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Das Trostbedürfnis des Menschen
Wohin gehen die Toten?

Dass die Toten nicht ins Nirgends verschwinden, sondern einen Aufenthaltsort haben, war allen uns bekannten Kulturen wesentlich. Die Kommunikation mit den Toten galt gewissermaßen als das Rückgrat ihrer Dauer, als Garantie und Legitimation ihres Bestands.

Von Jean-Pierre Wils |
    Zwei Skelette stehen am Mittwoch (25.01.2012) im Kasseler Museum vor einer Leinwand mit Hinrichtungsszene. Das linke Skelett ist vermutlich das des Räubers "Schinderhannes", das rechte das seines Kumpanen, dem "Schwarzen Jonas". Sie sind im Rahmen der Ausstellung "Galgen, Rad und Scheiterhaufen - Einblicke in Orte des Grauens zu sehen".
    Heute scheint sich erstmals eine Kultur zu etablieren, deren Totengedenken diffus geworden ist, ohne festen Ort bleiben muss und deren Trostquelle zu versiegen droht. (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi )
    Jeder von uns hat im Laufe des Lebens geliebte Menschen verloren. Sie gingen langsam oder schnell, einfach oder schwer, erwartet und unerwartet. Je näher ihr Weggang zeitlich war, umso weniger ließ sich die Frage unterdrücken, wo sie nun geblieben seien. Vieles legte noch Zeugnis ab von ihrer Anwesenheit - ihre Kleider und ihre Schuhe, die Räume, in denen sie gelebt hatten, eine Brille oder ein Schriftstück und Vieles mehr. Wohin sind sie gegangen? Oder gibt es womöglich keinerlei Wohin?
    Dass die Toten nicht ins Nirgends verschwinden, sondern einen Ort besitzen, wo sie sich aufhalten, war in allen uns bekannten Kulturen von großer Wichtigkeit. Die Kommunikation mit den Toten galt gewissermaßen als das Rückgrat ihrer Dauer, als Garantie und Legitimation ihres gesamten Bestands. Aber auch für den Einzelnen war das Totengespräch - das Gespräch zwischen den Lebenden und den Verschiedenen - wesentlich.
    Trost im Leben hing mit der Gewissheit zusammen, dass die Toten uns nicht den Rücken zugekehrt hatten, dass sie uns nicht die kalte Schulter zeigen. Sie waren uns lediglich vorangegangen und anderswo als hier.
    Diffuses Totengedenken
    Heute scheint sich erstmals in der Menschheitsgeschichte eine Kultur zu etablieren - unsere Kultur -, deren Totengedenken diffus geworden ist. Sie hat keinen festen Ort mehr und besitzt keinen verlässlichen Ritus, weshalb ihre Trostquelle zu versiegen droht. Was ist geschehen? Und wie kann das Bedürfnis des Menschen, sein Dasein nicht ohne Trost fristen zu müssen, dennoch gestillt werden?
    Im 20. Jahrhundert hat sich in einigen Gesellschaften des Westens ein Prozess vollzogen, den man als "Jenseitsdämmerung" bezeichnen könnte. Die Vorstellungen über das Geschick des Menschen nach seinem Ableben wurden zunehmend vage, bis die christliche Himmel[s]- und Hölle-Dogmatik weitgehend zusammengebrochen war, von hyperorthodoxen Milieus und Nischenspiritualitäten einmal abgesehen.
    Dies hängt zweifelsohne damit zusammen, dass die christliche Religion in ihrer nach-aufklärerischen Fassung zu einer Lebenslehre mit hohem Moralgehalt wurde. Dass sie in früheren Zeiten eine Sterbens- und Todeslehre enthalten hatte, aber auch über den Verbleib, über den Ort der Toten etwas zu sagen wusste, geriet nun in Vergessenheit.
