Ute Wegmann: Geboren sind Sie 1978 in Oberhausen, aufgewachsen in Bonn. Sie haben europäische Ethnologie und Politikwissenschaften in Bonn und Warschau studiert. Was verbindet Sie mit Warschau?
Stefanie de Velasco: Ich wollte eigentlich nach Frankreich, habe mich aber zu spät entschieden für den "Erasmus"-Aufenthalt, dann waren keine Plätze mehr frei. Das war 2004, als viele osteuropäische Länder der EU beitraten und dann dachte ich, es ist bestimmt spannend, den Übergang mitzuerleben.
Wegmann: Welches Berufsziel hat man mit diesem Studium?
de Velasco: Ja, Schriftstellerin! - Ich hab damals etwas studiert, was mir Spaß gemacht hat, das klingt vielleicht jetzt romantisch und hippiemäßig. Aber ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich nicht diesen Roman geschrieben hätte. Ich hoffe, ich muss mir die nächsten Jahre jetzt keine Gedanken machen.
Wegmann: Nun sind Sie in der Literatur angekommen. Zweiter Platz beim Jungen Literaturpreis des Pfaffenhofener Kunstvereins, waren nominiert für den "aspekte"-Literaturpreis, und schon in den Jahren zuvor erfuhren Sie Anerkennung Ihrer Arbeit in Form von Stipendien. Jürgen-Ponto-Stiftung, Kunsthaus Schöppingen. Haben Sie mit diesem Geld den Roman "Tigermilch" geschrieben?
de Velasco: Das ist das Schöne, das man in Deutschland noch einen so gut gestrickten Stipendienteppich hat, der einem ermöglicht am Roman zu arbeiten. Natürlich war das eine finanzielle Hilfe, klar.
Wegmann: In unserem Vorgespräch haben Sie etwas Interessantes gesagt. Sie haben gesagt: Ja, mit dem Schreiben, das ist schon eine ganz schöne Anstrengung und man muss sich immer fernhalten von Erschütterungen. Was haben Sie damit gemeint?
de Velasco: Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, aber wenn man so etwas Langes schreibt, und ich hab leider keine Ideen für kurze Geschichten, bei mir werden es immer gleich 200, 300 Seiten, das ist dann wie ein Marathonlauf. Wenn das Leben während des Schreibens große Erschütterungen erlebt, - manche kann man ja gar nicht bestimmen ...
Zum Beispiel sich verlieben: eine Erschütterung, die nicht gut ist, während man einen Roman schreibt. Das habe ich damit gemeint, dass ich glaube, dass man sich sehr verkriecht, dass man nicht wirklich lebt, weil man ja im Roman das Leben ein bisschen simuliert. Das ganze Leben geht eigentlich in den Text.
Wegmann: Also Sie sind dann in einer Parallelwelt unterwegs?
de Velasco: Ja, Parallelwelt - es ist eher so, dass man träumt. Ein drei Jahre andauernder Tagtraum. Eher so.
Wegmann: Sie leben jetzt in Berlin. Der Roman spielt in Berlin. Wilmersdorf, Charlottenburg, der Straßenstrich Kurfürstenstraße. Hätten Sie diesen Roman, mit dieser Direktheit, der Freiheit und dem Tempo auch schreiben können, ohne Berlin zu kennen?
de Velasco: Ich glaube ja nicht, dass das ein Roman ist, der so sehr an die Stadt gebunden ist. Es ist kein Berlinroman. Aber in einer Stadt wie Berlin ist natürlich die soziale Kontrolle nicht so hoch. Da können vielmehr Dinge passieren. In meiner Heimatstadt Bonn gibt es, glaube ich, gar keinen Straßenstrich, zumindest keiner, der tagsüber funktioniert. Alleine deswegen könnte das gar nicht dort spielen.
Wegmann: Nun sind Sie selber Mitte 30 und auch schon etwas entfernt von den heute 14-Jährigen. Was hat Sie daran interessiert, einen Roman über diese Generation zu schreiben?
de Velasco: Bei diesem Roman war es nicht so, dass ich mir überlegt habe, ich möchte einen Pubertätsroman schreiben. Ich hatte die ersten 20 Seiten, ich hatte diese Ich-Erzählerin, und dann war mir klar, dass die so eine Sogwirkung auf mich hatte und dass ich da irgendwie dran bleiben muss.
