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Das Shylock-Syndrom

Fangen wir bei Shakespeare an: Antonio, der Kaufmann von Venedig, hat einen Freund, dem er schon oft Geld geborgt hat, denn Bassanio, der Edelmann, ist ein Schmarotzer. Nun will Bassanio um die märchenhaft reiche Portia werben, und braucht dafür wieder Geld. Antonio hat aber zur Zeit alles in Handelsschiffe investiert und muß selbst Geld aufnehmen. Zähneknirschend pumpt er den verhaßten Juden Shylock an, der Geld gegen Zinsen verleiht. Shylock gibt ihm jedoch gegen seine Gewohnheit ein zinsloses Darlehen, aber zu äußerst ungewöhnlichen Bedingungen: Falls er seine 3000 Dukaten nicht rechtzeitig zurückerhält, will er Antonio ein Pfund Fleisch aus dem Leib schneiden. Shakespeares Stück stammt vom Ende des 16. Jahrhunderts, sein Schauplatz ist Venedig, wo 1516 das erste Ghetto für die jüdische Bevölkerung eingerichtet wurde.

Eva Pfister |
    Der Hamburger Anglist Dietrich Schwanitz hat sich schon mit seinem Roman "Der Campus" über sein Fach hinaus gewagt. In seinem neuen Buch analysiert er in der Konstellation dieser Shakespeare-Komödie den Kern jenes Antisemitismus, der nicht mehr auf religiöse Gründe zurückgeht, sondern einem Unbehagen der Moderne entspringt. Indem der neue Kaufmannsstand für die negativen Seiten des Kapitalismus, wie Raffgier und Spekulation, die Juden verantwortlich machte, konnte er den Kapitalismus selbst mit den christlichen Tugenden in Einklang wähnen. Höhepunkt in Shakespeares Stück ist der Moment, da Shylock das Messer wetzt, um Antonio ein Pfund Fleisch herauszuschneiden. Nun, da die Frist verstrichen ist, ist er mit einer geradezu grotesken Gier auf dieses Fleisch versessen. Dieser archaische Zug in Shylocks Charakter paßt auf den ersten Blick eher in die mittelalterlichen Vorstellungen von den christenfressenden Juden als zur These vom Unbehagen im Kapitalimus. Und doch, sagt Dietrich Schwanitz, ist es ein zentrales Motiv für seine Theorie: "Man muß sich das klar machen, daß Fleisch und Geld auf eine ganz merkwürdige Weise miteinander in Verbindung gebracht werden. Nämlich, den Juden war alleine in der mittelalterlichen Wirtschaftsethik erlaubt, Zins zu nehmen, und das Zinsverbot in der Bibel war ambivalent. Das hieß: Von der Brüdern darfst du nicht Zins nehmen, aber von den Fremden darfst du Zins nehmen. Da die Juden alle andern als Fremde behandelten, durften sie Zins nehmen, da die Christen einander als Brüder behandelten, durften sie nicht. Das war der Unterschied. Also die Juden durften. Und damit übertrugen sie eine Qualität des Fleisches, des Organismus, nämlich sich zu vermehren, im Grunde den Sex, auf das Geld. In der mittelalterlichen Wirtschaftsvorstellung war aber Geld, als Metall, unfruchtbar. Die Juden waren also Magier, sie übertrugen eine Qualität des Organismus, Sexualität, auf das Geld, und der Zins war eine perverse Sexualität des Geldes, nämlich im Zins begattete sich das Geld selbst und vermehrte sich. Statt Kindeskinder gab es Zinseszinsen. Deswegen ist diese Problematik Geld-Blut-Wucher-Fleisch eine Art von Modernisierungsproblematik, die mit der Klasse der Kaufleute, also der mit Geld wirtschaftenden Klasse, nämlich dem Bürgertum, in Verbindung gebracht werden muß. Und daher dieses projektive Verhalten des Bürgertums, das sich darüber sozusagen selber für banausisch hält, sich selbst am Sozialcharakter eines dann bewunderten Adels orientiert, um den eigenen, verdrängten, schäbigen Anteil des eigenen Sozialcharakters auf die Juden zu projizieren."

    Der Selbsthaß des Bürgertums, das sich nie wirklich vom Adel emanzipiert hat, ist für Dietrich Schwanitz also der Antrieb für den Antisemitismus. Anhand ausgewählter historischer wie literarischer Beispiele zeigt er die Kontinuität dieses Szenarios in der europäischen Kulturgeschichte. Dabei führt ihn seine Interpretationslust zuweilen auf Abwege. So gehört etwa für Schwanitz auch der Streit zwischen Heinrich Heine und August von Platen zum Shylock-Syndrom, obwohl im Falle dieser Auseinandersetzung zwischen einem jüdischen Bürger und einem homosexuellen Adligen die Außenseiter-Analyse eines Hans Mayer sicher genauer trifft. Deutlich tritt hingegen das Szenario in Gustav Freytags Roman "Soll und Haben" hervor, der 1855 erschienen ist. Darin steht der gute, selbstlose deutsche Kaufmann mit dem sprechenden Namen Wohlfahrt dem raffgierigen jüdischen Kapitalisten gegenüber. Und während Veitel Itzig alles daran setzt, in Besitz eines Rittergutes zu kommen, rettet Wohlfahrt die schlecht wirtschaftenden Adligen vor dem jüdischen Zugriff. In diesem Roman ist der militante Antisemitismus des Dritten Reiches schon angelegt.

