Dirk Müller: Ein großer, ein sehr großer symbolischer, politischer, vielleicht sogar historischer Schritt, wenn die beiden Regierungschefs aus Russland und Polen heute im russischen Katyn aufeinandertreffen, jenem Ort, wo die russische Geheimpolizei im Frühjahr 1940 22.000 polnische Offiziere und Intellektuelle hingerichtet hat. Es ist das erste Mal, dass zu diesen Gedenkfeiern ein polnischer Ministerpräsident von der russischen Seite eingeladen worden ist. Am Telefon sind wir nun verbunden mit dem Journalisten und Polen-Kenner Hubert Wohlan. Guten Tag.
Hubert Wohlan: Guten Tag, Herr Müller.
Müller: Herr Wohlan, wie tief sitzt das Trauma Katyn noch im polnischen Gedächtnis?
Wohlan: Das ist das nationale Trauma schlechthin. Das ist ein Thema für Gespräche in den Familien und das ist seit zwei Jahren, seitdem der Regisseur Andrzej Wajda einen Film über Katyn gedreht hat, auch das Thema nicht nur bei den Jahrestagen. Das ist in der Publizistik, das ist in den öffentlichen Medien überall präsent.
Müller: Und das ist deshalb präsent, wenn wir von dem heutigen Tag, von dem heutigen erstmaligen Zusammentreffen der beiden Regierungschefs absehen, 70 Jahre noch ein Trauma, weil man mit den Russen darüber nicht vernünftig reden konnte?
Wohlan: Man durfte nicht nur mit den Russen darüber nicht vernünftig reden; man durfte auch in Polen in der kommunistischen Zeit darüber nicht reden. Dieses Verbrechen ist ja in der Anfangsphase von den kommunistischen Machthabern in Polen den Deutschen in die Schuhe geschoben worden. Man hat immer wieder behauptet, die Deutschen haben die Gräber 1941, 1942 entdeckt. Weil sie selber dieses Verbrechen begangen haben, haben sie damit die Sowjetunion beschuldigt. Das war die erste Interpretation. Daran haben die Leute in Polen kaum geglaubt, aber öffentlich und offiziell hat man auf das Thema erst dann eingehen können, als die Demokratie in Polen ausbrach, also nach 1989.
Müller: Und wie wird das heute bewertet, die eigene Rolle und das eigene Schweigen?
Wohlan: Das ist natürlich eingebettet in die große Kritik der kommunistischen Zeit, womit die Polen ein wenig Schwierigkeiten haben. Was auch in der Reportage angeklungen ist, ist das Faktum, dass in Katyn und nicht nur in Katyn, auch Starobielsk in der Nähe von Smolensk, nicht nur Polen umgekommen sind, sondern auch Russen und das mörderische System, das Verbrechen, ist ja von Seiten der NKPD, also der Geheimpolizei, gemacht worden. Die Opfer waren also nicht nur Polen, sondern die Russen selbst.
Die Polen haben Katyn eigentlich ständig für sich reklamiert und jetzt ist eigentlich die Frage offen, aber die Russen sind auch ein bisschen selber daran Schuld, weil sie bis jetzt alle Archivdokumente, die Katyn betreffen, die Starobielsk betreffen – das sind die zwei großen Lager, wo die Polen inhaftiert waren -, noch nicht freigegeben haben.
Müller: Kommen wir, Herr Wohlan, noch einmal zum nationalen Trauma zurück. Solange diese Vorkommnisse in Katyn nicht redlich von Historikern, auch von Politikern aufgearbeitet werden und nicht redlich angesprochen und thematisiert werden, solange ist das polnisch-russische Verhältnis immer noch sehr, sehr angespannt?
Wohlan: Ja. Das bleibt immer als ein geistiges Vehikel in den Diskussionen, in den politischen Debatten immer präsent. Auch der Film von Andrzej Wajda, der viele Diskussionen angestoßen hat, der ist in Russland ja hin und wieder mal gezeigt worden, aber nur in geschlossenen Veranstaltungen, nur bei den sogenannten Diskussionskinos. Das Thema ist ja auf der intellektuellen Ebene zwischen den intellektuellen Eliten Polens und Russlands bereits angesprochen worden. Es gibt ja doch zwischen Russen und Polen eigentlich sehr rege Kontakte. Es gibt eine historische Kommission, die sich dieses Themas annimmt. Auf dem besten Wege ist es. Allerdings müssen die Russen – das erwarten die Polen wohl – sich entschuldigen. Die Polen hätten gerne es angesehen, dass die Russen Katyn als Völkermord einstufen würden. Das werden die Russen wohl nicht machen, weil auch Russen selbst dort umgekommen sind. Sie werden das also so nicht anprangern. Das Treffen heute zwischen Putin und Tusk ist wohl der erste Schritt. Ich denke, die Kommission, die russisch-polnische historische Kommission will sich dieses Themas noch mehr annehmen, sodass wir in absehbarer Zeit positive Resultate sehen werden.
Müller: Waren die polnischen Beobachter, Hubert Wohlan, jetzt überrascht, dass ausgerechnet Wladimir Putin nun diesen Schritt macht?
Wohlan: Nein, weil vor etwa einem halben Jahr bei den Feierlichkeiten in Westerplatte Danzig zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges ist ja Putin nach Polen gekommen, hat mit Tusk gesprochen. Die Beobachter gehen davon aus, dass dort bereits dieser Katyn-Besuch besprochen wurde. Das hat noch eine innerpolnische Komponente. Der Präsident Kaczynski wäre gerne auch dabei gewesen. Jener Befürworter der nationalen Aufarbeitung, auch der historischen Politik, wo Katyn auch thematisiert wird, ist nicht dabei. Das ist ja von der Bevölkerung als gut geheißen worden, dass er nicht da ist. Dass man endlich eine Plattform zur Diskussion gefunden hat zwischen Russen und Polen, das wird in Polen befürwortet.
