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"Das Schweigen ist sehr komplex"

Als 2010 zahlreiche Missbrauchsfälle an katholischen Schulen bekannt wurden, ergriff der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs die Initiative und sprach mit den Schülern. Ein Teil der Prävention müsse nun darin bestehen, "die Schweigesysteme intellektuell zu durchschauen", sagt Klaus Mertes.

Klaus Mertes im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Das Interview mit Klaus Mertes hören Sie am Sonntag ab 11.05 Uhr im Deutschlandfunk.

    Heinemann: Pater Mertes, welche Erinnerung haben Sie an den 28.Januar 2010?

    Mertes: Eine Schar von Journalisten, die mir Mikrofone entgegenstreckten in meinem Büro, und die Schulleiterin, die sich durch die Heerscharen der Journalisten hindurchwalkt, mich am Kragen packt und sagt: "Jetzt musst du mit den Schülern sprechen", die dann – 850 an der Zahl – unten in der Turnhalle saßen und denen ich dann, von heute auf morgen, erklären musste, was los ist, was ein sexueller Missbrauch ist, und zwar eben Schülern im Alter zwischen zehn und neunzehn Jahren. Eine Situation jedenfalls, auf die man sich nicht vorbereiten kann.

    Heinemann:Diese Heerscharen von Journalisten haben Sie überrascht?

    Mertes: Ja, dass es eine solche Wucht sein würde, hatte ich nicht gedacht. Ich hatte ursprünglich sogar noch vor, am Mittag dann mich in den Zug zu setzen und nach Frankfurt zu fahren, weil ich dort für den Abend im Haus am Dom einen Vortrag zugesagt hatte. Aber dann wurde mir so spätestens gegen 11, 12 Uhr klar, das hat gar keinen Zweck, ich muss jetzt hier bleiben.

    Heinemann: Dieser 28. Januar, das war der Tag des Briefes, des Entschuldigungsschreibens. Wie lange – oder haben Sie überhaupt gezögert, diesen Brief abzuschicken?

    Mertes: Also das war der Tag, an dem das Entschuldigungsschreiben, das ich am 20. Januar losgeschickt hatte, an die Öffentlichkeit gekommen war – durch einen der 600 Schüler, die ich angeschrieben hatte. Und dass ich diesen Brief geschrieben hatte, hing zusammen mit einem Gespräch, das ich ein paar Tage zuvor geführt hatte mit drei Missbrauchsopfern. Bei diesem Gespräch wurde mir schlagartig klar, dass es mindestens bei einem der beiden hauptbeschuldigten Tätern aus den 70er- und 80er-Jahren mehr als einhundert Opfer geben muss – aufgrund so zusagen der systematischen Struktur dieses Missbrauchs, wo nämlich die Schüler gezielt in diese Fallen hineingeführt worden waren. Und nach diesem Gespräch war mir klar, dass ich reagieren muss und will, indem ich den potentiell betroffenen Jahrgängen ein Signal der Ansprechbarkeit gebe. Und das habe ich nach einer kurzen Beratung mit dem Pater Provinzial und der Schulleiterin Frau Hüdepohl – wir haben am Canisius-Kolleg so eine Doppelstruktur, Schulleiterin und Rektor – habe ich dann diesen Brief geschrieben. Also die Entscheidung, das zu tun, hat eine Stunde gedauert, und den Brief selbst zu schreiben auch eine Stunde. Und dann habe ich ihn noch mal abgesprochen, und dann war die Entscheidung klar. Der Rest war Durchführung.

    Heinemann: "Wir im Canisius-Kolleg" sagen Sie – wir sitzen gerade in der Bibliothek, in der wunderschönen, hier in Berlin.

    Mertes: Ja

    Heinemann: Sie hatten, 2006 ungefähr, zum ersten Mal davon gehört, dass nicht alles mit rechten Dingen hier zugegangen sein würde. 2006 bis 2010 sind vier Jahre!