    Wenn man heute über das Sterben spricht, dann geschieht dies fast ausschließlich in ethischer Absicht: Wie können und dürfen wir sterben, welche Hilfe dürfen wir erwarten und in Anspruch nehmen, so lauten die Fragen. Dem Tod begegnet man mit Verstummen und dass er eine Bedeutung haben könnte, scheint höchst unwahrscheinlich. Die Toten sind nirgends mehr. Mit ihnen ist der Tod sprachlos geworden. Oder wäre es möglich, dass wir über den Tod nicht sprechen können? Und sollten wir die Toten deshalb lieber in Ruhe lassen?
    Das Unaussprechliche ist allgegenwärtig
    Wir haben außer zu Todes- und Feiertagen die Toten aus unserem Leben ausgeblendet.
    Ein Grablicht zu Allerheiligen im Herbst mit Blättern (imago/McPHOTO)
    Ludwig Wittgensteins berühmter Satz aus dem "Tractatus", "der Tod (sei) kein Ereignis des Lebens", wird gemeinhin so verstanden, dass ein sinnvolles Sprechen über ihn gänzlich unmöglich sei, weshalb man zum Schweigen verurteilt wäre. Aber Wittgenstein spricht immerhin über das Unaussprechliche, obwohl seiner Auffassung nach philosophisch konsistente Aussagen über den Tod nicht machbar sind. Und das "Unaussprechliche" ist nicht komplett abwesend: Wittgenstein zufolge "zeigt" es sich. "Das Mystische" heißt es bei ihm. Der Tod wäre geradezu ein Paradebeispiel für dieses Sich-Zeigen des Unaussprechlichen. Das Schweigen über den Tod breitet sich dennoch aus, das Sprechen über ihn mutet in unserer Kultur wie eine vergebliche Liebesmühe an oder besser, wie ein kindischer Protest gegen ein unumstößliches Faktum. Und die Toten schweigen ihrerseits beharrlich weiter.
    "Denn sogar der Tod kann stumm gemacht werden."
    In einem bewegenden Essay mit dem Titel "In Blaubarts Burg" hat George Steiner bereits anfangs der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts die These aufgestellt, unserer Kultur sei es gelungen, den Tod sprachlos zu machen. Mit dieser Feststellung wird ein Verlust beklagt, das Verschwinden eines Horizonts, der bislang für unsere Lebensführung und für unser Selbstverständnis wichtig gewesen war.
    Aus unserem Blickfeld verschwunden
    Der Tod und mit ihm auch die Toten sind aus unserem Blickfeld verschwunden, sie haben sich entzogen, vermutlich nicht freiwillig, sondern gewollt - von uns gewollt. Aber nun tut sich eine Leere auf.
    Mit der Verbannung des Todes und der Toten ist uns nicht nur eine Last genommen, sondern ist ein Nichts gekommen. Das Leben ist seitdem seltsam kupiert, wir führen ein abgeschnittenes Dasein, völlig diesseits des einstigen Jenseits. Es gibt aber auch einen beredten Widerspruch, in diesem Falle von Elias Canetti. Protestiert hat dieser gegen das deutungslos bleibende, schal gewordene Danach. Scharf und ungemein selbstkritisch heißt es in "Das Buch gegen den Tod":
    "Wenn ich von heiligen Dingen lese, fasst mich ihre Erinnerung, bloß weil sie heilig waren, und solange sie in mir atmet, bin ich ruhig. O die Ruhe, die sie gehabt haben müssen, als sie unangezweifelt waren, ganz, goldene Äpfel, stark duftend und rund. Ich suche nach allen Heiligkeiten, und sie brechen mir das Herz, weil sie vergangen sind. Ich finde nichts mehr für später, ich habe den Tod nackt genannt, wehe dem, der ihn nackt gerufen hat.
