Archiv


Das Religionsverständnis von Rudolf Bultmann

Rudolf Bultmann (1884 -1976) hatte sich in den 20er-Jahren der Bewegung der dialektischen Theologie angeschlossen, hat aber später in seiner Theologie einen eigenen Weg eingeschlagen. Seit den 1940er-Jahren trat er dafür ein, dass das mythologische Weltbild der biblischen Schriften nicht einfach in die moderne Zeit übertragen werden kann. Mit seinem Programm der Entmythologisierung wollte er, ebenso wie sein Zeitgenosse Tillich, die christlichen Lehre für die Menschen des 20. Jahrhunderts verständlich machen.

Matthias Kroeger im Gespräch mit Rüdiger Achenbach |
    Achenbach: Kommen wir zu einem Theologen, einem Zeitgenossen: Rudolf Bultmann. Er kommt aus der liberalen Theologie und schließt sich der neuen Wort-Gottes-Theologie, der sogenannten dialektischen Theologie an. Für Bultmann bedeutet das an dieser Stelle, der christliche Glaube beruht auf keinem religiösen A-Priori. Das ist eine Abgrenzung. Für Bultmann heißt es, der christliche Glaube ich kein Phänomen der Religionsgeschichte, sondern er betont die Exklusivität der Offenbarung in Jesus Christus. Was könnte man als das besondere Vermächtnis Bultmanns aus heutiger Sicht bezeichnen?

    Kroeger: Das besondere Vermächtnis ist, dass Bultmann mit diesen Sätzen, die er mit seinen dialektisch-theologischen Freunden teilte, nicht alleine stehen geblieben ist, sondern sie verbunden hat mit dem Gedanken, dass jeder religiöse Begriff existenzielle Inhalte hat, die man erwecken muss aus seiner historischen Vergangenheit. Alles, was an religiösen Begriffen, ob Reich Gottes oder Sünde oder Heil oder Christus oder was, alle diese Begriffe, in denen ist eine religiöse und existenzielle Dimension des Menschseins abgelagert. Jeder enthält einen Teil unseres Menschseins.

    Achenbach: Das heißt also, der anthropologische Aspekt, der innerhalb der dialektischen Theologie ausgeklammert wurde, den nimmt Bultmann wieder hinein.

    Kroeger: Richtig. Bultmann lässt sich auf die Alternative letztlich nicht ein. Er sieht völlig ein – wie der frühe Tillich ja auch: Der Religionsbegriff muss überwunden werden, sagt er. Er stehe zu den Männern des Wortes Gottes. Aber gleichzeitig, so wie sie es machen, geht es nicht. Genau das macht Bultmann auch. Er sagt, das Reich Gottes und die Verkündigung Jesu sind eine ganz eigene Dimension, aber alles, was dort geschehen ist, ist menschheitsfähig. Alles hat existentiale Interpretationen als Möglichkeit. Und jeder religiöse Begriff muss in dieser Hinsicht entwickelt werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel, wo es besonders auffällig ist. Ich werde oft gefragt bei Veranstaltungen: Muss man bei der Auferstehung Jesu glauben, dass ein toter Mensch auferstanden ist? Die historische Dimension dieser Antwort ist klar. Die lautet: Ja. Es gibt in der Menschheitsgeschichte eine Ausnahme. Das Menschenunmögliche ist hier geschehen. Ein Mensch, Jesus von Nazareth ist von Gott aus dem Tode auferweckt worden. Bultmanns Antwort lautet: Wer will, kann so glauben. Aber die Entmythologisierung, so nennt er nämlich diesen Gedankengang, oder die Existenzialisierung sagt, wir müssen begreifen, dass uns damit gesagt wird, es gibt ein Leben, das in jedem Tode bestand hat. Wenn wir sterben, sterben wir nicht in das Nichts und in den Tod hinein, sondern es gibt ein Leben oder eine Hand, die uns mitten im Sterben trägt. Auferstehung heißt, es gibt ein Leben, das stärker ist als der Tod. Erst wenn wir das klar gemacht haben, dann haben wir die existenzielle Dimension von Auferstehung begriffen. Wir verlangen von niemand ein Credo des Unmöglichen, sondern das Wunder des Lebens und des Gehalten- und Getragen-Seins mitten im Tod, das ist die existenziale Interpretation der Auferstehung. Und so, sagt Bultmann, müssen wir jeden Begriff nachfolgen. Dasselbe übrigens wie Tillich an dieser Stelle. Er sagte, jedes als einen Begriff nehmen. Auferstehung ist ein Symbol für das Leben mitten im Sterben. Das wäre die tillichsche Formulierung. Die bultmannsche ist existenzial interpretiert.