    Mertes: Ja, danach ist man ja immer klüger. Also, insofern die Fragen mit dem Konjunktiv Plusquamperfekt, mit denen habe ich mich nicht allzu viel beschäftigt, ich will auch gar nicht so zusagen da defensiv drauf reagieren. Es ist einfach folgendermaßen gewesen: Ich habe bei dem einen Täter von Anfang an, seit ich vor inzwischen 16 Jahren zu dieser Schule gekommen bin, eine hartnäckige Gerüchtestruktur vorgefunden, aufgrund der ich geschlossen habe, dass hier etwas vorliegen muss. Und dann habe ich immer systematisch bei Ehemaligentreffen nachgefragt: Was war da los? Ich habe keine Antwort bekommen, bis dann einmal auf eine solche Frage – 2008 – ein Geschwisterteil eines Opfers mir einen Brief geschrieben hat, indem sie sagte: "Ja, da ist tatsächlich etwas gewesen, aber bitte sagen Sie nicht, dass ich meinen Bruder Ihnen gegenüber genannt habe, der möchte das nämlich nicht." So, da war mir spätestens klar, da ist richtig was Ernstes los, da muss was gewesen sein. Und 2006 habe ich eine andere, mich vollkommen überraschende Mail bekommen, die den zweiten Haupttäter aus den 70er- und 80er-Jahren betrifft, wo ich vorher noch überhaupt nichts gehört hatte. Und der hatte mich um Diskretion gebeten. Da die Fälle ja 30 Jahre oder 20 Jahre zurückliegen, sah ich meine Pflicht darin, den Pater Provinzial und die zuständigen Autoritäten zu informieren darüber, dass dieser Mitbruder, der ja dann vor 20 Jahren auch aus dem Orden ausgetreten ist, dass die jetzigen Stellen, die für ihn Verantwortung tragen, informiert werden über die Existenz dieses Vorwurfs, der für mich auch absolut glaubwürdig war – der wohnt jetzt in Lateinamerika, in Chile –, damit die dort Verantwortlichen handeln können. Das war meine Pflicht, die habe ich getan, und ich sah damals auch nicht mehr Pflicht. Und mir ist ja dann am 13. Januar des letzten Jahres in dem Gespräch dann überhaupt erst die ganze Dimension, auch rein quantitativ, klar geworden. Ich dachte bis da, dass es Einzelfälle seien. Aber ansonsten habe ich wirklich nicht vor, mich in defensiven Debatten zu diesem Thema zu erschöpfen.

    Heinemann: Pater Provinzial ist der oberste Jesuit in Deutschland. Der hat wie reagiert dann, als er das erste Mal von Ihnen hörte?

    Mertes: Ja, der war natürlich also erst Mal ebenso erschüttert wie ich und hat dann das aufgegriffen, zusammen mit unserer schon damaligen Beauftragten Frau Raue, und hat dann die zuständigen Autoritäten beziehungsweise die zuständigen Arbeitgeber des ehemaligen Mitbruders, um den es ging dann, in Chile informiert.

    Heinemann: Pater Mertes Sie waren selbst Schüler eines Jesuiten-Gymnasiums, des Bonner Aloisiuskolleg. Haben Sie damals nicht Ähnliches mitbekommen, gehört, wurde darüber geredet, zugetragen? Gab es nicht irgendwie auch da eine Gerüchteküche, die in diese Richtung ging?