Das Alter interessiert mich natürlich schon, weil es eine sehr besondere Zeit ist, die so auch nicht mehr wieder kommt. Da werden auch so viele Weichen gestellt, sowohl positiv als auch negativ. Viele Dinge, die in dem Alter passieren, kann man nicht mehr rückgängig machen, wie wenn man erwachsen ist. Das finde ich nach wie vor sehr spannend: das Unausweichliche der Jugend.
Wegmann: Kurz zum Inhalt: zwei 14-Jährige - Nini und Jarmeelah, zwei Mädchen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, die sich auf besondere Art und Weise genau darauf vorbereiten. Die Familiensituation: Ninins Mutter ist depressiv, mit Alkoholproblemen, der Vater abwesend. Jarmeelah lebt, als Iranerin in ständiger Angst vor der Abschiebung, mit ihrer Mutter zusammen, Vater und Bruder wurden im Irak getötet. Es gibt eine Reihe weiterer Figuren, ich will gar nicht sagen, Nebenfiguren, weil sie sehr wichtig sind: Nico den Sprayer und Freund Amir und seine Familie, mit älterem Bruder Tarik, dem ein Serbe im Krieg den Unterschenkel weggeschossen hat, und die ältere Schwester Jasna. Und es gibt Lukas, ein Junge, der Bücher liest. Eine bunte Mischung.
"Cool und pomade" üben die beiden 14-Jährigen ihre Entjungferung. Können Sie sich noch daran erinnern, was der Auslöser war für diese Figur und den Ton.
de Velasco: Ich erinnere mich, aber ich kann es nicht rekonstruieren. Es ist ja nicht so, dass man sich hinsetzt, Figuren überlegt und dann überlegt, wie die sprechen. Ich erinnere mich, dass mir eine Freundin von dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße erzählt hat. Und dann hat sie diesen Satz gesagt. Und stell dir mal vor, die rennen wirklich rüber vom Schulhof mit ihren Ringelsocken und stellen sich dann da einfach hin.
Die beiden Figuren gibt es natürlich nicht. Da stehen ganz andere Mädchen, die tun das natürlich nicht aus Neugierde, weil sie sich für das erste Mal wappnen müssen. Aber das Motiv fand ich spannend, das fand ich unerhört, dass man sich auf etwas vorbereiten will, was mit romantischen Symbolen besetzt ist und das so ganz unromantisch angeht.
Wegmann: Sie waren im Jahr 1992 14 Jahre alt. Wie unterscheidet sich Pubertät heute von damals?
de Velasco: Es gibt bestimmt einen Unterschied, aber ich kann das nicht beantworten, weil ich für diesen Roman sehr sehr wenig recherchiert habe und das auch ganz bewusst. Ich als Autorin habe mich daran orientiert, eine emotionale Authentizität festzuhalten und nicht versuchen, den Jugendlichen von heute aufs Maul zu schauen. Das kann, glaube ich, ganz schön nach hinten losgehen.
Wegmann: Das Social Web, Handy, Facebook spielt so gut wie keine Rolle. Interessant!
de Velasco: Ja, das spielt eine geringe Rolle, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass viele Kinder dort, wo ich sehr lange gelebt habe, nämlich in Berlin-Kreuzberg und Neukölln, sich das gar nicht leisten können. Viele Familien haben da noch gar kein Internet und die Kinder haben auch nicht die neusten iPhones und schreiben sich die ganze Zeit WhatsApp-Nachrichten. Ich habe versucht, das wegzulassen. Ich fand das irgendwie nicht interessant.