    Die Heiligkeiten waren seine Gewänder; solange er bekleidet war, konnten selbst die Menschen, diese ewigen Mörder, ruhig leben, und nichts wäre ihnen geschehen, wenn sie ihm die Gewänder nicht heruntergerissen hätten, diese Plünderer, diese Räuber, hatten sie denn nicht am Morden genug. Ich selbst war einer der ärgsten. Kühn wollte ich sein, also sagte ich: 'Tod, Tod, und ja nichts weiter.' Was ist die Kühnheit, und wie viel mehr war die Vorsicht. Aber wir sind mächtig geworden, so haben wir ihn hergeschleppt, aus allen Schlupfwinkeln haben wir den Tod hergeholt, es gibt keinen, den wir jetzt nicht kennen. Wir verachten die Hölle, aber war sie nicht wenigstens nach dem Tod. Welcher Schmerz wäre nicht besser als nichts. Kühnheit, o dumme Kühnheit, so sind wir in die Scheren deiner Eitelkeit gefallen, nichts, nichts ist unzerschnitten geblieben, und es weiß kein Sterbender mehr, wohin es geht."
    Der getötete Tod
    Hier spricht ein ganz und gar Reumütiger, der sich bitter darüber beklagt, dass er und wir den Tod gleichsam getötet, gemordet haben. Unter dem Schlachtruf "bloß nicht weiter als das Leben" und mit dem Banner rücksichtlosester Aufklärung in unseren siegesgewissen Händen haben wir, trunken vor Kühnheit und alle Bedachtsamkeit vergessend, den Tod einer schonungslosen Analyse unterworfen. "Nichts ist unzerschnitten geblieben" seufzt Canetti.
    Der Tod hat als bedenkenswertes Phänomen, als Lebensphänomen, ausgedient, unser Wissensdrang soll sich ja nicht an falscher Stelle und ohne jegliche Aussicht auf Erfolg verausgaben, denn es gibt dort, wo der Tod ist, nichts zu holen. Die Toten sind nirgends, denn sie sind tot.
    Aber wohin führt uns dieser Protest? Wo geht es denn hin? Und weshalb sollten wir den Tod zurückholen und warum die Toten denn suchen? Weder Steiner noch Canetti plädieren für die Wiedereinsetzung eines Jenseits- und Gerichtsdramas, das ungezählte Menschen nicht bloß nicht getröstet, sondern vielmehr in die Verzweiflung getrieben hat. Das christliche Jenseits hatte immer einen hohen Grausamkeitswert, der Himmel war umgeben von Gefilden des Leidens, der unablässigen Buße und der ewigen Pein.
    Über Hölle und Fegefeuer meinte man immerhin mehr zu wissen als über den Himmel, fand man für sie - für Hölle und Fegefeuer - doch genügend Anschauungsmaterial im Hier und Jetzt.
    Nicht mit dem Verschwinden der Toten abfinden
    Keinerlei Sehnsucht sollte uns heute verführen, auf diese Imaginationen zurückzugreifen. Wenn es jedoch auch nur einigermaßen stimmt, was Canetti behauptet, dass nämlich "kein Sterbender mehr (weiß), wohin es geht", können wir bei dem zerschnittenen Tod nicht stehenbleiben. Wir dürfen uns mit diesem Tod nicht abfinden, ebenso wenig wie mit dem Verschwinden der Toten. Ihre Rückkehr beginnt bereits dort, wo wir ihre Abwesenheit als einen Mangel empfinden.
    Julian Barnes hat in einem schönen Essay mit dem Titel "Der Verlust der Tiefe" anlässlich des Todes seiner Frau das Fehlen einer Perspektive auf den Ort der Toten beklagt:
    "Als wir Gott getötet - oder verbannt - haben, haben wir auch uns selbst getötet. Ob uns das damals so richtig aufgefallen ist? Kein Gott, kein Leben nach dem Tode, kein wir. Natürlich war es richtig, dass wir ihn getötet haben, diesen alten imaginären Freund. Und ein Leben nach dem Tod hätten wir sowieso nicht bekommen. Aber wir haben den Ast abgesägt, auf dem wir saßen. Und die Aussicht von dort oben, aus der Höhe - selbst wenn es nur die Illusion einer Aussicht war -, war gar nicht so schlecht."