    Aber grundsätzlich sieht Dietrich Schwanitz den Antisemitismus als europäisches Phänomen. Darin widerspricht er Daniel Goldhagen, der in "Hitlers willige Vollstrecker" den eliminatorischen Antisemitismus speziell in der deutschen Kultur verankert sieht. "Das, meine ich, ist eine falsche Kausalität, denn die Kultur unterschied sich in nichts von irgendeiner andern Kultur", so Schwanitz. "Sie ist tatsächlich europäisch, auch gerade was den Antisemitismus betrifft, er ist europäisch. Ich lege deswegen so viel Wert auf Frankreich, weil ich meine, daß in der Tat die Dreyfus-Affäre die Ingredienzen des Faschismus enthält - die Bühne des gesamten Faschismus ist eigentlich schon da. Es ist natürlich nicht so bösartig geworden, aus verschiedenen Gründen, aber man hat den verlorenen Krieg von 1870, man hat die Armee, die in ihrer Ehre und in ihrem Selbstgefühl gekränkt ist, die ist noch weitgehend aristokratisch. Man hat die Paranoia gegenüber dem Erbfeind Deutschland. Man hat eine Konstellation, wo man unterstellt, daß die eigene Schuld im Grunde jemand anders haben könnte. Das heißt also, die Szenarien sind schon sehr ähnlich, und dann gibt es vor allen Dingen die sozialen Konfigurationen, das heißt, es gibt das Bürgertum, das zur alten Ordnung überläuft, geführt von antisemitischen Demagogen, während die Sozialisten abseits stehen. Es ist natürlich nicht so bösartig. Die Weimarer Republik enthielt das ganze Szenario, nur viel schlimmer - aber die Elemente sind diesselben."

    Außerdem verweist Schwanitz darauf, daß der rassistische Antisemitismus in Frankreich entstanden ist. In Gobineaus Essay über die Ungleichheit der menschlichen Rassen sei zum ersten Mal von Rassenmischung als einem die Gesellschaft schwächenden Vorgang die Rede. Allerdings geht es Schwanitz nicht darum, Deutschland aus der Verantwortung für den Holocaust zu entlassen. Sein Buch ist auch gar nicht als Antwort auf Goldhagen entstanden, denn die wichtigsten Teile sind bereits in einer früheren Publikation enthalten. Diese hieß "Shylock - von Shakespeare bis zum Nürnberger Prozeß" und ist 1989 erschienen, Ergebnis unter anderem eines Shakespeare-Seminars an der Hamburger Universität.

    Im Wesentlichen neu geschrieben hat Schwanitz das Kapitel über das Fortleben des Shylock-Syndroms in der Bundesrepublik nach 1945 und nach der Wiedervereinigung. Dabei macht er nicht nur auf das Weiterwirken ehemaliger Nationalsozialisten in hohen Ämtern aufmerksam, was zu der von Ralph Giordano diagnostizierten "Zweiten Schuld" führte. Schwanitz, der sich selbst als Radikaldemokrat bezeichnet, nimmt sich auch die Linke zur Brust. In den antiamerikanischen Reaktionen auf den Golfkrieg sieht er ebenso das Aufleben alter unheilvoller Traditionen wie in den Lichterketten, mit denen in Deutschland und Österreich auf die ausländerfeindlichen Anschläge reagiert wurde. "Was mich stört an den Lichterketten", so Schwanitz, "ebenso wie an dieser pyromanen Entfesselung der antisemitischen Skinheads, ist, daß sie derselben Gemeinschaftssehnsucht entstammen. Und ich halte Gemeinschaftssehnsüchte in sehr komplexen Gesellschaften wie der unseren für gefährlich. Denn das ist genau das, woran die Nazis appelliert haben. Nämlich die Rückkehr zu einer Blutsbrüderhorde, zu einer Gemeinschaft, die sich nicht über die Gesetze des Rechts organisiert, sondern über die Instinktparallelität, über die Instinktgemeinschaft. Ich werfe der deutschen Linken sowieso vor, daß sie gewissermaßen an die Szenario der Nazizeit gebunden bleibt und auf diese Weise ihr Sklave wird. Sie sind von allem immer nur das Gegenteil. Sie sind gewissermaßen Antinationalisten, dabei begreifen sie nicht, daß es nicht darum geht, gegen die Nation zu sein, sondern überhaupt einen anderen Nationenbegriff zu entfalten. Nämlich sich nicht an der ethnischen Nation zu orientieren wie die Nazis und dann dagegen zu sein, sondern Nation zu verstehen als eine Willensgemeinschaft, nicht als eine Schicksalsgemeinschaft, als ein Verein, den man gründet, weil man sich nach bestimmten Prinzipien der demokratischen Ordnung zusammentut und danach leben will."

    Das Shylock-Syndrom, wie Dietrich Schwanitz es diagnostiziert, verhindert also die Ankunft in einer modernen Gesellschaft, einer Civil Society.