ärger bekommen.
    Für mich als Kurde war es natürlich ein schönes Erlebnis dorthin zu kommen, überall wurde man herzlich empfangen, die eigene Muttersprache ist dort Amtssprache. Und die haben doch eigentlich alles, was man für einen Staat braucht: Getreide, Obst und Gemüse im Überfluss, Öl, ein gutes Bildungssystem und ein Parlament.

    Ich sehe wie sich diese Region von Jahr zu Jahr weiter entwickelt. Je schwieriger die Lage für uns kurdische Unternehmer in der Türkei ist, desto mehr schauen wir auf die Möglichkeiten jenseits der Grenze, ist doch klar."

    Kurdische Nationalisten nennen den Nord-Irak "Süd-Kurdistan" und träumen von einem vereinigten Großkurdistan. Irfan Türk schnippt seine Zigarette an dem Aschenbecher vor ihm ab. Zu viel Reden über Politik ist ihm merklich unangenehm. Er spricht lieber von den Geschäften, die dort zu machen sind. Der Nord-Irak ist eine Region im Aufbruch, dank ausländischer Investoren: Sie bauen hier Flughäfen, Universitäten, Krankenhäuser und Strassen. In den kurdischen Südosten der Türkei verirrt sich dagegen kaum ein Investor, hier ist das Armenhaus der Türkei. Türkische Nationalisten sehen ungern, wenn Kurden aus ihrem Land "rüber machen" um dort zu studieren oder beim Wiederaufbau zu helfen. Vielleicht stößt Irfan Türk deshalb neuerdings auf so viele Hindernisse. Mit einer heftigen Bewegung drückt er seine Zigarette aus:

    "Wir schicken jede Woche 15 Container rüber, aber das wird uns von den türkischen Behörden immer schwerer gemacht. Der Grenzübergang könnte eigentlich 5000 LKW am Tag abfertigen, aber tatsächlich werden höchstens 100 durchgelassen, an manchen Tagen gar keiner. Da warten sie schon mal 10 Stunden in ihrem LKW auf Abfertigung. Dabei landen auch aus der Westtürkei jede Menge Waren im Nord-Irak: In Erbil sind die Läden voll von türkischen Produkten!"

    Auf dem Hof balancieren Gabelstapler Paletten auf bereitstehende LKW-Ladeflächen - Marmorplatten von Unternehmer Türk für seine kurdischen Brüder jenseits der Grenze. Und nächsten Monat fährt er selbst wieder hin, um zu schauen, ob man dort nicht eine zweite Niederlassung gründen könnte. Die hätte dann die ersehnte Postanschrift: Kurdistan.

    Als ich wieder am Berg Cudi war, gelang es mir, Cemşid über Funk zu erreichen. "Ah, Hauptmann Eşref!", rief er in dem gleichen spöttischen Tonfall wie beim ersten Mal, als er meine Stimme vernahm. "Bravo, Mehmet", sagte ich, "Du hast mich also erkannt." Einen Augenblick lang stockte er. "Na, und du scheinst mich ja auch zu kennen", erwiderte er dann, ohne sich seine Überraschung weiter anmerken zu lassen. "Richtig kennen nenne ich das aber nicht. Ich würde dich lieber mal von Angesicht zu Angesicht sehen." "Nur Geduld, Hauptmann", sagte er maliziös, "das wird sich schon noch ergeben. Aber hoffentlich tut es Dir dann nicht leid."

    Die türkischen Nationalisten sind geschwächt, seit sie bei der Parlaments- und Präsidentenwahl gegen die Religiösen um Ministerpräsident Tayyip Erdogan unterlegen sind. Ihm und seiner gemäßigt religiösen AKP bringen die Kurden im Südosten so viel Vertrauen entgegen, dass die AKP bei den Wahlen im Juli mehr Stimmen aus den Kurdengebieten erhielt als die Kurdenpartei DTP selbst. Erdogan hat sich nun revanchiert und den 40-jährigen Mehmet Simsek in seinem neuen Kabinett zum Staatsminister für Wirtschaft ernannt. Simsek ist Investmentbanker, und Kurde. Doch trotz aller Hoffnung auf einen neuen Dialog - die Hardliner schweigen nicht: Der Kurdenpartei DTP droht im Parlament von Ankara nur wenige Wochen nach der Wahl die Spaltung in eine Fraktion aus Falken und Tauben.

