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Das rätselhafte Selbst

Es gibt kein Selbst, so die Theorie des Mainzer Philosophen Thomas Metzinger; vom Gegenteil ist der Neurowissenschaftler und Philosoph Georg Northoff überzeugt: Zwei populärwissenschaftliche Bücher beschäftigen sich mit dem Selbstbild und der Frage nach dem eigenen Ich.

Von Martin Hubert |
    Neurophilosophen kritisieren an den traditionellen Philosophen gerne, dass sie nur spekulativ arbeiten und die Ergebnisse der empirischen Wissenschaften vernachlässigen. Das bringt ihnen umgekehrt den Vorwurf ein, sich zum Sklaven der Naturwissenschaften zu machen: Sie würden zum Beispiel das Ich auf die bloße Aktivität von Gehirnzellen reduzieren. Anhand zweier Neuerscheinungen lässt sich besichtigen, inwieweit das richtig ist.

    Das erste, im Berlin Verlag erschienene Buch des Mainzer Philosophen Thomas Metzinger heißt "Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik". Es ist eine allgemeinverständliche Zusammenfassung der provokativen Theorie Metzingers, die in der Behauptung gipfelt: "Das Selbst" oder "das Ich" gibt es eigentlich gar nicht, sondern nur ein sogenanntes "Selbstmodell", das permanent vom Gehirn produziert wird. Das Gehirn erzeuge zum Beispiel ständig ein inneres Bild davon, was der Körper gerade tut: Wo befinden sich die Körperglieder, wie funktionieren die Organe? Darauf bauen dann weitere Modelle auf.

    "Dazu gehört auch ein Bild der eigenen Interessen. Bei uns Menschen wird so etwas in Form von Emotionen dargestellt, also das, was wir Gefühle nennen, sind Repräsentationen unserer Ziele und unserer Interessenlage. Ein Selbstmodell enthält auch Abbildungen der eigenen kognitiven Prozesse, das heißt, der eigenen Versuche, im Geiste Probleme zu lösen, Probleme zu formulieren, neue Probleme zu entdecken. Wenn all die integriert sind, wenn die zu einer höherstufigen Struktur verbunden werden vom Gehirn, dann entsteht so etwas wie ein Modell des Systems selbst."

    Für Metzinger geht dieses Modell von der Innenwelt des Organismus eine besondere Beziehung zum Modell der äußeren Wirklichkeit ein, das ebenfalls vom Gehirn erzeugt wird.

    "Wenn dieses Modell eingebettet wird in ein schon aktives Wirklichkeitsmodell, dann verfügt so ein System ein erstes Mal über eine Ich-Welt-Grenze und über das, was ich ein 'zentriertes Wirklichkeitsmodell' nenne. Das heißt, die Welt wird erlebt um einen Mittelpunkt herum - und dieser Mittelpunkt bin ich selbst."

    Das Selbstmodell fasst also als Produkt des Gehirns die körperlichen und geistigen Zustände des Organismus, seine Schmerzen, Bewegungen, Wünsche und Gedanken zusammen und grenzt sie von der Außenwelt ab. Wobei nach Metzinger eine folgenreiche Fehleinschätzung stattfindet:

    "Wir erkennen das komplexe Selbstmodell, das unser Gehirn permanent konstruiert, von Millisekunde zu Millisekunde sozusagen, nicht mehr als ein Modell. Und dadurch entsteht die Situation, dass aus einem Selbstmodell ein Selbst wird, aus einem Abbildungsvorgang ein echtes Selbsterleben, das unhintergehbar ist; bei dem wir das Gefühl haben, wir sind sozusagen uns selbst unendlich nahe und in direktem Kontakt mit uns selbst."

    Die Vorstellung vom einheitlichen Ich kommt demnach für Metzinger nur zustande, weil wir verkennen, dass die Inhalte des Ichs nur ein Modell unserer inneren Vorgänge sind. Es sind nur Interpretationen der Zustände des Organismus, die viel zu schnell ablaufen, als dass wir merken, dass sie ständig neu vom Gehirn produziert werden.