    Mertes: Also über die gewalttätigen, schwerwiegenden sexuellen Missbräuche aus den 70er- und 60er-Jahren – ich war ja bis 73 am Aloisiuskolleg in Bonn - habe ich als Schüler damals überhaupt nichts mitbekommen, für mich absolut unvorstellbar. Und was ich da gehört habe dann im letzten Jahr, hat mich auch wirklich erschüttert, muss ich sagen, für mich völlig neu. Was die spezielle Missbrauchsstruktur, so zusagen mit diesen ästhetisierten erotischen Bildern betrifft, die da im Ako aushingen, so hab ich als …

    Heinemann: Ako ist das Aloisiuskolleg …

    Mertes: Aloisiuskolleg, genau, so hab ich damals auch schon irgendwie etwas gespürt, dass das irgendwie nicht stimmt, dass das komisch ist. Aber ich hatte keine Sprache dafür als Schüler.

    Heinemann: Wie funktioniert dieses Verschweigen? Weder Opfer äußern sich, noch offenbar von der Schulleitung – da ist wohl auch nichts nach außen gedrungen?

    Mertes: Das Schweigen ist sehr komplex, hat sehr, sehr komplexe Ursachen. Und ich bin auch der Meinung, dass ein Teil der Präventionsarbeit darin bestehen muss, die Schweigesysteme intellektuell zu durchschauen. Also, das Erste ist natürlich das Schweigen der Opfer selbst – bis dahin, weil sie ja den Täter lieben, schützen durch ihr Schweigen, wenn sie die Tat als Missbrauch erkennen. Es gibt aber auch Opfer, die die Tat deswegen gar nicht als Missbrauch erkennen, weil die Täter ihnen ja sagen, dass es Liebe sei. Insofern ist das auch noch mal sehr schwer für Kinder zumal, und Jugendliche auch, den Missbrauch als Missbrauch zu durchschauen.

    Ein weiterer Punkt natürlich, der hinzu kommt und der einfach notorisch geworden ist, das ist: In dem Moment, wo die Kinder versuchen zu sprechen, werden sie nicht gehört, sondern abgewimmelt. Also, Erfahrungen wie zum Beispiel, dass Kinder versucht haben, mit ihren Eltern zu sprechen. Und da haben die Eltern gesagt: 'So redet man nicht über einen Priester, oder so redet man nicht über einen Lehrer, oder so redest Du nicht über Deinen Onkel.' Oder ein Schulleiter, der etwas gehört hat und dann sich das überhaupt gar nicht vorstellen konnte und gesagt hat: Du lügst – der, weil ja das, was das Opfer zu sagen hat, meine Beziehungen als dem Hörenden zu meinen angestellten Lehrern oder zu meinen Mitbrüdern oder zu meinen Familienmitgliedern auf so eine radikale Weise infrage stellt, dass der Schmerz, den diese Infragestellung mit sich bringt, nicht zugelassen wird und lieber dafür das Opfer weggestoßen wird, um den Schmerz zu vermeiden, den das Hören mit sich bringt. Es muss also eine Bereitschaft da sein, Schmerz zuzulassen, wenn ich ein Opfer anhöre.

    Das andere sind natürlich dann auch Klischees. Also hier war es ja an der Schule so, dass einige Schüler dann auch einen Brief geschrieben haben, in dem sie Dinge – ich sage mal verallgemeinert benannten. Da standen eben Dinge drin, wie "seltsame sozialpädagogische Praktiken in der Jugendarbeit", dann stand da drin "homosexuelle Jugendliche sind schweren Depressionen ausgesetzt". Da hat man gar nicht drauf geantwortet. Warum? Weil man sich ja vielleicht dachte: Nun ja, das ist so eine klassische linkspolitische Agenda, kennen wir – und hat sofort das in ein Klischee eingeordnet, irgendwelche aufmüpfige Jugendliche, und war nicht bereit, hinter den verallgemeinernden Formen, auch manchmal den sehr scharfen Formen, in denen Kinder versuchen oder Jugendliche versuchen, zu sprechen, das Eigentliche zu hören.

    Heinemann: Aber gibt es nicht auch so eine Art "Korpsgeist"? Also, diese Erfahrung hat doch Miguel Abrantes Ostrowski gemacht. Er hat ein Buch geschrieben – ehemaliger Ako-Schüler in Bonn – "Sacro Pop". Aber er hat gesagt, er ist unendlich vielen Anfeindungen anschließend ausgesetzt gewesen – "Nestbeschmutzer" war da vielleicht noch die freundlichste Vokabel.