    Fernab von Ankara unterhält die PKK unterdessen weiter ihre Ausbildungs- und Versorgungslager im Nordirak, wohl wissend, dass der angedrohte Einmarsch der türkischen Armee in den Nord-Irak seit den Parlamentswahlen vom Tisch ist.

    So schwört die PKK weiterhin Treue auf ihren inhaftierten Anführer Öcalan. Sie pflegt ein enges Netzwerk, kümmert sich um die Familien der getöteten Männer und auch um jene ehemaligen Kämpfer, die zu hunderten in überfüllten, türkischen Gefängnissen sitzen. Das Netzwerk verschafft ihnen nach der Entlassung Brot und Arbeit. So kommt den ehemaligen Kämpfern kein schlechtes Wort zur PKK über die Lippen:


    Reportage 4 Der Ex-PKK-Kämpfer

    Die Volksmusik-Gruppe des Kulturzentrums "Tigris" in Diyarbakir hat ihre wöchentliche Probestunde. Hoch konzentriert schlagen die jungen Männer und Frauen ihre Akkorde auf dem langhalsigen Saiteninstrument Saz und folgen den stummen Taktvorgaben des Dirigenten, der vor ihnen in dem völlig kahlen Raum steht. Vor den Stuhlreihen mit den Musikern steht eine Tafel, auf der die Noten des Refrains niedergeschrieben stehen. Es ist ein altes Lied über den harten Dorfalltag einer Frau. Und es ist ein Lied auf Kurdisch.
    Caféatmo

    Auch ein Stockwerk tiefer, in der Teestube des Kulturzentrums, wird kurdisch gesprochen. In einer Ecke stehen kurdische Musik-CDs und kurdischsprachige Bücher und Zeitschriften zum Verkauf. Auf einigen Titeln ist Abdullah Öcalan zu sehen, der gefangene Vorsitzende der kurdischen Arbeiterpartei PKK. An einer Wand hängt ein Schwarz-Weiß-Poster von Picassos berühmtem Anti-Kriegsbild "Guernica".

    Ahmet, der seinen wahren Namen nicht nennen will, kennt die Wahrheit des Krieges gut. Der Mitarbeiter des Kulturzentrums bittet an einen Tisch in der hintersten Ecke des Raumes, vom Eingang aus wegen einer breit gemauerten Säule nicht einsehbar:

    "Ich bin im Alter von sieben Jahren von meinen Eltern getrennt worden und in ein staatliches Internat gekommen. Das war damals sehr viel weiter verbreitet als heute - eine Politik des Staates, um Kurdenkinder zu Türken zu erziehen.

    Acht Jahre blieb ich auf der Schule und bin mir dort erst über meine kurdische Identität bewusst geworden. Damals, Ende der 70er Jahre war die Atmosphäre ja sehr politisiert. Damals entstanden auch die ersten politischen Kurdenbewegungen. Als ich mit der Universität fertig war, Mitte der achtziger Jahre, begannen die bewaffneten Auseinandersetzungen in Kurdistan.

    Ich schloss mich dann der Guerilla, also der PKK, an. Das war für mich etwas ganz Neues: Man war mit Gleichgesinnten zusammen, man fühlte sich frei, man war sein eigener Herr. Natürlich war es auch gefährlich. Aber wir haben unseren Rückzug in die Berge als Selbstverteidigung gesehen. Damals, Anfang der neunziger Jahre, gab es hier Gebiete, die vollständig unter unserer Kontrolle standen und in die sich das türkische Militär nicht hineintraute. Erst als die Gruppe begann, sich nach Süd-Kurdistan, also in den Nord-Irak zurückzuziehen, konnte die Armee vorrücken."