Wegmann: Die Jugendlichen sind auf sich gestellt, haben keine emotionalen Bindungen an ein Zuhause, die wenigen Erwachsenen sind mit sich selber beschäftigt, wirken verbittert, verstört, verängstigt. Alkohol als Problem ist ein Thema. Auch die beiden sind damit beschäftigt mit ihrer "Tigermilch". Da gibt es Sätze wie: "Die Welt ist verfault" - "Mit Alkohol kann man die ganze verfaulte Welt aufwischen." (S.136) Ist Ihr Roman auch eine Gesellschaftskritik?
de Velasco: Ja, aber nicht am Alkoholismus festgemacht. Ich weiß nicht. Es hat mich interessiert, zwei Figuren, die am Rande der Gesellschaft stehen in die Mitte zu holen, aber nicht, damit sie einen Sozialbonus bekommen, sondern weil ich denke, das sind auch wirklich noch Heldinnen. Was soll ich über Mädchen schreiben, die jeden Tag hinter dunklen Fensterscheiben zum Querflötenunterricht gefahren werden. Das ist uninteressant, denen passiert ja auch nichts. Aber diesen Mädchen kann noch was passieren und das macht auch eine spannende Geschichte aus.
Ja, vielleicht hab ich sie auch ein bisschen benutzt und es ist deswegen auch besonders unkritisch. Ich weiß es nicht. Das Milieu hat mich interessiert, weil es dunkel und unbehütet ist.
Wegmann: Nun sagen diese beiden 14-Jährigen auch: "Man hat ein echtes Leben, in dem man voll drin ist ..." (S. 142) oder sie können "Männer zum Leuchten" bringen. Ich finde beide immer sehr authentisch, aber das war ein Moment, wo ich gedacht habe: Können 14-Jährige schon ein echtes Leben von einem falschen unterscheiden? Oder sind die beiden, bedingt durch ihre familiäre Situation, und weil sie viel auf der Straße unterwegs sind, frühreif?
de Velasco: Sie unterscheiden nicht ein echtes Leben von einem falschen, sondern sie unterscheiden das Leben eines Jugendlichen von einem Erwachsenen. Ich glaube, dass man zwischen 14 und 18 sehr sensibel ist für ganz bestimmte Dinge und deswegen haben auch viele Lehrer Angst vor diesem Alter. Nicht weil das so rüpelhafte Menschen sind, sondern weil die einen komplett durchschauen. Man kann den Jugendlichen, fast schon Erwachsenen nichts vormachen. Die bringen eine Schläue mit, die dann auch wieder verschwindet, die an diese Zeit gekoppelt ist. Da bin ich fest von überzeugt. Und der Roman spielt halt in dieser Zeit, wo so viel so schnell klar ist, ohne dass man diese Erfahrung gemacht hat. Das habe ich versucht, durch solche Wahrnehmungen zu erzählen.
Wegmann: Geht die Kritik der Mädchen dahin, dass sie sagen, die Erwachsenen, die sich zu sehr angepasst haben, die unglücklich sind, die leben ein falsches Leben? Sie spüren sich noch im echten Leben.
de Velasco: Ja genau, weil das Erwachsenenleben ja gerade erst begonnen hat. Jugend ist das erste Mal erwachsen sein. Alles, was man zum ersten Mal macht, ist aufregend. Und je öfter man Sachen gemacht hat, um so mehr nutzt sich das Gefühl ab. Egal, ob es ein erstes Mal Toast machen oder erster Sex ist. Darum geht es. Nicht so sehr um das Angepasstsein, mehr um die Abnutzung. Man kann ja gar nichts dafür. Das ist einfach so.
Wegmann: Die Geschichte wird eskalieren. Die Mädchen werden Zeuginnen eines Verbrechens. Der Umgang mit dem Wissen wird sie spalten, ihre Freundschaft auf die Probe stellen, obwohl sie beide wissen, was Recht und Unrecht ist, obwohl sie beide intuitiv richtig handeln möchten. Hier wollen wir nicht zu viel verraten.
Mich interessiert an der Gesamtkonstruktion ihres Romans ein weiteres Thema, das sich durch den Roman zieht. Die Präsenz der Krieg, die Kriege, die in Europa oder in der Welt ausgetragen wurden, aber in Deutschland auf anderer Ebene weitergeführt werden.
Da ist Tarik, Amirs Bruder, mit seinem Hass gegen die Serben und somit Vertreter des Balkankrieges. Der Rollstuhlfahrer, ein Freier der Mädchen, Ex-Soldat ohne Beine, war in Afghanistan.