    Den Toten im Traum begegnen
    Aber noch einmal - wie kommen die Toten zurück in unsere Reichweite, wie kommen wir näher zu ihnen? Vielleicht hilft hier ein Hinweis von Fernando Pessoa aus seinem großartigen "Buch der Unruhe":
    "Ich sehe geträumte Landschaften so deutlich wie wirkliche. Beschäftige ich mich mit meinen Träumen, beschäftige ich mich mit etwas Wirklichem. Sehe ich das Leben vergehen, so träume ich etwas."
    Der Traum ist vielleicht das Milieu, in dem wir den Toten begegnen - ihren Stimmen, ihrem Flüstern, ihren leisen Botschaften, ihren Grußworten an uns. Hier zeigen sie sich in Bildern und in unseren Imaginationen. Vielleicht warten sie in tiefer Nacht auf uns, dort, wo wir vielleicht schon mal waren, bevor wir das Licht des Lebens erblickten, dort, wohin wir alle zurückkehren werden. Ingrid Bachér hat in ihrem schönen Buch "Sieh da, das Alter" über diesen nächtlichen Ausflug berichtet:
    "In der Nacht kehre ich zurück. Die Nacht ist ein Tauchladen".
    "Jetzt erst begreife ich, dass ich nachts in einen Strom eintauche, der immer vorhanden ist, aus dem ich komme und in den ich später wieder eingehen werde. Das Leben ist nur ein zeitweises Aussteigen aus diesem Strom, so sehe ich es jetzt. Wir tanken nachts im Schlaf, verlieren uns in den Träumen, begegnen dort Dingen, die wir nie sahen, von denen wir nie hörten und bringen unsere mit hinein. Wir nähren so wieder den Strom aus dem wir schöpfen, verlassen ihn zeitweilig am Tag und kehren im Schlaf zu ihm zurück und wenn wir später den Körper ablegen, werden wir wieder in ihm sein.
    Es ist ein ständiger Austausch. Es kann nicht anders sein, denn wenn ich erwache, staune ich darüber, wie erfrischt ich bin oder wie erschlagen ich aus dem Strom, in den ich im Schlaf mich gleiten lasse, wieder auftauche, wie sehr er mich gekräftigt oder geschwächt hat, und ich bin sicher, dort ist mein zeitloses Sein."
    Der Friedwald in Schönebeck/Elbe (Sachsen-Anhalt). Rund 26 Hektar Wald stehen auf dem ostelbischen Gelände für Bestattungen zur Verfügung. 
    Statt Gräber mit Grabsteinen ziehen immer Angehörige es vor, ihre Toten in sogenannten Friedwäldern zu beerdigen. (picture alliance / dpa / Jens Wolf)
    Lassen wir die Frage nach dem Wo des Todes und der Toten mit diesen Hinweisen Bachérs vorläufig auf sich beruhen. Mit ihrer Ortsangabe können wir uns zunächst begnügen. Dringender ist die Frage, weshalb wir uns mit der Topografie der Toten im Rahmen unserer Suche nach einer Bedeutung des Todes überhaupt befassen. Es ist, so ist zu vermuten, unser Trostbedürfnis, das uns dazu treibt. Menschen haben schon immer einen Trost angesichts des Todes benötigt und die Kommunikation mit den Toten war eine Spurensuche nach Gefilden des Trostes. Die alte ars moriendi, die sogenannte "Kunst des Sterbens", enthielt Anweisungen zur Selbsterforschung angesichts des eigenen Sterbens und mit Blick auf den nahenden Tod.