    An Ahmets linker Hand, die neben dem Teeglas auf der Tischplatte ruht, fehlt der Zeigefinger. Zuviel will er über den PKK-Alltag nicht Preis geben. Kein Wort über die Strukturen der Truppe oder über die Anschläge gegen Armee und staatliche Einrichtungen - der Staatsanwalt könnte mithören. Neun Jahre saß der heute 40jährige wegen PKK-Mitgliedschaft im Gefängnis, erst vor zwei Jahren kam er frei:

    "Im Knast hörte die Gewalt nicht auf. Der Staat versuchte uns unsere Überzeugungen mit Folter auszutreiben. Mitte der neunziger Jahre wurden 11 meiner Mitgefangenen vor meinen Augen zu Tode geprügelt. Aus meiner Generation sitzen viele noch im Knast oder sind gefallen. Heute hat eine neue, junge Generation dort das Kommando übernommen.

    Aber seit dem Bürgerkrieg in den neunziger Jahren hat sich hier doch viel geändert. Und die kurdische Bewegung hat auch ihre Strategie geändert. Sie hat anerkannt, dass der bewaffnete Kampf kein Mittel zur Politik sein sollte. Die heutige PKK kämpft nur noch zur Selbstverteidigung

    Politisch hat sich auch einiges gebessert. Anfangs wurde das Kulturzentrum öfters von der Polizei durchsucht. Das hat aufgehört, heute kann man kann in Diyarbakir kurdischsprachige Musik und Literatur in gewissen Grenzen verbreiten. Das hat was mit der EU-Annäherung der Türkei zu tun. Es gibt also ganz gute neue Gesetze. Nur werden die leider nicht immer umgesetzt."

    Er bereue nichts, trotz allem, sagt der kurdische Ex-Terrorist beim Abschied lächelnd. Dann geht er hinauf zum Volksmusik-Chor. Demnächst steht eine öffentliche Aufführung bevor, dafür muss noch viel getan werden. Ein Konzert mit kurdischen Liedern mitten in Diyarbakir - für dieses Recht war Ahmet vor 15 Jahren in den bewaffneten Kampf gezogen.

    "Hast Du sie umgebracht, du Schwein?" zischte ich. "Ja", antwortete Cemşid im natürlichsten Tonfall der Welt. "Genauso, wie Du letzte Nacht 16 von meinen Leuten umgebracht hast. Aber lassen wir das jetzt. Mich interessiert vielmehr, wie Du Dich jetzt gerade fühlst."

    Da erst wurde mir bewusst, dass ich eigentlich hätte Angst haben müssen. Eigenartigerweise war das nicht der Fall, Zwischen Cemşid und mir hatte sich eine Art Konkurrenz entwickelt, ein Wettkampf. Der Krieg war für uns eine persönliche Auseinandersetzung geworden. "Du hast Recht, Hauptmann", sagte Cemşid. "Wir spielen eben: ‘Das ist mein Berg.' Nur ist dieses Spiel hier etwas blutiger und grausamer ... "

    "Ich spiele überhaupt nicht", widersprach ich, "ich versuche vielmehr, solchen entmenschten Staats- und Volksfeinden wie Dir das Handwerk zu legen." "Aber Hauptmann", sagte er enttäuscht, "jemand, der so interessant ist wie du, sollte nicht so abgedroschenes Zeug von sich geben." Seltsam, dass er mich ‘interessant' fand. Ich merkte erst jetzt, dass er irgendwie Achtung vor mir hatte. Und ich musste mir eingestehen, dass auch ich für ihn ähnlich empfand.