Hat der Krieg generell mehr Präsenz und Einfluss auf unseren Alltag und das Leben der Menschen, als wir uns selber eingestehen wollen?
de Velasco: Auf jeden Fall. Wenn man schon so etwas hört wie: Die Kriegshandlungen sind beendet. Damals hat das Bush gesagt, als die Invasion beendet war. Aber der Krieg fängt doch erst richtig an, wenn die Kriegshandlungen vorbei sind. Wenn man sich erinnert, und wie erzählt sich jemand, der so etwas erlebt hat, seine eigene Geschichte. Und wenn diese Menschen aus ihren Krisengebieten nach Deutschland kommen, ist es ja nicht damit getan, ihnen Asyl zu geben und so zu tun, als wäre alles wunderbar. Jetzt lernen sie ein bisschen Deutsch und dann wird das schon wieder, dadurch wird es natürlich auch ein Teil der deutschen Geschichte. Das ist eine Wechselwirkung und das fand ich spannend. Ich hab das jetzt schön öfter erlebt, dass "Tigermilch" als Migrationsroman gesehen wird. Das ist es aber nicht. Es ist ein ganz deutscher Roman, deshalb steht auch am Anfang ein Eichendorff-Zitat. Es geht darum, was Deutschland bedeutet und das gehört genau so dazu.
Wegmann: Wollten Sie den Krieg in den gewaltvollen Handlungen spiegeln?
de Velasco: Ich weiß nicht. Gute Frage. Ich wollte zeigen, dass es nicht einfach damit getan ist, dass man den Menschen Asyl gewährt und dass dann alles gut ist. Das betrifft ja nicht nur die neuen Konflikte. Gerade wir Deutschen müssten ja wissen, was es bedeutet, von Kriegen traumatisiert zu sein. Und dieser Mangel an Mitgefühl, den bedauere ich einfach sehr, dass das einfach ausgeblendet wird.
Wegmann: "Tigermilch" ist auch ein Roman über das Ende einer Kindheit. Das ist schön, damit beginnen Sie Ihren Roman, dass Nini sagt, sie habe zum ersten Mal Kindheitserinnerungen, als muss die Kindheit vorüber sein. Zum Schluss gibt es eine Erkenntnis und gleichzeitig ein schönes Plädoyer für Freundschaft:
" ... ich weiß nur, dass wir immer dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein." (S.280)
Offener Schluss, die harte Erkenntnis der Realität, dass immer was schief laufen kann, aber ich lese das nicht schwer, sondern ich sehe da Hoffnung: Wie sehen Sie es? Wie ist es gemeint?
de Velasco: Nein, das ist nicht so hoffnungsvoll gemeint. Die Ich-Erzählerin weiß - das ist der letzte Satz des Buches -, dass sie ab jetzt alleine weitergehen muss und dass das nicht gut gehen wird, weil sie weiß, dass alleine ihr etwas Schlimmes passieren wird.
Wegmann: Dass sie es alleine doch nicht schafft.
de Velasco: Ja.
Wegmann: Also ein Plädoyer für die Freundschaft und den Zusammenhalt.
de Velasco: Auf jeden Fall bei den beiden Mädchen. Die haben ja sonst niemanden. Außer sich!
Wegmann: Mich haben die beiden Mädchenfiguren in ihrer Zerrissenheit gleichzeitig angerührt und begeistert, mir hat die Geschichte gut gefallen und auch Ihr Ton, der frisch und kraftvoll nah an der Lebenswelt der jungen Leute ist.
Eigentlich überflüssig, Vergleiche herzustellen, dennoch verwundert es nicht, dass dem ein oder anderen Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" in den Sinn kommt. Ebenso unaufgesetzt und ohne Jugendjargonallüren, wie es Herrndorf in "Tschick" gelungen ist, gelingt es Ihnen in "Tigermilch" uns durch eine pubertäre, noch kindliche und doch schon viel zu erwachsene Parallelwelt zu führen.
Stefanie de Velasco, herzlichen Dank für Lesung und Gespräch. Wir sprachen über:
"Tigermilch", 280 Seiten, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.