    Achenbach: Das Verständnis der Eschatologie bedeutet für Bultmann ja kein Weltuntergang, kein Weltuntergangsdrama, sondern ist existenzial interpretiert etwas ganz anderes.

    Kroeger: Nämlich, dass das Leben, das wir haben, und die Welt, die wir sind, ein unkalkulierbare und nicht definierbare Zukunft haben. Wir leben aus einer Zukunft, die uns geschenkt und ermöglicht ist, aber die wir noch nicht kennen und noch nicht haben. Übrigens dasselbe, was Bultmann im Blick auf Mythen des Neuen und Alten Testaments vorgeschlagen hat, nämlich Entmythologisierung heißt existenzial interpretieren. Dasselbe hat – und das ist eine ganz wichtige Ergänzung, Erweiterung – sein naher Freund Friedrich Gogarten im Blick auf die Metaphysik des Abendlandes vorgeschlagen. Auch nicht nur die Mythen müssen vergeschichtlicht werden, existential, sondern auch die Metaphysiken des Abendlandes, die enthalten sind in den Dogmen der Kirche oder in der Reformationstheologie Luthers, die ist voller Metaphysik. Die alle gehören der Vergeschichtlichung ausgesetzt und existenzial interpretiert. Nicht nur die Mythen, auch die Metaphysik.

    Achenbach: Vielleicht sollte man an der Stelle noch einfügen, dass diese existenziale Auslegung, die Bultmann anwendet, auf Martin Heideggers Sein und Zeit zurückgeht und dass man unter existenzialer Auslegung einen intellektuellen Akt versteht, das heißt, eine intellektuelle Art des Selbstverständnisses der Existenz.

    Kroeger: Man kann es verstehen als existenzialen Akt, man kann es aber auch als eine existenzielle theoretische Arbeit verstehen. Bultmann hat gesagt, drei Generationen wird es brauchen, um diese Arbeit durchzuführen, wie die Botschaft der Bibel existenziell verstanden werden kann. Das kann man theoretisch machen. Da gibt es viel zu tun und zu denken, wie muss man diesen und jeden Begriff denken. Das andere ist, selbst bereit sein, in die Transformation der Begriffe in Lebensvollzüge hinein beteiligt zu werden und zu bleiben. Im Singen, im Beten, im Meditieren.

    Achenbach: Diese sogenannte Entmythologisierung, in dem bestimmte Dinge als Mythos bezeichnet werden, die in der christlichen Theologie begegnen, die aber auch die Sprache der Bibel sind. Das heißt also, die Bibel hat ein mythologisches Weltbild.

    Kroeger: Sein Vortrag von 1942 ist primär die Mythen der Bibel. Wie müssen die behandelt werden? Er sagt, wenn man sie in unserer Gegenwart erleben will, muss man sie entmythologisieren, existential interpretieren oder in tillicher Sprache als Symbol interpretieren.

    Achenbach: Damit hat er in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg einen Aufschrei in der Theologie ausgelöst.