    Mertes: Natürlich, der Korpsgeist ist eben eine gewaltige Macht. Das meinte ich mit dem Schmerz. In dem Moment, wo ein Opfer spricht und einen Täter benennt, der zu meinem Korps gehört oder zu meiner Familie gehört, oder wie auch immer, oder zum Korps der Reformpädagogen oder wie immer Sie es nennen wollen, sind Sie natürlich als Hörer in der Loyalitätsfalle. Sie müssen also sich ganz grundlegend "Wir-Gefühle" im Sinne von Korpsgeist relativieren, um fähig zu werden, zuzuhören. Die Erfahrung von Miguel Abrantes kann ich vollkommen nachvollziehen, und ich halte seine Analyse daher natürlich an der Stelle für richtig. Da ist er auf den Korpsgeist an seiner hässlichen Seite gestoßen.

    Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk, ein Gespräch mit Pater Klaus Mertes, dem Leiter des Berliner Canisius-Kolleg. Sie haben in der Debatte über die Entschädigung gesagt: "Wir müssen bluten". Ab welchen Betrag beginnt das? Der Jesuitenorden hat jetzt einen vierstelligen Betrag angeboten, der "eckige Tisch" fordert einen höheren fünfstelligen – wenn ich das richtig verstanden habe – rund 80.000 Euro. Wo beginnt das Bluten?

    Mertes: Ich will nicht anfangen zu schachern, sondern die erste Grunderkenntnis, die mir zentral ist, lautet – angeregt durch Worte von Opfern – lautet: Eine Entschuldigung allein reicht nicht. Also Opfer haben öffentlich geschrieben: Sie sollen bluten! Und jetzt ist ja die Frage, wenn ich zuhöre: Was ist an dieser Formulierung richtig? Dahinter stecken natürlich auch Rachegefühle, Hassgefühle, ganz klar. Jetzt könnte ich auf den Tisch hauen und sagen: Hass und Rache mache ich nicht mit. Dann haben wir uns gesagt: Nee nee, wir müssen jetzt hinhören, was steckt dahinter? Und dahinter steckt der Wunsch und das berechtigte Anliegen, dass die "Täterseite" – in Anführungsstrichen, also systemisch gesprochen, zu der ich ja institutionell gehöre, denn man kann über den Begriff lange reden, ich bekenne mich dazu, das so zu beschreiben – dass die nicht einfach nur "Entschuldigung" sagt, sondern dass die Entschuldigung etwas kosten muss. Und ob es uns etwas kostet oder nicht, das müssen wir tatsächlich selbst definieren. Sühne in der Hand der Opfer eskaliert, die Alternative dazu wäre tatsächlich ein gerichtliches Verfahren. Ich sage, wenn wir 200 Opfer haben und einen vierstelligen Betrag anbieten, nehmen wir mal die österreichische Summe, die da immer im Umlauf ist – nämlich 5.000 Euro kostet es uns Jesuiten eine Million. Das ist viel Geld für uns. 80.000 Euro werden in Irland zum Beispiel gezahlt, da zahlt es der Steuerzahler. Das ist der Unterschied.

    Heinemann: Wie werden aus Priestern und Ordensleuten, die ja doch in besten Absichten irgendwann einmal ihre Gelübde abgelegt haben, Sexualstraftäter oder Schläger?