Stefanie de Velasco: Ich wollte eigentlich nach Frankreich, habe mich aber zu spät entschieden für den "Erasmus"-Aufenthalt, dann waren keine Plätze mehr frei. Das war 2004, als viele osteuropäische Länder der EU beitraten und dann dachte ich, es ist bestimmt spannend, den Übergang mitzuerleben.
Wegmann: Welches Berufsziel hat man mit diesem Studium?
de Velasco: Ja, Schriftstellerin! - Ich hab damals etwas studiert, was mir Spaß gemacht hat, das klingt vielleicht jetzt romantisch und hippiemäßig. Aber ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich nicht diesen Roman geschrieben hätte. Ich hoffe, ich muss mir die nächsten Jahre jetzt keine Gedanken machen.
Wegmann: Nun sind Sie in der Literatur angekommen. Zweiter Platz beim Jungen Literaturpreis des Pfaffenhofener Kunstvereins, waren nominiert für den "aspekte"-Literaturpreis, und schon in den Jahren zuvor erfuhren Sie Anerkennung Ihrer Arbeit in Form von Stipendien. Jürgen-Ponto-Stiftung, Kunsthaus Schöppingen. Haben Sie mit diesem Geld den Roman "Tigermilch" geschrieben?
de Velasco: Das ist das Schöne, das man in Deutschland noch einen so gut gestrickten Stipendienteppich hat, der einem ermöglicht am Roman zu arbeiten. Natürlich war das eine finanzielle Hilfe, klar.
Wegmann: In unserem Vorgespräch haben Sie etwas Interessantes gesagt. Sie haben gesagt: Ja, mit dem Schreiben, das ist schon eine ganz schöne Anstrengung und man muss sich immer fernhalten von Erschütterungen. Was haben Sie damit gemeint?
de Velasco: Ich weiß nicht, wie das bei anderen ist, aber wenn man so etwas Langes schreibt, und ich hab leider keine Ideen für kurze Geschichten, bei mir werden es immer gleich 200, 300 Seiten, das ist dann wie ein Marathonlauf. Wenn das Leben während des Schreibens große Erschütterungen erlebt, - manche kann man ja gar nicht bestimmen ...
Zum Beispiel sich verlieben: eine Erschütterung, die nicht gut ist, während man einen Roman schreibt. Das habe ich damit gemeint, dass ich glaube, dass man sich sehr verkriecht, dass man nicht wirklich lebt, weil man ja im Roman das Leben ein bisschen simuliert. Das ganze Leben geht eigentlich in den Text.
Wegmann: Also Sie sind dann in einer Parallelwelt unterwegs?
de Velasco: Ja, Parallelwelt - es ist eher so, dass man träumt. Ein drei Jahre andauernder Tagtraum. Eher so.
Wegmann: Sie leben jetzt in Berlin. Der Roman spielt in Berlin. Wilmersdorf, Charlottenburg, der Straßenstrich Kurfürstenstraße. Hätten Sie diesen Roman, mit dieser Direktheit, der Freiheit und dem Tempo auch schreiben können, ohne Berlin zu kennen?
de Velasco: Ich glaube ja nicht, dass das ein Roman ist, der so sehr an die Stadt gebunden ist. Es ist kein Berlinroman. Aber in einer Stadt wie Berlin ist natürlich die soziale Kontrolle nicht so hoch. Da können vielmehr Dinge passieren. In meiner Heimatstadt Bonn gibt es, glaube ich, gar keinen Straßenstrich, zumindest keiner, der tagsüber funktioniert. Alleine deswegen könnte das gar nicht dort spielen.
Wegmann: Nun sind Sie selber Mitte 30 und auch schon etwas entfernt von den heute 14-Jährigen. Was hat Sie daran interessiert, einen Roman über diese Generation zu schreiben?
de Velasco: Bei diesem Roman war es nicht so, dass ich mir überlegt habe, ich möchte einen Pubertätsroman schreiben. Ich hatte die ersten 20 Seiten, ich hatte diese Ich-Erzählerin, und dann war mir klar, dass die so eine Sogwirkung auf mich hatte und dass ich da irgendwie dran bleiben muss.
