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Das Rätsel des kleinen Unterschieds

Physik. – Auf fast der untersten Stufe allen Seins liegt die Welt der Atome und ihrer Kernteilchen, den Neutronen und Protonen. Diese beiden Grundbausteine der Materie unterscheiden sich nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in einem weiteren Detail, das Physikern bis heute Rätsel aufgibt. Denn ein Neutron, so ergaben Messungen, ist um 0,1 Prozent schwerer als ein Proton. US-Forscher stellten jetzt auf der Frühjahrstagung der Amerikanischen Physikalischen Gesellschaft in Philadelphia brandneue Messdaten vor, die möglicherweise eine Antwort auf das Phänomen liefern.

    Die Carrerabahn der Physiker, so könnte man meinen, ist der Linearbeschleuniger. In ihm bringen die Wissenschaftler gerne und oft Atomkerne in Kreisbahnen auf größtmögliche Geschwindigkeit, um sie dann sprichwörtlich vor die Wand zu fahren. Denn wie so mancher Unfallwagen zerbersten auch diese winzigen Teilchen und erzeugen jene exotischen Phänomene, auf die es die Forscher abgesehen haben. Sie liefern wesentliche Details über die niedrigste Ebene der physikalischen Welt. So verschmelzen kollidierte Kerne beispielsweise zu größeren Gebilden, um dann wieder in kleinere Bröckchen zu zerplatzen. Auch Ed Stephenson von der Universität von Indiana in Bloomington gehört zu der Riege der passionierten Atom-Crashtester. Der Kernphysiker erzeugte in seinem Beschleuniger gleich einen ganzen Strahl aus Deuteriumkernen: "Dieser so genannte schwere Wasserstoff besteht aus einem Proton und einem Neutron. Den Deuteriumstrahl schossen wir dann auf eine ebenfalls aus Deuterium bestehende Zielscheibe." Dabei wurde Stephenson Zeuge eines extrem seltenen Prozesses. Zwei Deuteriumkerne verschmolzen zu Helium und gaben dabei eine so genanntes Pion ab. Dieses Partikel gilt als einer der Träger der Kernkraft, die Protonen und Neutronen im Atom zusammenhält.

    Während einer zwei Monate langen, rund um die Uhr durchgeführten Messkampagne konnten Stephenson und seinen Leute gerade wenige Dutzend mal dieses seltene Schauspiel beobachten. "Diese Reaktion kann überhaupt nur stattfinden, weil es den Effekt der so genannten Verletzung der Ladungssymmetrie gibt", so der Physiker. Unter der Ladungssymmetrie verstehen die Forscher den Umstand, dass sich Neutronen und Protonen in den meisten Kernreaktionen absolut identisch verhalten. Allerdings ist das nicht immer der Fall und es wird die Ladungssymmetrie verletzt – Neutron und Proton verhalten sich dann bei einer Kollision nicht genau gleich. Dazu Ed Stephenson: "Anhand unserer Messdaten können wir nun abschätzen, wie stark diese Verletzung ist." Als nächsten Schritt will Stephenson jetzt klären, welche Ursachen hinter der Symmetrieverletzung stecken. Eine erste Spur hat er dazu schon: "Jedes Kernteilchen besteht selbst wiederum aus drei kleineren Partikeln, den Quarks. Das Proton setzt sich aus zwei up-Quarks und einem down-Quark zusammen, während das Neutron hingegen aus einem up- und zwei down-Quarks besteht. Eigentlich sollten diese up- und down-Quarks eine Ladungssymmetrie zeigen. Doch auch das haut nicht so ganz hin."

    Genau in diesem kleinen Unterschied bei den Quarks vermuten Physiker den Auslöser der Asymmetrie bei den Kernteilchen. Zwar ist dieser Zusammenhang noch hypothetisch, doch die neuen Messdaten könnten die Vermutung jetzt untermauern und nebenbei auch ein anderes altes Rätsel der Kernphysik lösen: warum nämlich ein Neutron um ein Tausendstel schwerer als ein Proton ist. Dieser winzige Unterschied besitzt indes eine enorme Tragweite, denn verhielte es sich umgekehrt, dann gäbe es im Universum keinen stabilen Wasserstoff und in der Folge auch keine Sterne, Planeten und Menschen. "Langfristig werden wir versuchen, auch diese Frage zu beantworten. Durch unser Experiment haben wir nun die dafür notwendigen Messergebnisse. Jetzt müssen noch die theoretischen Berechnungen fertiggestellt werden, die uns sagen, ob unsere Messdaten tatsächlich die kleine Massendifferenz zwischen Proton und Neutron erklären", konstatiert Ed Stephenson.

    [Quelle: Frank Grotelüschen]