    Mertes: Ich werde Ihnen gleich die Frage beantworten, möchte Ihnen aber zugleich sofort sagen, dass ich über diese Frage viel weniger nachgedacht habe, als über die Frage, wieso werden Mitbrüder, obere Schulleiter Mitwisser, die nicht angemessen reagieren. Das halte ich für die viel tiefere und schwerwiegendere Frage. Die Täterbiografien, da kommt man sehr schnell wieder auch in dieses ganze Thema, dass die vielleicht auch mal selbst Opfer gewesen sind. Es sind sehr oft auch Opfertypen oder Leute mit Opfergeschichten, die sozusagen in diese Spirale von Hass und Gewalt eben selbst hineingekommen sind. Und das kommt dann sehr schnell in so eine Art therapeutischen Diskurs hinein, der mir zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedenfalls unangemessen erscheint, jedenfalls für meine Rolle in dieser Geschichte. Ich habe über die Frage, warum Täter Täter werden, weniger nachgedacht, als über die Frage, warum wurde in den Systemen, in denen diese Täter gehandelt haben, nicht zugehört, als die Opfer sprachen. Und da liegt für mich die entscheidende Frage.

    Heinemann: Und die Antwort?

    Mertes: Ja, meine Antwort liegt jetzt darin, dass ich sage, das sind Dinge wie Korpsgeist, was Sie gerade genannt haben. Es gibt einen spezifisch katholischen Geschmack, den ich auch benannt habe, nämlich das Verhältnis zu sakraler Gewalt oder sakraler Macht, besser ausgedrückt. Dann die große Frage natürlich der Sprachlosigkeit im Bereich der Sexualität. Das sind einfach ganz große Fragen, die mir klar geworden sind durch meine Gespräche mit Opfern, aus denen ich schließe, dass hier strukturelle Probleme liegen, die dazu führen, dass wir in diesem Bereich auch innerkirchlich schwerhörig sind, mutatis mutandis gilt das ja eben auch dann für andere Systeme.

    Heinemann: Letzteres hat Alois Glück, der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken ja neulich kritisiert gesagt, in Fragen der Sexualmoral ist die Kirche weitgehend sprach- und wirkungslos geworden. Wie gefährlich ist das für die Kirche?

    Mertes: Es ist hochgefährlich.

    Heinemann: Was tut man dagegen?

    Mertes: Ja, indem man anfängt, darüber zu sprechen, also wie wir es eben zum Beispiel tun. Also, ich nenne Ihnen mal ein Beispiel. Ein Missbrauch hat sehr viel bei uns zu tun mit dem Thema Masturbation. Das Thema Masturbation ist bei Jugendlichen im Kontext einer katholischen Welt, in der sie aufwachsen, so stark scham- und schuldbeladen, dass sie darüber gar nicht sprechen können wegen des Ausmaßes von Scham, das sie damit haben.

    Heinemann: Mit dem Wort "Igitt"

    Mertes: Ja, erstens das Wort Igitt, und vor allem theologisch die Aussage: schwere Sünde, Todsünde. Das ist ja bis heute nicht zurückgenommen. Mir ist natürlich klar, was in einem theologischen Diskurs der Begriff der schweren Sünde bedeutet. Nur, wenn Kinder oder Jugendliche 'Todsünde’ hören, dann gehen natürlich ganz andere Gefühlswelten los als bei einem reflektierten Moraltheologen, der mit 40, 50 Jahren über diese Dinge nachdenkt und die Sprachspiele beherrscht, die man beherrschen muss, um solche Worte zu verstehen. Und da fängt es an. Oder ein Jugendlicher hat bei dem Missbrauch selbst homosexuelle Neigungen verspürt und dabei Lust empfunden und denkt eben jetzt, dass er schwer sündig und krank ist. Wie sprechen wir denn in der Kirche gegenüber Jugendlichen über Homosexualität oder homosexuelle Neigungen so, dass es ihm möglich wird, einen Diskurs darüber zu führen, der angstfrei ist. Das sind wesentliche Fragen.

    Heinemann: Gerade in dem Zusammenhang hat sich im letzten Jahr ein Bischof Oberbeck ins Fernsehen gesetzt bei Maybritt Illner und gesagt, Homosexualität ist Sünde.