Das Alter interessiert mich natürlich schon, weil es eine sehr besondere Zeit ist, die so auch nicht mehr wieder kommt. Da werden auch so viele Weichen gestellt, sowohl positiv als auch negativ. Viele Dinge, die in dem Alter passieren, kann man nicht mehr rückgängig machen, wie wenn man erwachsen ist. Das finde ich nach wie vor sehr spannend: das Unausweichliche der Jugend.
Wegmann: Kurz zum Inhalt: zwei 14-Jährige - Nini und Jarmeelah, zwei Mädchen zwischen Kindheit und Erwachsenwerden, die sich auf besondere Art und Weise genau darauf vorbereiten. Die Familiensituation: Ninins Mutter ist depressiv, mit Alkoholproblemen, der Vater abwesend. Jarmeelah lebt, als Iranerin in ständiger Angst vor der Abschiebung, mit ihrer Mutter zusammen, Vater und Bruder wurden im Irak getötet. Es gibt eine Reihe weiterer Figuren, ich will gar nicht sagen, Nebenfiguren, weil sie sehr wichtig sind: Nico den Sprayer und Freund Amir und seine Familie, mit älterem Bruder Tarik, dem ein Serbe im Krieg den Unterschenkel weggeschossen hat, und die ältere Schwester Jasna. Und es gibt Lukas, ein Junge, der Bücher liest. Eine bunte Mischung.
"Cool und pomade" üben die beiden 14-Jährigen ihre Entjungferung. Können Sie sich noch daran erinnern, was der Auslöser war für diese Figur und den Ton.
de Velasco: Ich erinnere mich, aber ich kann es nicht rekonstruieren. Es ist ja nicht so, dass man sich hinsetzt, Figuren überlegt und dann überlegt, wie die sprechen. Ich erinnere mich, dass mir eine Freundin von dem Straßenstrich in der Kurfürstenstraße erzählt hat. Und dann hat sie diesen Satz gesagt. Und stell dir mal vor, die rennen wirklich rüber vom Schulhof mit ihren Ringelsocken und stellen sich dann da einfach hin.
Die beiden Figuren gibt es natürlich nicht. Da stehen ganz andere Mädchen, die tun das natürlich nicht aus Neugierde, weil sie sich für das erste Mal wappnen müssen. Aber das Motiv fand ich spannend, das fand ich unerhört, dass man sich auf etwas vorbereiten will, was mit romantischen Symbolen besetzt ist und das so ganz unromantisch angeht.
Wegmann: Sie waren im Jahr 1992 14 Jahre alt. Wie unterscheidet sich Pubertät heute von damals?
de Velasco: Es gibt bestimmt einen Unterschied, aber ich kann das nicht beantworten, weil ich für diesen Roman sehr sehr wenig recherchiert habe und das auch ganz bewusst. Ich als Autorin habe mich daran orientiert, eine emotionale Authentizität festzuhalten und nicht versuchen, den Jugendlichen von heute aufs Maul zu schauen. Das kann, glaube ich, ganz schön nach hinten losgehen.
Wegmann: Das Social Web, Handy, Facebook spielt so gut wie keine Rolle. Interessant!
de Velasco: Ja, das spielt eine geringe Rolle, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass viele Kinder dort, wo ich sehr lange gelebt habe, nämlich in Berlin-Kreuzberg und Neukölln, sich das gar nicht leisten können. Viele Familien haben da noch gar kein Internet und die Kinder haben auch nicht die neusten iPhones und schreiben sich die ganze Zeit WhatsApp-Nachrichten. Ich habe versucht, das wegzulassen. Ich fand das irgendwie nicht interessant.