    Kroeger: Man hat jedenfalls seine Fakultät und seinen Lehrstuhl nicht mehr sehr empfohlen zu besuchen und Schüler von ihm in Schwierigkeiten gebracht. Aber er ist genauso perhorresziert worden wie Paul Tillich, dem, als er nach dem Krieg wieder hier in Deutschland auftauchte, gesagt worden ist – in einer bestimmten Landeskirche: So etwas wie sie brauchen wir hier nicht mehr. In dem Kirchenkampf hat einen neue Theologie gesiegt. Darin sind Bultmann und Tillich zwei durchaus mit Kritik bedenkbare und reflektierbare Dinge, aber zwei grundwichtige Sachen für alle Menschen, die Schwierigkeiten haben im Kontakt zu der biblischen Botschaft und zum kirchlichen Denken. Wer das kirchliche Denken bedenkt, muss die Metaphysik vergeschichtlichen nach Gogartens Vorschlag. Wer die biblischen Texte bedenkt, muss die Mythen bedenken. Da ist ein Mensch, der vom Himmel gekommen ...

    Achenbach: Es muss ausgelegt werden.

    Kroeger: Es muss verständlich gemacht werden, dass damit mehr als ein vergangener Mythos und eine vergangene Metaphysik gemeint ist. Dies alles ist bis heute eine auf halbem Wege stehen gebliebene, zum Teil betriebene, zum Teil aber nicht weiter verfolgte und unvollendete Angelegenheit, die so vielen Menschen Kummer und Schwierigkeiten machen, mit dem christlichen Denken weiterzukommen.

    Achenbach: Wenn wir zurückblicken auf etwa 200 Jahre liberalen Protestantismus, von dem wir jetzt einige kleine Aspekte herausgenommen haben – mit einigen Personen, die Repräsentanten sind für diesen liberalen Protestantismus oder Kulturprotestantismus, wie man sagt, wo liegen da für Sie die Momente, wo man sagt, da könnte man heute anknüpfen, da wäre etwas weiterzudenken.

    Kroeger: Da kann man nur sagen: Leute, fordert eure Institutionen heraus, euch so etwas anzubieten und zu erzählen, was frühere Generationen in diesen Sachzusammenhängen bereits getan haben. Allein das regt schon an und hilft und führt einen weiter.

    Achenbach: Ich könnte mir vorstellen, dass selbst viele Theologen sich nicht mehr besonders mit dem liberalen Protestantismus beschäftigt haben.

    Kroeger: Das ist so, weil sie zum Teil auch in der vorletzten Generation anders ausgebildet wurden. Aber die Stoffe liegen da. Und es wäre eine Einladung, wirklich Menschen zu zeigen, was alles an Bereicherung und Erschließung auf sie wartet, wenn sie sich dieser Region nähern – von Lessing bis zu Tillich und Bultmann.

    Über Paul Tillich und Rudolf Bultmann:
    Paul Tillich (1886 - 1965) war einer der wenigen, die in den 20er-Jahren wieder an die Traditionen der liberalen Theologie anknüpfte, weil er es für notwendig hielt, die überlieferten religiösen Symbole der christlichen Lehre neu zu deuten. Da er von den Nazis vertrieben worden war, lehrte er seit den 30er-Jahren an Universitäten in den USA. Den Offenbarungspositivismus der neuorthodoxen dialektischen Theologen hat er bezeichnet als tragisches Moment der deutschen Kultur.

    Rudolf Bultmann (1884 -1976) hatte sich in den 20er-Jahren der Bewegung der dialektischen Theologie angeschlossen, hat aber später in seiner Theologie einen eigenen Weg eingeschlagen. Seit den 1940er-Jahren trat er dafür ein, dass das mythologische Weltbild der biblischen Schriften nicht einfach in die moderne Zeit übertragen werden kann. Mit seinem Programm der Entmythologisierung wollte er, ebenso wie sein Zeitgenosse Tillich, die christlichen Lehre für die Menschen des 20. Jahrhunderts verständlich machen.