    Sie war ein Trostversuch angesichts des Untröstlichen. Es ging darum, den Weg der Tröstung zu begehen, indem man sich auf das kommende Danach vorbereitete. Es gibt jedoch keinerlei Anlass zur Nostalgie. Besser gestorben wurde in früheren Jahrhunderten nicht, der Tod kam oft unvermutet, zu schnell oder zu langsam, das Sterben musste ohne Schmerzlinderung auskommen, der Sterbende starb nicht selten in Schmutz oder tagelanger Agonie.
    Aber es wurde anders gestorben, und zwar nicht ohne Aussicht auf ein Wohin. Die Rückkehr der ars-moriendi-Formel heute ist kein Zufall - sie gleicht einer Protestformel gegen den drohenden Sinnverlust des Sterbens angesichts eines rätselhaft gewordenen Todes. Auch heute ist sie ein Trostversuch angesichts des Untröstlichen. Wir hoffen, dass die Antwort auf die Frage "Wohin?" die des Novalis ist, die da lautet:
    "immer nach Hause."
    Metaphysische Obdachlosigkeit
    Aber liegt diese Antwort noch in Reichweite, in unserer Reichweite? Sind wir mittlerweile nicht ohne Behausung, leben wir nicht in einer nahezu metaphysischen Obdachlosigkeit? Der anfangs bereits zitierte George Steiner hat die Lücke, die das langsame Verschwinden des Jenseitspanoramas in unserer Kultur hinterlassen hat, mit der ihm eigenen Direktheit folgendermaßen beschrieben
    "Weder Himmel noch Hölle zu haben bedeutet ja ein Leben im Stadium unerträglicher Entbehrung - bedeutet, ganz allein dazustehen in einer hoffnungslos verflachten Welt."
    Was nun geblieben sei, gleiche einem "saugenden Vakuum". Dieses Vakuum bezeichnet die Leere, die droht, wenn keinerlei Antwort auf die Frage "Wohin?" gegeben wird. Wenn der Tod das Signum unserer radikalen Zukunftlosigkeit bedeutet, das Fehlen jeglicher Zukunft, benötigen wir Trost, wir benötigen einen Trost, der die Zukunftlosigkeit nicht ausblendet und uns dennoch hilft, sie positiv zu wenden.
    Vladimir Jankélévitch, der sich zeitlebens außerordentlich intensiv mit dem Tod befasst hat, schreibt zu dieser Annihilierung der Zukunft:
    "In dem Maße also, wie der Tod die Abwesenheit von Zukunft, die Zerstörung von jeder Zukunft, von jeder Art von Künftigkeit, wie sie auch immer sei, ist, erregt der Tod Verzweiflung. Es ist nicht zweifelhaft, dass diese Verlängerung nämlich der Trost ist, den wir suchen."
    Ob es wirklich eine Verlängerung ist, die wir suchen, ist keineswegs sicher, obwohl der Wunsch nach purer Verlängerung des Lebens weitverbreitet ist und bis ins Maßlose hinein medizinisch und pharmakologisch ins Werk gesetzt wird. Die Rede von der Zukunft ist wohl eher eine Metapher für das Verlangen, dass das Leben finaliter einen Sinn gehabt haben wird in einer Welt, die ihrerseits nicht ohne Sinn bleibt. Drängender jedoch stellt sich die Frage, ob das Leben über die Welt hinaus, angesichts des größtmöglichen Weltverlustes - angesichts des Todes - auf ein sinnvolles Wohin gerichtet werden kann.
    "Sehe ich das Leben vergehen, so träume ich etwas."
    Erneut sei Fernando Pessoa als Zeuge und Gewährsmann bemüht, als Autor einer Apologie des Traums. Und wenn er gleich im ersten der nun folgenden Sätze von einem "Ding" spricht, so sind wir sofort inmitten unseres Themas, wenn wir statt "Ding" vom "Tod" sprechen.
    "Jedes Ding ist, je nachdem, wie man es betrachtet, ein Wunder oder ein Hemmnis, ein Alles oder ein Nichts, ein Weg oder ein Problem. Es immer wieder anders betrachten heißt, es erneuern und vervielfältigen. Daher hat ein kontemplativer Mensch, ohne sein Dorf zu verlassen, gleichwohl das Ganze Universum zu seiner Verfügung. Das Unendliche findet sich in einer Zelle wie in einer Wüste. Auf einem Stein kann man kosmisch schlafen."