Wegmann: Die Jugendlichen sind auf sich gestellt, haben keine emotionalen Bindungen an ein Zuhause, die wenigen Erwachsenen sind mit sich selber beschäftigt, wirken verbittert, verstört, verängstigt. Alkohol als Problem ist ein Thema. Auch die beiden sind damit beschäftigt mit ihrer "Tigermilch". Da gibt es Sätze wie: "Die Welt ist verfault" - "Mit Alkohol kann man die ganze verfaulte Welt aufwischen." (S.136) Ist Ihr Roman auch eine Gesellschaftskritik?
de Velasco: Ja, aber nicht am Alkoholismus festgemacht. Ich weiß nicht. Es hat mich interessiert, zwei Figuren, die am Rande der Gesellschaft stehen in die Mitte zu holen, aber nicht, damit sie einen Sozialbonus bekommen, sondern weil ich denke, das sind auch wirklich noch Heldinnen. Was soll ich über Mädchen schreiben, die jeden Tag hinter dunklen Fensterscheiben zum Querflötenunterricht gefahren werden. Das ist uninteressant, denen passiert ja auch nichts. Aber diesen Mädchen kann noch was passieren und das macht auch eine spannende Geschichte aus.
Ja, vielleicht hab ich sie auch ein bisschen benutzt und es ist deswegen auch besonders unkritisch. Ich weiß es nicht. Das Milieu hat mich interessiert, weil es dunkel und unbehütet ist.
Wegmann: Nun sagen diese beiden 14-Jährigen auch: "Man hat ein echtes Leben, in dem man voll drin ist ..." (S. 142) oder sie können "Männer zum Leuchten" bringen. Ich finde beide immer sehr authentisch, aber das war ein Moment, wo ich gedacht habe: Können 14-Jährige schon ein echtes Leben von einem falschen unterscheiden? Oder sind die beiden, bedingt durch ihre familiäre Situation, und weil sie viel auf der Straße unterwegs sind, frühreif?
de Velasco: Sie unterscheiden nicht ein echtes Leben von einem falschen, sondern sie unterscheiden das Leben eines Jugendlichen von einem Erwachsenen. Ich glaube, dass man zwischen 14 und 18 sehr sensibel ist für ganz bestimmte Dinge und deswegen haben auch viele Lehrer Angst vor diesem Alter. Nicht weil das so rüpelhafte Menschen sind, sondern weil die einen komplett durchschauen. Man kann den Jugendlichen, fast schon Erwachsenen nichts vormachen. Die bringen eine Schläue mit, die dann auch wieder verschwindet, die an diese Zeit gekoppelt ist. Da bin ich fest von überzeugt. Und der Roman spielt halt in dieser Zeit, wo so viel so schnell klar ist, ohne dass man diese Erfahrung gemacht hat. Das habe ich versucht, durch solche Wahrnehmungen zu erzählen.
Wegmann: Geht die Kritik der Mädchen dahin, dass sie sagen, die Erwachsenen, die sich zu sehr angepasst haben, die unglücklich sind, die leben ein falsches Leben? Sie spüren sich noch im echten Leben.
de Velasco: Ja genau, weil das Erwachsenenleben ja gerade erst begonnen hat. Jugend ist das erste Mal erwachsen sein. Alles, was man zum ersten Mal macht, ist aufregend. Und je öfter man Sachen gemacht hat, um so mehr nutzt sich das Gefühl ab. Egal, ob es ein erstes Mal Toast machen oder erster Sex ist. Darum geht es. Nicht so sehr um das Angepasstsein, mehr um die Abnutzung. Man kann ja gar nichts dafür. Das ist einfach so.
Wegmann: Die Geschichte wird eskalieren. Die Mädchen werden Zeuginnen eines Verbrechens. Der Umgang mit dem Wissen wird sie spalten, ihre Freundschaft auf die Probe stellen, obwohl sie beide wissen, was Recht und Unrecht ist, obwohl sie beide intuitiv richtig handeln möchten. Hier wollen wir nicht zu viel verraten.
Mich interessiert an der Gesamtkonstruktion ihres Romans ein weiteres Thema, das sich durch den Roman zieht. Die Präsenz der Krieg, die Kriege, die in Europa oder in der Welt ausgetragen wurden, aber in Deutschland auf anderer Ebene weitergeführt werden.
Da ist Tarik, Amirs Bruder, mit seinem Hass gegen die Serben und somit Vertreter des Balkankrieges. Der Rollstuhlfahrer, ein Freier der Mädchen, Ex-Soldat ohne Beine, war in Afghanistan.