    Also glauben wir, eine eigene geistige Substanz "das Ich" zu sein - und das ist eine Illusion. Eigentlich leben wir nur in einem neuronal konstruierten "Ego-Tunnel", innerhalb dessen wir immer nur selektiv wahrnehmen, was dem eigenen Organismus gerade wichtig ist. Metzinger kann tatsächlich zeigen, dass viele Merkmale des Ich als permanent erzeugte Hirnkonstruktionen verstanden werden können: etwa das Gefühl, im Jetzt zu leben, eine subjektive Perspektive auf die Welt zu besitzen, ein ganzheitliches Bild unserer selbst zu haben, ein handelndes Subjekt zu sein oder zu wissen, dass es auch andere Wesen gibt, die mit einem solchen Ich-Gefühl durch die Welt gehen.

    Spannend ist sein Buch vor allem, wenn es nachzeichnet, wie das Selbstgefühl im Körperbild wurzelt. Allerdings fürchtet Metzinger auch, dass ein solchermaßen naturalisiertes Bild vom Ich den Menschen völlig entzaubert.

    "Wir sind Darwin-Maschinen, die auf diesem Planeten entstanden sind."

    Metzinger sieht den Menschen als Produkt einer ziellos vor sich hinwerkelnden Evolution, die eben den Ego-Tunnel aufrechterhält, weil Menschen damit besser überleben können. Je besser aber die Neurowissenschaften die Konstruktionsmechanismen dieses Ich-Erlebens erkennen, desto stärker wird es sich durch Medikamente und Drogen beeinflussen oder künstlich nachbauen lassen. Daher müssten die Menschen nach Metzinger neu darüber nachdenken, in welcher Weise das Ich konstruiert werden soll.

    "Die Frage ist: Gibt es eine Möglichkeit, eine Kultur aufzubauen, eine Bewusstseinskultur, die bestimmte Erlebnisformen favorisiert und dann sagt: Nun gut, wir müssen den Tatsachen ins Auge schauen. Unser Bild vom Menschen war in wesentlichen Zügen falsch, aber wir haben jetzt dieses neue harte naturwissenschaftliche Wissen, und das werden wir jetzt einfach dafür einsetzen, die Bewusstseinszustände verstärkt Menschen zur Verfügung zu stellen, die wir eben für wertvoll erachten."

    Es ist sicher verdienstvoll, wenn Metzinger eine ethische Debatte über die neue Manipulierbarkeit von ich-bezogenen Erlebens einfordert. Sein Bild vom Ich als einer Illusion überzeugt aber nur unter einer Voraussetzung: Man muss akzeptieren, dass nur die physikalisch beschreibbare Welt sinnvollerweise als "real" bezeichnet werden kann, nicht aber komplexe psychische Zustände wie das Gefühl, ein Ich zu sein. Manchmal scheint Metzinger selbst davon nicht mehr so ganz überzeugt zu sein; etwa wenn er schreibt, dass "das bewusste Selbst weder eine Form von Wissen noch eine Illusion ist. Es ist einfach das, was es ist." Den in Ottawa lehrenden deutschen Neurowissenschaftler, Psychiater und Philosophen Georg Northoff erstaunen solche Sätze nicht.

    "Die Leute, die behaupten, dass das Selbst eine Illusion ist, setzen voraus das Selbst als Entität."

    Also als eine eigenständig existierende, dinghafte Größe.

    "Und wenn sie diese Voraussetzung machen und sagen, okay, wir gucken im Gehirn nach, dann finden sie keine Entität. Und dann sagen sie, ja, das Selbst ist eine Illusion. Das heißt, die Annahme, das Selbst ist eine Illusion, bezieht sich auf das Selbst als Entität und nicht auf das Selbst in einem relationalen Sinne."

    Georg Northoffs Ausweg aus dem Ich-Dilemma heißt daher: Man solle das Ich nicht als etwas Dinghaftes verstehen, sondern als eine flexible Relation, als eine bestimmte Art und Weise, wie sich der Mensch auf seine Umwelt bezieht. In seinem im Münchner Irisiana Verlag erschienenen Buch "Die Fahndung nach dem Ich. Eine neurophilosophische Kriminalgeschichte" stellt er seine Theorie auch für Laien verständlich dar. Er lässt einen Kommissar und eine Kriminalpsychologin nach einem geheimnisvollen "Ich" fahnden, das ironischerweise einem Professor für Neurowissenschaften nachstellt; wobei Georg Northoffs eigene neuronale Fahndung nach dem Ich so aussieht.