    Noch bevor ich aus dem Lazarett entlassen wurde, kam Cemşid am Cudi-Berg mit sechs seiner Leute durch Beschuss aus einem Kobra-Hubschrauber ums Leben. Als ich von seinem Tod erfuhr, erfüllte mich eine große Leere. Ich hatte immer noch seinen Satz in den Ohren: "Und wir spielen eben: ‘Das ist mein Berg.' Nur ist das Spiel hier blutiger und grausamer."

    Ich hatte meinen Spielkameraden verloren. Und er hatte mich damals nicht umgebracht, um seinen Spielkameraden nicht zu verlieren.


    Sie besitzen eine eigene Sprache und Kultur, und ein Land namens Kurdistan, aber einen eigenen Staat hat das kurdische Volk niemals gründen dürfen. Ihre Heimat ist durchkreuzt von den Staatsgrenzen der anderen: Kurdistan liegt an der Schnittstelle zwischen Türkei, Irak, Iran und Syrien. Wer nicht nach Istanbul oder Deutschland abgewandert, sondern im Südosten der Türkei geblieben ist, der führt ein einfaches Leben. Ackerbau und Viehhaltung sind weiter die wichtigste Grundlage der Existenz. Klans und Großfamilien halten die Gesellschaft zusammen. Jahrhunderte alte Traditionen haben sich auf diese Weise erhalten, auch Gewalt und brutale Rituale.

    Auge um Auge, Zahn um Zahn - viele nehmen das hier noch wörtlich. Es ist diese Rückständigkeit, die den größten Skeptikern in der Europäischen Union die Argumente liefert. Nicht zuletzt wegen des Kurdenkonflikts wird der Türkei-Beitritt die Gretchenfrage der EU bleiben. In den letzten Jahren hat es zaghafte Versuche gegeben, Bildung, Fortschritt und ein wenig Moderne im Südosten zu verankern: Schulstipendien für Mädchen oder Geld für Frauenhäuser. Doch Kurdistan bleibt eine Männergesellschaft. Wer angeblich die Ehre verletzt, muss mit dem Schlimmsten rechnen:


    Reportage 5 Friedensstifter

    Der Friedensrat von Diyarbakir tagt. Im Vorraum eines Teehauses irgendwo in den schiefen Gassen der Kurdenmetropole geht es wieder einmal um verletzte Ehre, um Rache und um vergossenes Blut - und darum, wie weiteres Blutvergießen verhindert werden kann. Am Kopf des langen Resopaltisches thront Sait Schanli, auch "Friedenstifter von Diyarbakir" genannt, und führt das Wort. Der 65jährige erinnert die sechs Mitglieder seines Schlichtungsrates - darunter ein Imam, ein Lehrer und ein Rechtsanwalt - an ihre Verantwortung für eine friedliebende Gesellschaft. Mord und Totschlag aus gekränktem Stolz gehörten nicht ins 21. Jahrhundert. Der hagere Rentner reißt Augenbrauen und Zeigefinger in die Höhe:

    "Ohne Frieden findet eine Gesellschaft keine Ruhe, ohne Frieden gibt es keine Sicherheit und keine funktionierende Wirtschaft. Darum lasst uns dafür sorgen, dass niemand mehr umgebracht wird, dass Streitigkeiten friedlich gelöst werden und keine Mutter mehr um ihren Sohn zu trauern braucht. Es geht doch um unsere Kinder!"

    Vor sich hat Schanli einen abgegriffenen Schnellhefter mit Eingaben an den Schlichtungsrat gelegt: Auf ungelenk handbeschriebenen Papierbögen bitten junge Frauen auf der Flucht vor ihren Brüdern oder Ehemännern um Hilfe; Bauern fragen an, ob Schanli im blutigen Streit um eine Viehherde vermitteln kann. Aus dem ganzen Land kommen die Eingaben an Schanlis Schlichtungsrat, manche sogar aus dem fernen Deutschland. Schanli ist für viele Menschen im Kurdengebiet die letzte Hoffnung. Über 500 Blutfehden konnte Sanli schlichten - in seiner Kladde sind die gelösten Fälle säuberlich abgehakt. Während die Anwesenden ehrfurchtsvoll den Ausführungen ihres Vorsitzenden lauschen, betritt ein großer, kräftiger Mann Mitte 50 leise den Raum und setzt sich stumm in eine Ecke. Seine kräftigen Schultern fallen zusammen, sein trauriger Blick saugt sich an dem nackten Betonfußboden fest. Als Schanli die Sitzung unterbricht, beginnt der Besucher zu erzählen:

    "Mein jüngerer Bruder wurde auf dem Weg von der Arbeit bei einer Zigarettenpause von zwei etwa Gleichaltrigen provoziert: Was sitzt du hier herum, fragten sie ihn. Er antwortete, das gehe sie nichts an. Da zog einer der beiden eine Waffe und schoss ihm in den Kopf. Freunde von uns benachrichtigten Sait Bey, der kam zu uns nach Hause, küsste meiner Mutter die Hand und weinte sogar und sagte, es sollten nicht noch mehr Söhne ihr Leben lassen. Wir haben dann der anderen Seite bei einem Treffen vergeben, auch wenn's schwer fiel. Ich bin gekommen um Dank zu sagen. Wenn Sait Bey nicht dazwischen gegangen wäre, hätten wir Rache genommen und der Streit wäre vielleicht noch Jahre weiter gegangen."

    Schanli verspricht, dem Verzweifelten und seiner Familie weiter mit Rat beizustehen. Dann dreht er sich zu seinen Mitstreitern und erinnert sie daran, unter welchen Bedingungen sie in solchen Fällen zur Vermittlung bereit sein sollten:

    "Mörder müssen sich der Justiz stellen und dürfen nicht geschützt werden. Außerdem verlangen wir von der Familie des Täters, dass sie die Hinterbliebenen des Getöteten unterstützen. Sie muss vor allem für die Kinder aufkommen und ihre Schulbildung bezahlen."

    Sait Schanli sitzt im Fond seines Mittelklassewagens und lässt sich zu einem Außentermin fahren. Für seine Metzgerei in Diyarbakir hat Sanli kaum noch Zeit. Vor einiger Zeit hat er seinem Sohn das Geschäft übergeben - der Rentner kümmert sich seitdem unermüdlich und unentgeltlich um den Kampf gegen die Vendetta. Die Strähnen seines spärlichen Haupthaares spielen im Fahrtwind. Stumm schaut Schanli hinaus auf die vorbeiziehenden leuchtend gelben Weizenfelder, eine Brücke führt über den träge dahinfließenden Tigris. Hier ist kurdisches Kernland, hier sind Sippentraditionen wie die Blutrache noch immer lebendig. Das weiß Sait Sanli aus eigener, bitterer Erfahrung:

    "Als ich 13 Jahre alt war, mussten wir aus unserem Dorf fliehen, weil wir mit einer anderen Familie in einem blutigen Streit lagen. Auslöser war eine Kuh, die auf der falschen Weide graste! Es war eine harte Zeit. Aber ich schaffte die Schulausbildung und schwor mir etwas gegen diesen Wahnsinn zu unternehmen."

    Ankunft im Dorf Kocaköy, ein 300 Einwohner-Nest inmitten von Tabakfeldern. Die Honoratioren des Dorfes - Dorfälteste und Imam - haben sich erwartungsvoll in der Mitte eines staubigen Platzes aufgestellt. Mit Küssen auf beide Wangen wird der Schlichter begrüßt. Schanli wird gebraucht: Denn das scheinbar so friedliche Dorfleben ist von einem blutigen Nachbarschaftsstreit erschüttert.