Hat der Krieg generell mehr Präsenz und Einfluss auf unseren Alltag und das Leben der Menschen, als wir uns selber eingestehen wollen?
de Velasco: Auf jeden Fall. Wenn man schon so etwas hört wie: Die Kriegshandlungen sind beendet. Damals hat das Bush gesagt, als die Invasion beendet war. Aber der Krieg fängt doch erst richtig an, wenn die Kriegshandlungen vorbei sind. Wenn man sich erinnert, und wie erzählt sich jemand, der so etwas erlebt hat, seine eigene Geschichte. Und wenn diese Menschen aus ihren Krisengebieten nach Deutschland kommen, ist es ja nicht damit getan, ihnen Asyl zu geben und so zu tun, als wäre alles wunderbar. Jetzt lernen sie ein bisschen Deutsch und dann wird das schon wieder, dadurch wird es natürlich auch ein Teil der deutschen Geschichte. Das ist eine Wechselwirkung und das fand ich spannend. Ich hab das jetzt schön öfter erlebt, dass "Tigermilch" als Migrationsroman gesehen wird. Das ist es aber nicht. Es ist ein ganz deutscher Roman, deshalb steht auch am Anfang ein Eichendorff-Zitat. Es geht darum, was Deutschland bedeutet und das gehört genau so dazu.
Wegmann: Wollten Sie den Krieg in den gewaltvollen Handlungen spiegeln?
de Velasco: Ich weiß nicht. Gute Frage. Ich wollte zeigen, dass es nicht einfach damit getan ist, dass man den Menschen Asyl gewährt und dass dann alles gut ist. Das betrifft ja nicht nur die neuen Konflikte. Gerade wir Deutschen müssten ja wissen, was es bedeutet, von Kriegen traumatisiert zu sein. Und dieser Mangel an Mitgefühl, den bedauere ich einfach sehr, dass das einfach ausgeblendet wird.
Wegmann: "Tigermilch" ist auch ein Roman über das Ende einer Kindheit. Das ist schön, damit beginnen Sie Ihren Roman, dass Nini sagt, sie habe zum ersten Mal Kindheitserinnerungen, als muss die Kindheit vorüber sein. Zum Schluss gibt es eine Erkenntnis und gleichzeitig ein schönes Plädoyer für Freundschaft:
" ... ich weiß nur, dass wir immer dachten, dass niemals etwas schiefgehen wird, dass nichts passieren kann, solange wir nicht alleine gehen, nirgendwohin allein." (S.280)
Offener Schluss, die harte Erkenntnis der Realität, dass immer was schief laufen kann, aber ich lese das nicht schwer, sondern ich sehe da Hoffnung: Wie sehen Sie es? Wie ist es gemeint?
de Velasco: Nein, das ist nicht so hoffnungsvoll gemeint. Die Ich-Erzählerin weiß - das ist der letzte Satz des Buches -, dass sie ab jetzt alleine weitergehen muss und dass das nicht gut gehen wird, weil sie weiß, dass alleine ihr etwas Schlimmes passieren wird.
Wegmann: Dass sie es alleine doch nicht schafft.
de Velasco: Ja.
Wegmann: Also ein Plädoyer für die Freundschaft und den Zusammenhalt.
de Velasco: Auf jeden Fall bei den beiden Mädchen. Die haben ja sonst niemanden. Außer sich!
Wegmann: Mich haben die beiden Mädchenfiguren in ihrer Zerrissenheit gleichzeitig angerührt und begeistert, mir hat die Geschichte gut gefallen und auch Ihr Ton, der frisch und kraftvoll nah an der Lebenswelt der jungen Leute ist.
Eigentlich überflüssig, Vergleiche herzustellen, dennoch verwundert es nicht, dass dem ein oder anderen Wolfgang Herrndorfs Roman "Tschick" in den Sinn kommt. Ebenso unaufgesetzt und ohne Jugendjargonallüren, wie es Herrndorf in "Tschick" gelungen ist, gelingt es Ihnen in "Tigermilch" uns durch eine pubertäre, noch kindliche und doch schon viel zu erwachsene Parallelwelt zu führen.
Stefanie de Velasco, herzlichen Dank für Lesung und Gespräch. Wir sprachen über:
"Tigermilch", 280 Seiten, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.