    "Wir haben eine Metaanalyse durchgeführt, wo wir alle Studien zur Selbstbezogenheit analysiert haben, und haben dabei herausgefunden, dass ein bestimmtes Netzwerk von Regionen im Gehirn besonders aktiv ist bei der Codierung der verschiedenen Grade der Selbstbezüglichkeit. Alkoholiker haben zum Beispiel einen höheren Selbstbezug auf die Alkoholflasche projiziert als gesunde Probanden."

    Die Areale dieses Netzwerks, das sich in der Mitte des Gehirns entlang zieht, dienen ganz unterschiedlichen Zwecken: Sie repräsentieren Gedanken, Gefühle, Gesichter, Personen oder Gegenstände. Ihre Repräsentationen sind manchmal bewusst, ab und zu bewegen sie sich aber auch an der Grenze zum Unterbewussten. Es eint sie jedoch eine ganz bestimmte Funktion: Sie erzeugen ein Ich-Format:

    "Alle Stimuli, sowohl die körpereigenen als auch die von der Umwelt, werden in bestimmten Sinne formatiert und die werden formatiert in Hinsicht auf die Bedeutung für den Organismus. Und dadurch, dass die Zentrierung in Hinsicht auf den eigenen Organismus gerichtet ist, kommt notwendigerweise ein subjektives Element mit ins Spiel - und damit dann auch das subjektive Erleben."

    Das Ich ist keine dinghafte Entität, sondern das Format, mit dem sich Menschen auf die Welt beziehen und ihr eine individuelle Bedeutung verleihen. In kollektivistisch orientierten Kulturen sind selbstbezogene Hirnareale nachweislich auch aktiv, wenn jemand zum Beispiel an seine Mutter denkt: Die Ich-Beziehung ist also ein flexibles und sozial prägbares Format; wobei für Georg Northoff nicht entscheidend ist, dass dieses selbstbezogene Erleben von Hirnstrukturen erzeugt wird. Denn völlig unabhängig davon sei das Ich-Erleben für den Menschen unhintergehbar und lebenswichtig, also keine Fiktion. Das zeigt sich zum Beispiel bei Depressiven. Northoff hat in eigenen Studien gezeigt, dass bei ihnen die Balance der Selbstbeziehung im Gehirn gestört ist. Das Selbst kann bei ihnen keine Beziehungen mehr eingehen, sondern es kreist nur noch um die negativen Gefühle des isolierten Selbst: um die Symptome der Angst, Traurigkeit und Lähmung, die den Körper überschwemmen.

    "Die ganze Aufmerksamkeit richtet sich nur noch auf den eigenen Körper und nicht mehr auf die Umwelt, und daher haben sie dann auch diese körperlichen Symptome, die möglicherweise durch diese verstärkte Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper zustande kommt: also Schmerzsymptome oder Herzdruck oder die starke Schlaflosigkeit."

    Georg Northoffs Buch macht deutlich, dass der Blick aufs Gehirn eben auch Theorien ermöglicht, die das Ich keineswegs als Illusion verstehen. Es ist einfach die Art und Weise, wie der Mensch die Wirklichkeit subjektiv erlebt. Ist diese ich-hafte Beziehung zur Welt gestört, dann leidet er. Allerdings verneint Georg Northoff jede Möglichkeit, das Ich mithilfe der Hirnforschung jemals vollständig erkennen zu können. Diese sei so sehr von Methoden und Konzepten abhängig, dass sie niemals in der Lage sei, zu einem harten Faktum namens Ich vorzudringen. Man könne nur die vielfältigen Spuren verfolgen, in denen sich das Ich in seinen Beziehungen zeigt. Northoff weist daher jede Anpassung der Philosophie an die Neurowissenschaft zurück und plädiert für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit beider Disziplinen, für eine Art "Friedensvertrag". Insofern belegt sein Buch nachdrücklich, dass Neurophilosophen keineswegs nur Sklaven der Naturwissenschaften sind.

    Thomas Metzinger: Der Egotunnel
    Eine neue Philosophie des Selbst
    Von der Hirnforschung zur Bewusstseinseinsethik

    Berlin Verlag 2009

    Georg Northoff: Die Fahndung nach dem Ich
    Eine neurophilosophische Kriminalgeschichte

    Irisiana Verlag München 2009