    Mertes: Ja, er hat sich dabei mit dieser Aussage sogar noch einmal unterhalb des Niveaus des katholischen Katechismus begeben. Das behauptet ja nicht einmal der katholische Katechismus, sondern der sagte nur, homosexuelle Handlungen sind schwere Sünde. Und das Problem ist nur beim Missbrauch, dass Jugendliche das Gefühl haben, sich aktiv an einer homosexuellen Handlung beteiligt zu haben, die schwer sündig ist. Und da sind wir wieder im selben Problem.

    Heinemann: Wie redet man darüber mit den Kindern?

    Mertes: In der katholischen Sexualmoral ist jeder außereheliche oder nichteheliche und zugleich nicht künstlich verhütende Akt schwere Sünde. Das heißt, alle Katzen sind grau in der Nacht der katholischen Sexuallehre. Sie können es an dem katholischen Katechismus sehen. Da steht Homosexualität direkt neben Prostitution, neben Ehebruch und vorehelichem Geschlechtsverkehr. Und das sind vier vollkommen verschiedene Dinge, die in dieser dunklen Nacht eben alle gleich aussehen. In der Nacht sind alle Katzen eben grau.

    Heinemann: Ist das nicht fürchterlich verstaubt?

    Mertes: Ja, verstaubt ist ein zu schwacher Ausdruck, finde ich. Man kann diesen Staub wegnehmen, und dann ist das Alte wieder im Glanz da. Es ist die Frage, ob es stimmt, oder ob sich hier die Kirche nicht auch in einer Falle befindet, durch die sie selbst sprachlos wird beim Thema Sexualität. Nun könnte mancher sagen, dass natürlich viel über Sexualität in der Kirche gesprochen wird. Da steht ja was im Raum, was die Kirche eben sagt. Aber dem Sprechen über Sexualität durch das Lehramt entspricht zugleich eine Sprachlosigkeit auf der Ebene der großen Menge. Ich fand so diese eine Aussage so interessant, als der Papst im letzten Buch, diesem Interview-Buch, etwas zum Thema Kondome sagte. Da war ja gleichzeitig die Aids-Konferenz in Nairobi, und da wurde ein gut-katholischer Familienvater – wie ich vermute – interviewt, und der sagte eben: "Na ja, bisher habe ich meine Frau mit schlechtem Gewissen geschützt, und jetzt schütze ich sie mit gutem Gewissen. Vielen Dank, Heiliger Vater." Und das war ganz offen und ehrlich gemeint. Und das zeigt doch aber genau dieses Doppelleben auf der Ebene der katholischen Basis. Und da geschehen ja die Missbräuche.

    Heinemann: Aber der Vatikan hört doch diese Botschaften nicht.

    Mertes: Ja, weiß ich nicht, das muss der Vatikan entscheiden, ob er es hört. Das kann ich doch nicht sagen. Ich hoffe, dass er es hört.

    Heinemann: Wie viel verträgt die katholische Kirche? Fragen wir mal so.

    Mertes: Sehr viel. Ich bin ganz und gar katholisch. Ich bin durch und durch katholisch und will mir von niemandem das Katholischsein absprechen lassen. Ich stehe in der Mitte der Katholizität.

    Heinemann: Wie viel verträgt die Kirche, das wollte ich wissen?

    Mertes: Ganz viel. Also, ich verstehe das, was ich tue, auch als einen wichtigen Dienst an der Kirche. Und nicht nur ich alleine, sondern ganz viele mit mir. Also, ich kann überhaupt gar nicht verstehen, wie man meinen könnte, dass ich also in irgendeiner Weise der Kirche schade, wenn ich das sage, was ich sage.

    Heinemann: Aber man hat schon gelegentlich den Eindruck, dass die Kirche stark mit Nebensächlichkeiten beschäftigt ist, wer mit wem wann wie ins Bett geht und so weiter, und die eigentliche Botschaft, die wird so sonntäglich routiniert abgearbeitet.

