Der Selbsthaß des Bürgertums, das sich nie wirklich vom Adel emanzipiert hat, ist für Dietrich Schwanitz also der Antrieb für den Antisemitismus. Anhand ausgewählter historischer wie literarischer Beispiele zeigt er die Kontinuität dieses Szenarios in der europäischen Kulturgeschichte. Dabei führt ihn seine Interpretationslust zuweilen auf Abwege. So gehört etwa für Schwanitz auch der Streit zwischen Heinrich Heine und August von Platen zum Shylock-Syndrom, obwohl im Falle dieser Auseinandersetzung zwischen einem jüdischen Bürger und einem homosexuellen Adligen die Außenseiter-Analyse eines Hans Mayer sicher genauer trifft. Deutlich tritt hingegen das Szenario in Gustav Freytags Roman "Soll und Haben" hervor, der 1855 erschienen ist. Darin steht der gute, selbstlose deutsche Kaufmann mit dem sprechenden Namen Wohlfahrt dem raffgierigen jüdischen Kapitalisten gegenüber. Und während Veitel Itzig alles daran setzt, in Besitz eines Rittergutes zu kommen, rettet Wohlfahrt die schlecht wirtschaftenden Adligen vor dem jüdischen Zugriff. In diesem Roman ist der militante Antisemitismus des Dritten Reiches schon angelegt.
Aber grundsätzlich sieht Dietrich Schwanitz den Antisemitismus als europäisches Phänomen. Darin widerspricht er Daniel Goldhagen, der in "Hitlers willige Vollstrecker" den eliminatorischen Antisemitismus speziell in der deutschen Kultur verankert sieht. "Das, meine ich, ist eine falsche Kausalität, denn die Kultur unterschied sich in nichts von irgendeiner andern Kultur", so Schwanitz. "Sie ist tatsächlich europäisch, auch gerade was den Antisemitismus betrifft, er ist europäisch. Ich lege deswegen so viel Wert auf Frankreich, weil ich meine, daß in der Tat die Dreyfus-Affäre die Ingredienzen des Faschismus enthält - die Bühne des gesamten Faschismus ist eigentlich schon da. Es ist natürlich nicht so bösartig geworden, aus verschiedenen Gründen, aber man hat den verlorenen Krieg von 1870, man hat die Armee, die in ihrer Ehre und in ihrem Selbstgefühl gekränkt ist, die ist noch weitgehend aristokratisch. Man hat die Paranoia gegenüber dem Erbfeind Deutschland. Man hat eine Konstellation, wo man unterstellt, daß die eigene Schuld im Grunde jemand anders haben könnte. Das heißt also, die Szenarien sind schon sehr ähnlich, und dann gibt es vor allen Dingen die sozialen Konfigurationen, das heißt, es gibt das Bürgertum, das zur alten Ordnung überläuft, geführt von antisemitischen Demagogen, während die Sozialisten abseits stehen. Es ist natürlich nicht so bösartig. Die Weimarer Republik enthielt das ganze Szenario, nur viel schlimmer - aber die Elemente sind diesselben."
Außerdem verweist Schwanitz darauf, daß der rassistische Antisemitismus in Frankreich entstanden ist. In Gobineaus Essay über die Ungleichheit der menschlichen Rassen sei zum ersten Mal von Rassenmischung als einem die Gesellschaft schwächenden Vorgang die Rede. Allerdings geht es Schwanitz nicht darum, Deutschland aus der Verantwortung für den Holocaust zu entlassen. Sein Buch ist auch gar nicht als Antwort auf Goldhagen entstanden, denn die wichtigsten Teile sind bereits in einer früheren Publikation enthalten. Diese hieß "Shylock - von Shakespeare bis zum Nürnberger Prozeß" und ist 1989 erschienen, Ergebnis unter anderem eines Shakespeare-Seminars an der Hamburger Universität.
Im Wesentlichen neu geschrieben hat Schwanitz das Kapitel über das Fortleben des Shylock-Syndroms in der Bundesrepublik nach 1945 und nach der Wiedervereinigung. Dabei macht er nicht nur auf das Weiterwirken ehemaliger Nationalsozialisten in hohen Ämtern aufmerksam, was zu der von Ralph Giordano diagnostizierten "Zweiten Schuld" führte. Schwanitz, der sich selbst als Radikaldemokrat bezeichnet, nimmt sich auch die Linke zur Brust. In den antiamerikanischen Reaktionen auf den Golfkrieg sieht er ebenso das Aufleben alter unheilvoller Traditionen wie in den Lichterketten, mit denen in Deutschland und Österreich auf die ausländerfeindlichen Anschläge reagiert wurde. "Was mich stört an den Lichterketten", so Schwanitz, "ebenso wie an dieser pyromanen Entfesselung der antisemitischen Skinheads, ist, daß sie derselben Gemeinschaftssehnsucht entstammen. Und ich halte Gemeinschaftssehnsüchte in sehr komplexen Gesellschaften wie der unseren für gefährlich. Denn das ist genau das, woran die Nazis appelliert haben. Nämlich die Rückkehr zu einer Blutsbrüderhorde, zu einer Gemeinschaft, die sich nicht über die Gesetze des Rechts organisiert, sondern über die Instinktparallelität, über die Instinktgemeinschaft. Ich werfe der deutschen Linken sowieso vor, daß sie gewissermaßen an die Szenario der Nazizeit gebunden bleibt und auf diese Weise ihr Sklave wird. Sie sind von allem immer nur das Gegenteil. Sie sind gewissermaßen Antinationalisten, dabei begreifen sie nicht, daß es nicht darum geht, gegen die Nation zu sein, sondern überhaupt einen anderen Nationenbegriff zu entfalten. Nämlich sich nicht an der ethnischen Nation zu orientieren wie die Nazis und dann dagegen zu sein, sondern Nation zu verstehen als eine Willensgemeinschaft, nicht als eine Schicksalsgemeinschaft, als ein Verein, den man gründet, weil man sich nach bestimmten Prinzipien der demokratischen Ordnung zusammentut und danach leben will."
Das Shylock-Syndrom, wie Dietrich Schwanitz es diagnostiziert, verhindert also die Ankunft in einer modernen Gesellschaft, einer Civil Society.