    Da ist zunächst die Rede von einer Kontemplation. Wer das "Ding" - sprich den Tod - kontempliert, tut etwas anderes als ihn begrifflich zu analysieren und er tut etwas anderes als das Sterben zu moralisieren: Nicht wie wir sterben dürfen, steht nun als Frage im Vordergrund, sondern wohin wir sterben. Wer kontempliert, verlässt nicht mehr sein Dorf, das Leben ist des Lebens genug, er nimmt an der Weltgestaltung nur noch geringen Anteil, an der Welteroberung gar nicht mehr. Hier fällt jemand in einen Schlaf, noch bevor das große Schlafen angefangen hat.
    Des Weiteren wird auf eine Vervielfältigung unseres Sehens, eine Verjüngung unserer Perspektiven verwiesen. Das Träumen - im Schlaf, am Tage und in der Imagination - ist nicht die Gewähr für eine andere oder höhere Wirklichkeit, die es da gäbe auch ohne die Nacht und den Traum. Aber angesichts des Todes gibt es tatsächlich ein außerordentlich intensiviertes imaginatives Erleben, wie man auch aus der Psychiatrie und sogar der Soziologie weiß.
    Der Traum und die Imagination vermögen es, uns zumindest zu einem Perspektivenwechsel zu bewegen. Wir können nun die Dinge als "ein Wunder oder ein Hemmnis, ein Alles oder Nichts" betrachten, wir können den Tod als "ein[en] Weg oder ein Problem" auffassen, um mit Pessoa zu reden. Mit dem Tod vor Augen und dem Sterben in Aussicht bleibt uns vielleicht nur noch das Träumen übrig. Ob uns das einen Vorsprung zu den ganz und gar abstinent und nüchtern Gebliebenen verschafft, bleibt vorerst ungewiss. Der Schlaf, der Traum und die Imagination - sie sind gewissermaßen die schattenhaften neuen Örtlichkeiten und die Nacht ist ebenso Medium wie Metapher für die andere Seite unserer Realität.
    "Nachts tauche ich in einen Strom, der immer vorhanden ist, aus dem ich komme und in den ich später wieder eingehen werde."
    hieß es bei Ingrid Bachér. Nun ist diese Rede von einem Strom, der sich dem Tagesbewusstsein entzieht, keine literarische Erfindung. Der französische Philosoph Henri Bergson hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts auf zwei verschiedene Erfahrungen der Dauer hingewiesen, auf eine quantitative und eine qualitative. Wir messen in unserem täglichen Tun und Lassen die Zeit, wir quantifizieren die Dauer. Im Traum, so Bergson,
    "messen [wir] die Dauer [ ... ] nicht mehr, sondern wir fühlen sie; sie kehrt von der Quantität in den Zustand der Qualität zurück."
    Wir müssen unser Leben führen, indem wir uns in der Zeit orientieren, dort handeln und die Bedürfnisse des Lebens befriedigen. Das geht nicht ohne Messung und Quantifizierung. Bergson nennt diese Zeit "die verräumlichte Zeit". Aber daneben existiert eine andere Dauer und mit ihr das Gefühl einer tieferen Zeit, worin sich unsere Wahrnehmung verdichtet und die Dinge sich bis zum Stillstand verlangsamen können. Hier müssen wir nicht handeln, hier wartet keine Welt auf unsere Interventionen. Wir müssen allerdings auf sie hören wollen.
    "Ich erkenne übrigens an, dass wir uns für gewöhnlich in die verräumlichte Zeit versetzen. Wir haben keinerlei Interesse daran, dem ununterbrochenen Summen des tiefen Lebens zu lauschen. Und doch ist die reale Dauer da."