    Mertes: Ja. Wir tragen mit als Kirche dazu bei, dass wir uns immer stärker auf abseitige Themen festnageln lassen. Also, die Rezeption des Papst-Buches ist ja ein wunderbares Beispiel dafür. Es hat ja einen Grund, warum die Öffentlichkeit – vollkommen unangemessen gegenüber dem, was sonst noch alles in diesem Buch an Hervorragendem steht – sich ausgerechnet auf diese Kondomfrage spezialisiert. Da hängen wir doch mit drin, dass das so ist. Und da müssen wir uns die Frage stellen, was ist das denn?

    Heinemann: Aber wer stellt sich diese Frage in der Kirche? Und wer gibt die Antworten?

    Mertes: Ja, Sie sind der Journalist und Sie müssen rumfragen. Aber ich weiß, dass ganz, ganz viele sie stellen. Das nächste Problem ist natürlich immer das öffentliche Sprechen. Also, ich weiß, dass ganz viele unter dieser Frage leiden. Aber das Problem ist, dass sie natürlich in dem Moment, wo sie diese Fragen öffentlich stellen, dann natürlich auch sich in eine öffentliche Auseinandersetzung begeben, wo sie dann eventuell auch gelegentlich mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen müssen. Und das macht das so schwer. Da kommt dann auch die Machtfrage rein.

    Heinemann: Da ist wieder der Druck.

    Mertes: Ja genau. Insofern, glaube ich, führt kein Weg daran vorbei, die Dinge denn eben doch offen zu sagen mit den Risiken, dass man dadurch in Konflikte kommt. Ich glaube aber, dass es gar keine Möglichkeit gibt, der Opferperspektive auf uns wirklich gerecht zu werden, wenn wir über diese Dinge weiter schweigen. Das ist ja der Punkt.

    Heinemann: Wären Priester – nicht Ordensleute, Priester –, die ein erfülltes Ehe- und Familienleben führen, nicht weniger anfällig, weniger einsam, weniger in Versuchung?

    Mertes: Ich habe mich an der Zölibatsdebatte nicht beteiligt. Und ich habe zu keinem einzigen Zeitpunkt den Zölibat wegen dieser Missbrauchsfälle infrage gestellt. Erstens mal, weil das statistisch ja schon so nicht stimmt, das ist der eine Grund. Und der andere Grund ist, weil ich meine, dass der Zölibat vor Missbrauchstätern geschützt werden kann durch gute Zulassungsbedingungen. Beim Zölibat liegt für mich nicht das zentrale Problem.

    Heinemann: Wäre möglicherweise aber diese Debatte über Sexualität, über Sexualmoral, von Priestern, die in der Ehe leben, nicht eine ganz andere, als die ja doch oft etwas verklemmte, die Sie eben beschrieben haben?

    Mertes: Ja. Also ich bezweifle ja nicht, dass der Zölibat in bestimmten Situationen eine besondere Anziehungskraft hat für einen Typus von Mann, der eben asexuell leben will. Aber dass er asexuell leben will, hängt ja vielleicht damit zusammen, dass er in seiner Jugend die Sexualität, wie er sie erlebt, eben so schuldbeladen und so angstbesetzt ist für ihn, dass er eben asexuell leben will. Und das ist die tiefere Ursache. Deswegen rede ich lieber über diese Fragen als über die Frage des Zölibates. Da sind wir meines Erachtens eher am Symptom.

    Heinemann: Pater Mertes, Sie werden in der zweiten Jahreshälfte an das Jesuitengymnasium St. Blasien versetzt. Als die ersten Meldungen kamen, haben vielleicht erste gesagt: Oh, da wird ein Unliebsamer strafversetzt oder wird woanders hingeschickt. Was nehmen Sie mit erst mal aus dem Märkischen Sand in den Schwarzwald, und Strafversetzung, empfinden Sie das so?

