Die gusseisernen Pfeiler tragen kunstvoll wie antike Säulen das aufwändige Glasdach. Der Eingang ist von Statuen römischer Gottheiten flankiert. Das "Temperate House" inmitten von Kew Gardens in London mit seinen 200 Meter Länge und 20 Meter Höhe ist ein ungemein prachtvolles Gebäude aus der viktorianischen Zeit von 1860. Nicht nur Projektleiterin Georgina Darroch gerät ins Schwärmen.
"Es ist eine Kathedrale für die Anbeter der Pflanzen." Möglich wurde das alles durch eine Expeditionsleidenschaft im Viktorianischen Zeitalter, die den Beruf des Pflanzenjägers hervorbrachte. Die imperiale Macht Großbritannien war auch an den Pflanzen in den Kolonien interessiert. Pflanzenjäger scheuten keine Mühen, die exotischsten Exemplare aus den entlegensten Winkeln herbeizuschaffen. Colin Clubbe ist wissenschaftlicher konservatorischer Leiter von Kew Gardens.
Vom Baum zur Kautschukindustrie
"Kew ist Teil unserer kolonialen Vergangenheit. Es ging um den wirtschaftlichen Nutzen der Botanik und die Frage: Können wir Pflanzen aus dem einen Teil unseres Empires holen, sie hier in Kew erforschen, um sie dann in einem anderen Teil des Empire wirtschaftlich gewinnbringend anzubauen?"
Ein Beispiel war das Gummi, gewonnen aus Kautschuk. Die indigene Bevölkerung in den Kolonien zeigte, wie man den Milchsaft aus den Bäumen schnitt. Die britischen Kolonialherren exportierten die Pflanzen und gründeten unter anderem in Malaysia eine Kautschukindustrie. In Kew Gardens gibt es auch eine Orangerie, wie sie vielfach in den Villen und Palästen der Oberschicht des 18. Jahrhunderts populär wurden. Zitronen und Ananas waren Luxusgüter, für die aufwendige repräsentative Gewächshäuser entstanden.
Über die Maßen repräsentativ ist auch das renovierte "Temperate House", das Kew Gardens nun erst recht zu einem Magnet für London-Besucher machen wird. Das "Temperate House" beherbergt die Pflanzen aus den temperierten Zonen der Welt, also jeweils zwischen den Polen und den Tropen. Schon jetzt strömen zwei Millionen jährlich in den Südwesten Londons, so wie einst die wohlhabenden Londoner, die sich im Viktorianischen Zeitalter die Zugfahrt zum eigens angelegten Bahnhof Kew Station leisten konnten.
Artenschutz im Mittelpunkt
Die Pflanzenjäger, deren Rückkehr im 19. Jahrhundert von den Leitern der botanischen Gärten ungeduldig erwartet wurde, plünderten dabei auch die Wälder der Kolonien aus und verwüsteten gelegentlich ganze Gebiete, damit nicht andere Jäger auch erfolgreich waren. Heute sei der Umgang respektvoller, versichert Colin Clubbe.
"Wir erkennen an, dass genetische Ressourcen souveränes Eigentum anderer Länder sind. Wir vereinbaren gemeinsamen Memoranden, von denen beide Seiten profitieren. Und heute sammeln wir natürlich Samen, anders als früher, als im Viktorianischen Zeitalter ganze Pflanzen mitsamt der Erde und den Schädlingen eingeschleppt wurden."
Kew Gardens leitet das weltweite Forschungsprojekt der Millennium Samenbank, die angelegt wird, um Pflanzen vor dem Aussterben zu bewahren. Auch zu diesem Zweck reisen Wissenschaftler wie Colin Clubbe nach Tasmanien, in die Karibik oder nach Neuseeland – immer noch sozusagen auf der Jagd nach Pflanzen.
Heute stehe der Artenschutz im Mittelpunkt, sagt Clubbe. Weil Menschen ihr Habitat zerstören, sind auch Pflanzen wie Tiere vom Aussterben bedroht. Dieser Gedanke soll heute den Besuchern von Kew Gardens nahegelegt werden, wenn sie durch die lichtdurchflutete Kathedrale der modernen Botanik flanieren.