    In dieser "verräumlichten Zeit" leben wir unser Leben - wir gestalten es, arbeiten, leiden und lieben dort, sorgen uns und versuchen, ihm so gut wie möglich Stabilität und Bedeutung zu geben. Was dort stattfindet, hat Hans Blumenberg "Zeitfüllung" genannt oder auch "Musszeit": Das Leben ist hier von der Diktion geprägt, können zu müssen. Wer nicht kann oder nicht fähig ist mitzuhalten, verliert schnell den Anschluss, nicht nur an die anderen, sondern auch an die eigene Existenz. Dort ist die Zeit dazu da, das Leben zu füllen, zu bauen und Dinge ins Werk zu setzen. Davon zu unterscheiden ist jedoch die "Erfüllungszeit" oder die "Kannzeit". Sie ist geprägt von Momenten erfüllten Daseins, der "verräumlichten Zeit" enthobenen Glücks, zeitweiligen Gelingens. Und angesichts der Lebenswidrigkeiten suchen wir die Erfüllung nicht selten in der Imagination, im Traum und in der anderen Zeit der Nacht. Wir hoffen auf eine andere Dauer.
    Der Tod aber lässt sich als die Lebenswidrigkeit "par excellence" bezeichnen, er ist wider das Leben. Der Tod durchkreuzt endgültig die Zeitfüllung, denn er beendet unser Leben. Mit Blick auf das Sterben gelangt damit die Musszeit an ihre buchstäbliche Grenze. Wie lässt sich jedoch der Tod mit einer "Erfüllungszeit" in Verbindung bringen? Denn wenn es stimmt, dass wir in der "Zeitfüllung", die unser Leben benötigt, können müssen, wie kann man dann von Erfüllung sprechen, wenn wir angesichts des Todes nicht einmal mehr können können? Die "Erfüllungszeit" ist die Zeit einer "qualitativen Dauer, der Ort, wo das "ununterbrochene Summen des tiefen Lebens", wie es Bergson nannte, zu vernehmen sei. Finden wir womöglich Trost in diesen Gefilden, wo auch die Träume und unsere Imaginationen zu Hause sind, Trost angesichts der Trostlosigkeit, die der gänzlich deutungslose und bedeutungslose Tod hinterlassen würde?
    Nicht erst im Sterben werden wir zu trostbedürftigen Wesen. Trost brauchen wir, weil sich bestimmte Lebensfragen einer Lösung verweigern. Die Frage, wie wir mit unserem Geborensein, unserer Nativität, und wie wir mit unserer Sterblichkeit, unserer Mortalität, umgehen, lässt sich mit kalter Rationalität nicht beantworten. Ihre Unlösbarkeit macht jene Frage erst recht hartnäckig und unabweisbar. Und Anfang und Ende des Lebens sind keine Sachverhalte, die sich lediglich auf den Anfang und auf das Ende des Lebens beziehen, sondern Fragen, die das Ganze des Lebens betreffen.
    "Die Fragen, die der Tod aufgibt, sind nur äußerlich Fragen des Endes; ihrer wahren Natur nach sind sie Fragen von allem Anfang an, die dem Leben des Menschen inhärieren und deren Unlösbarkeit seine Trostbedürftigkeit konstitutiv macht",
    schreibt der Philosoph Hans Blumenberg. Aber was ist überhaupt Trost und - etwas unterkühlt ausgedrückt - wie funktioniert er? Blumenberg bezieht sich in seinem Buch "Beschreibung des Menschen" und dort in dem schönen Kapitel mit der Überschrift "Trostbedürfnis und Untröstlichkeit des Menschen" auf eine Stelle aus dem Tagebuch Georg Simmels, wo dieser über den Trost reflektiert.
    "Der Mensch ist ein trostsuchendes Wesen. Trost ist etwas anderes als Hilfe - sie sucht auch das Tier; aber der Trost ist das merkwürdige Erlebnis, das zwar das Leiden bestehen lässt, aber sozusagen das Leiden am Leiden aufhebt, er betrifft nicht das Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele."