    Mertes: Nein, das ist keine Strafversetzung, sondern das Aloisius-Kollegium braucht einen neuen Rektor, nachdem Pater Schneider im Februar zurücktreten musste.

    Heinemann: Das Aloisiuskolleg in Bonn.

    Mertes: Genau, ja. Und was mich betrifft, so war es schon eigentlich vorher klar. Ursprünglich war daran gedacht, dass ich im Sommer des letzten Jahres gehe, weil die vereinbarte zehnjährige Amtszeit als Rektor – zusammen mit sechs Jahren Unterricht sind das nunmehr 16 Jahre - zu Ende war. Und dann haben wir um ein Jahr verlängert wegen der Missbrauchsfälle hier. Aber jetzt bin ich frei für den Wechsel. Wir Jesuiten wohnen ja bekanntlich in Zelten und nicht in Klöstern. Und jetzt ziehe ich eben weiter nach St. Blasien, einer schönen und interessanten Aufgabe. Ich nehme unglaublich viel mit, glaube ich, an Erfahrung und lasse unglaublich viel zurück. Vermutlich werde ich das überhaupt erst ermessen können, wenn ich in St. Blasien bin.

    Heinemann: Könnte es sein, dass Sie dort wieder einen Brief schreiben müssen?

    Mertes: Nein. Ich glaube, dass Pater Siebner in St. Blasien . . .

    Heinemann: ... der jetzige Leiter . . .

    Mertes: Der jetzige Leiter, der ans Aloisius-Kolleg gehen wird, dass der, übrigens auch ähnlich wie die Verantwortlichen im Aloisius-Kolleg heute, ganz aktiv an der Aufklärung gearbeitet hat. Es kann natürlich immer wieder sein, dass noch mal ein ganz großes Ding sichtbar wird. Aber ich glaube, dass in der Aufklärung wirklich sehr, sehr viel geleistet worden ist. Und da es ja zwischen St. Blasien und Berlin einen Zusammenhang gibt, da einer der Haupttäter ja von Berlin nach St. Blasien versetzt wurde, ohnehin noch mal mit Pater Siebner besonders eng zusammenarbeiten müssen, einfach von der Sache her. Insofern weiß ich, wie sorgfältig da vorgegangen worden ist.

    Heinemann: Pater Mertes, hat Sie das vergangene Jahr verändert?

    Mertes: Ja.

    Heinemann: Inwiefern?

    Mertes: Es hat mir klar gemacht, dass es jenseits der Lagerdebatten in der Kirche zwischen konservativ und progressiv eine Opferperspektive auf uns Jesuiten und auf uns als katholische Kirche gibt, die uns auch eine Chance zur Erneuerung gibt. Und ich möchte diese Chance für die Kirche auch wirklich nutzen. Das ist das eine. Und das Zweite ist, das letzte Jahr hat mir klar gemacht, dass die einzige Weise, wie ich als Christ mit der Schuld, die die Institution und Einzelne auf sich geladen haben, nur umgehen kann, indem ich mitarbeite an einer Versöhnungsperspektive.

    Heinemann: Sie tragen das "SJ"im Titel, Societas Jesu, kirchenintern inoffiziell "Schlaue Jungs". Wann wird sich diese Erkenntnis, die Sie jetzt beschrieben haben in diesem Interview, in der Kirche durchsetzen?

    Mertes: Ich bin kein Prognostiker, das kann ich nicht sagen. Ich bin auch nicht der Oberbesserwisser, der weiß, wie es richtig ist. Ich leiste einen Beitrag zu einem Diskurs in der Kirche und bin sehr gespannt, was im Lauf der nächsten Jahrzehnte dabei am Ende herauskommen wird.

    Heinemann: Pater Mertes, Dankeschön für das Gespräch.

    Mertes: Bitte sehr.