Müller: Vielen Dank für dieses Gespräch. – Der Journalist und Polen-Kenner Hubert Wohlan bei uns im Deutschlandfunk.
Hubert Wohlan: Guten Tag, Herr Müller.
Müller: Herr Wohlan, wie tief sitzt das Trauma Katyn noch im polnischen Gedächtnis?
Wohlan: Das ist das nationale Trauma schlechthin. Das ist ein Thema für Gespräche in den Familien und das ist seit zwei Jahren, seitdem der Regisseur Andrzej Wajda einen Film über Katyn gedreht hat, auch das Thema nicht nur bei den Jahrestagen. Das ist in der Publizistik, das ist in den öffentlichen Medien überall präsent.
Müller: Und das ist deshalb präsent, wenn wir von dem heutigen Tag, von dem heutigen erstmaligen Zusammentreffen der beiden Regierungschefs absehen, 70 Jahre noch ein Trauma, weil man mit den Russen darüber nicht vernünftig reden konnte?
Wohlan: Man durfte nicht nur mit den Russen darüber nicht vernünftig reden; man durfte auch in Polen in der kommunistischen Zeit darüber nicht reden. Dieses Verbrechen ist ja in der Anfangsphase von den kommunistischen Machthabern in Polen den Deutschen in die Schuhe geschoben worden. Man hat immer wieder behauptet, die Deutschen haben die Gräber 1941, 1942 entdeckt. Weil sie selber dieses Verbrechen begangen haben, haben sie damit die Sowjetunion beschuldigt. Das war die erste Interpretation. Daran haben die Leute in Polen kaum geglaubt, aber öffentlich und offiziell hat man auf das Thema erst dann eingehen können, als die Demokratie in Polen ausbrach, also nach 1989.
Müller: Und wie wird das heute bewertet, die eigene Rolle und das eigene Schweigen?
Wohlan: Das ist natürlich eingebettet in die große Kritik der kommunistischen Zeit, womit die Polen ein wenig Schwierigkeiten haben. Was auch in der Reportage angeklungen ist, ist das Faktum, dass in Katyn und nicht nur in Katyn, auch Starobielsk in der Nähe von Smolensk, nicht nur Polen umgekommen sind, sondern auch Russen und das mörderische System, das Verbrechen, ist ja von Seiten der NKPD, also der Geheimpolizei, gemacht worden. Die Opfer waren also nicht nur Polen, sondern die Russen selbst.
Die Polen haben Katyn eigentlich ständig für sich reklamiert und jetzt ist eigentlich die Frage offen, aber die Russen sind auch ein bisschen selber daran Schuld, weil sie bis jetzt alle Archivdokumente, die Katyn betreffen, die Starobielsk betreffen – das sind die zwei großen Lager, wo die Polen inhaftiert waren -, noch nicht freigegeben haben.
Müller: Kommen wir, Herr Wohlan, noch einmal zum nationalen Trauma zurück. Solange diese Vorkommnisse in Katyn nicht redlich von Historikern, auch von Politikern aufgearbeitet werden und nicht redlich angesprochen und thematisiert werden, solange ist das polnisch-russische Verhältnis immer noch sehr, sehr angespannt?
Wohlan: Ja. Das bleibt immer als ein geistiges Vehikel in den Diskussionen, in den politischen Debatten immer präsent. Auch der Film von Andrzej Wajda, der viele Diskussionen angestoßen hat, der ist in Russland ja hin und wieder mal gezeigt worden, aber nur in geschlossenen Veranstaltungen, nur bei den sogenannten Diskussionskinos. Das Thema ist ja auf der intellektuellen Ebene zwischen den intellektuellen Eliten Polens und Russlands bereits angesprochen worden. Es gibt ja doch zwischen Russen und Polen eigentlich sehr rege Kontakte. Es gibt eine historische Kommission, die sich dieses Themas annimmt. Auf dem besten Wege ist es. Allerdings müssen die Russen – das erwarten die Polen wohl – sich entschuldigen. Die Polen hätten gerne es angesehen, dass die Russen Katyn als Völkermord einstufen würden. Das werden die Russen wohl nicht machen, weil auch Russen selbst dort umgekommen sind. Sie werden das also so nicht anprangern. Das Treffen heute zwischen Putin und Tusk ist wohl der erste Schritt. Ich denke, die Kommission, die russisch-polnische historische Kommission will sich dieses Themas noch mehr annehmen, sodass wir in absehbarer Zeit positive Resultate sehen werden.
Müller: Waren die polnischen Beobachter, Hubert Wohlan, jetzt überrascht, dass ausgerechnet Wladimir Putin nun diesen Schritt macht?
Wohlan: Nein, weil vor etwa einem halben Jahr bei den Feierlichkeiten in Westerplatte Danzig zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges ist ja Putin nach Polen gekommen, hat mit Tusk gesprochen. Die Beobachter gehen davon aus, dass dort bereits dieser Katyn-Besuch besprochen wurde. Das hat noch eine innerpolnische Komponente. Der Präsident Kaczynski wäre gerne auch dabei gewesen. Jener Befürworter der nationalen Aufarbeitung, auch der historischen Politik, wo Katyn auch thematisiert wird, ist nicht dabei. Das ist ja von der Bevölkerung als gut geheißen worden, dass er nicht da ist. Dass man endlich eine Plattform zur Diskussion gefunden hat zwischen Russen und Polen, das wird in Polen befürwortet.
Müller: Vielen Dank für dieses Gespräch. – Der Journalist und Polen-Kenner Hubert Wohlan bei uns im Deutschlandfunk.