    Trost ist keine Hilfe
    Diese Sätze sind äußerst genau. Der Trost ist in der Tat keine Hilfe. Er behebt nicht ein Problem. Er lässt das Leiden nicht verschwinden. Hilfsbedürftig bleibt der Mensch sowohl in als auch nach der Tröstung. Wenn Hilfe gelingt, ist ein Mangel behoben worden, ein Problem wurde gelöst. Diese Wirkung lässt sich im Trost aber nicht erzielen. Dann aber stellt sich die Frage, weshalb wir den Trost aufsuchen, nach einer Tröstung so hartnäckig verlangen und auf sie hoffen. Wenn es da nichts zu lösen gibt, warum sollten wir den Trost dann nicht als Betrug auffassen? Ist da ein Trostspender als Betrüger am Werke, der nicht nur betrügen will, sondern muss, weil der Trostsuchende den Betrug geradezu verlangt? Oder ist da womöglich ein anderes Einverständnis zwischen beiden vorhanden?
    Die Tröstung hat - anders als das Helfen - vor allem mit einer psychischen Disposition zu tun, und zwar sowohl aufseiten des Tröstenden als auch des Trostsuchenden. Das sagte Simmel klar und deutlich: Der Trost beseitigt nicht das "Übel selbst, sondern dessen Reflex in der tiefsten Instanz der Seele". Er verschiebt gewissermaßen die Aufmerksamkeit. Der Grund des Leidens - die Erkrankung, der Schmerz, die Not - wird nicht mittels eines Hilfsmittels behoben, sondern beiseitegeschoben, indem die Aufmerksamkeit, die psychische Bezogenheit auf das Leiden - auf das "Leiden am Leiden" - eine Weile transferiert wird. Die leidende Person vergisst gewissermaßen eine Zeit lang ihr Leiden oder besser gesagt: Sie leidet für die Dauer der Tröstung nicht mehr am Leiden.
    Die Zeit der Tröstung ist nicht die Zeit des Helfens. Der Trost kann gelingen, weil er im Sinne der Hilfe nicht gelingen muss. Auch der Trost kann misslingen, aber es fällt sehr viel schwerer zu sagen, woran das liegt. Echte Strategien der Tröstung existieren vermutlich nicht, trösten lässt sich schlecht lernen. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass die Tröstung in einer anderen Zeit stattfindet.
    Die Toten waren schon immer anderswo
    Die Toten waren schon immer anderswo. Wie gesagt - vielleicht gehört es zum traurigen Privileg unserer Kultur, sie nirgends mehr zu vermuten. Das Anderswo der Toten befand sich immer außerhalb der "verräumlichten Zeit", obwohl sie, rein räumlich und also nicht zeitlich betrachtet, oftmals ganz in der Nähe weilten - in ihren Höhlen und Grabstätten, unter- und oberirdisch, im Haus der Hinterbliebenen oder außerhalb. Aber sie waren in eine andere Zeit eingekehrt. Dort wussten sie von uns. Sibylle Lewitscharoff hat ein schönes Bild dafür gefunden, das Bild vom "Großen Totenohr":
    "Wie fein die Toten hören! Zu einem Riesenohr vereinigt, segeln ihre Ohren am Himmel und überspannen ihn zu weiten Teilen. Was sich von Zungen löst, was sich in Hirnen formt, erzählte Worte, geträumte Worte, Worte ohne Klang, sie alle werden vom Großen Totenohr erlauscht."
    Die Toten sind uns vorausgegangen. Vielleicht warten sie auf uns. Sie sind vermutlich nicht in der Lage, uns hier und jetzt zu helfen. Die Zeitfüllung gehört nicht zu ihren Aufgaben. Aber trösten können sie. Wer weiß, die Zeit der Erfüllung steht womöglich noch aus.