    Ein junger Mann erklärt sich bereit uns zu dem Feldweg zu bringen, auf dem alles wenige Wochen zuvor seinen Anfang genommen hatte. Er zeigt auf eine Bruchsteinmauer:

    "Der Nachbar, der hier wohnt, hatte die Steine für die Mauer mitten auf den Weg gekippt. Mein Onkel hat sich darüber geärgert, weil er mit dem Traktor nicht vorbei kam. Es kam zum Streit, dann zu einer Prügelei und schließlich wurde mein Onkel mit einem Stein niedergeschlagen. So hat alles angefangen. Wir konnten uns das als Familie nicht bieten lassen und haben dann das Haus des Täters beschossen. Die haben zurückgeschossen.""

    Sait Schanli, den viele in der Region "unseren Friedensnobelpreiskandidaten" nennen, hatte in einem ersten Not-Einsatz bereits einen Waffenstillstand ausgehandelt. Jetzt hockt er in einem Halbrund aus bunten Kissen mit den wichtigsten Männern des Dorfes zusammen, um beide Seiten zu einem endgültigen Friedensschluss zu bewegen. Es gibt Limonade, Tee und schwere Zigaretten. Schanli hat sich neben die Ältesten der beiden Familien gesetzt und tätschelt von Zeit zu Zeit die Knie der alten Männer, die in weiten Pluderhosen stecken. Die beiden Kontrahenten zeigen sich, an ihren Gebetskettchen drehend, einsichtig:

    "Wir sind doch seit Jahren Nachbarn! Als ich von dem Streit hörte, saß ich im Teehaus und hab sofort versucht, unsere Jugendlichen auseinanderzubringen. Aber erst als Sait Sanli kam, gingen beide Seiten auf einander zu."

    "Ja, wenn Sait nicht gekommen wäre, wäre es übel ausgegangen. Er genießt bei uns allen Respekt und kann solche Feuer wirklich löschen."

    "Na ja, ich allein kann da auch nichts ausrichten. In diesem Fall haben alle an einem Strang gezogen: Die Dorfältesten, der Imam, die Polizei und nicht zuletzt die Familienoberhäupter. Ganz allein hätte ich das auch nicht beenden können."

    Steht jetzt auf und begrabt die Angelegenheit endgültig, sagt Schanli. Die Ältesten der beiden verfeindeten Familien erheben sich daraufhin und geben sich lächelnd den Bruderkuss. Dann bittet der Imam die Anwesenden zu einem gemeinsamen Gebet. Manchmal werden die Streithähne auch aufgefordert zum Friedensschwur unter einem hochgehaltenen Koran hindurchzulaufen.

    Draußen vor der Tür des unverputzten Hauses wartet einer der Jugendlichen, die in die blutige Fehde verstrickt waren. Skeptisch blinzelt er in die Abendsonne, die Arme vor dem Oberkörper verschränkt. Ob er nach dieser Einigung sein Verhalten grundsätzlich überdenken wird? Nein, die Ehre bleibt ihm das allerwichtigste:

    "Wenn jemand meine Mutter oder Schwester beleidigt, dann nehme ich, was ich kriegen kann, eine Pistole oder ein Messer, und töte ihn. Das muss so sein."

    Als Sait Schanli das hört, geht er auf den zwei Köpfe größeren Mann zu und nimmt ihn in den Arm:

    "Junge, sag dem anderen doch einfach: du kannst mich oder meine Familie nicht beleidigen. Steh doch darüber! Hier hast Du einen Kuss, mach bloß keine Dummheiten!"

    Dann verabschiedet sich Metzgermeister Sait Schanli von dem verlegen dreinblickenden Jugendlichen und von Kocaköy. Der nächste Einsatz ruft. Es gibt noch viel zu tun für den Friedensstifter von Diyarbakir.

    Das Pulverfass der Türkei: Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag, mit einer Reise durch das fremde Kurdistan. Gunnar Köhne war unser Reporter. Musik und Regie: Babette Michel. Die Literatur wurde gelesen von Axel Gottschick. Wir entnahmen sie dem Erzählband Von Istanbul nach Hakkâri uns bedanken uns beim Unionsverlag für die Unterstützung. Redakteurin am Mikrofon war Barbara Schmidt-Mattern.