In der Tradition steht der Begriff Gott für das radikal Unsichtbare. In der Antike galt das, was im Moment evident ist, als wirklich – also das, was vor Augen liegt. Im Mittelalter war es der Schöpfer, der für die Wirklichkeit des Wirklichen die Gewähr übernahm. In der Neuzeit wiederum wurde Wirklichkeit dadurch garantiert, dass sie etwas ist, was keine Unterbrechung kennt. Anders gewendet, scheint das Einzige, was beanspruchen kann, den Status des Wirklichen innezuhaben, ausgerechnet das Unsichtbare zu sein. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass wir sogar wahrnehmen können, wenn wir nichts wahrnehmen. Aber woher wird für diese Entscheidung eigentlich die Plausibilität genommen, wo das Unsichtbare sich doch gerade dadurch auszeichnet, dass es eben unsichtbar ist – nicht wahrnehmbar?
Es ist stark anzunehmen, dass es der Menschheit nicht gelingen wird, jemals all das, was gewusst werden könnte, auch zu wissen. Wissen schwimmt seiner Natur nach in einem Meer aus Unwissen.
Festzuhalten bleibt: Auch das Unsichtbare selbst will sichtbar gemacht werden. In der Literatur findet sich dazu kaum etwas. Das Unsichtbare bleibt sprachlich weitgehend unsichtbar. Das will Thomas Palzer mit diesem Essay ändern.
Was ist Sichtbarkeit?
Alles, was sichtbar ist, kann berührt werden. Aber nicht alles, was berührt, kann gesehen werden. Der Blick selbst berührt die Dinge; er umhüllt sie, betastet sie, macht sich zu ihrem Komplizen.
Wir können nur sehen, weil wir Anteil am Sichtbaren haben. Sichtbarkeit geht nicht von demjenigen aus, der sieht, sondern von dem, was gesehen wird. Sichtbarkeit ist Ausdruck souveräner Existenz. Man kann sich von den Dingen beobachtet fühlen.
Und das, was unsichtbar bleibt – will das nicht gesehen werden?
Mit der Pandemie hat das Unsichtbare, das sich der menschlichen Wahrnehmung entzieht, neue Aktualität gewonnen. Trotz enormer Fortschritte in den Naturwissenschaften wissen wir, dass die Wirklichkeit noch voller Geheimnisse und Ungewissheiten steckt – und es ist stark anzunehmen, dass es der Menschheit nicht gelingen wird, jemals all das, was gewusst werden könnte, auch zu wissen.
Wissen schwimmt seiner Natur nach in einem Meer aus Unwissen. Mit anderen Worten: Wenn es das Sichtbare gibt, muss es das Unsichtbare geben. In der Tradition ist es der Begriff Gott, der für das Unsichtbare schlechthin steht.
An die Kindheit knüpft sich das Vermögen, in der gewohnten Umgebung unsichtbare Dinge und Wesen zu erkennen: in den Schattenspielen der Vorhänge, den Lichtspielen der Scheinwerfer an der Decke, im Blätterwerk draußen vor dem Fenster oder in den Schlieren der Suppe. So weitreichend die Entdeckungen sind, die man als Kind macht und die den Erwachsenen verborgen bleiben, so naheliegend ist es, dass man in diesen traumgesättigten Jahren gleichzeitig den Wunsch hegt, die Rollen zu tauschen – und selbst unsichtbar zu werden, jedenfalls im rechten Moment. Wir ersehnen uns eine Tarnkappe, wie wir sie aus dem Märchen kennen. Welche Kräfte würden uns mit dem Besitz einer solchen zuwachsen!
So manches in der Welt ist unsichtbar – Gedanken, Wünsche, Bedeutungen, der Mittelpunkt der Erde; das, was außer Sichtweite liegt oder alles, was sich hinter den Fassaden der Häuser oder den Türen der Schränke befindet. Vom Baum ist das Wurzelwerk nicht sichtbar – und die Erfinder des Rhizoms, des intellektuellen Sprossengeflechts, das wie das botanische unterirdisch wächst – die beiden französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari –, gaben die postadoleszente Parole aus: Sucht nicht die Wurzeln, folgt den Kanälen. Dabei haben sie übersehen, dass nicht Wurzeln oder Kanäle das eigentlich Interessante sind, sondern die Unsichtbarkeit.
Spielen wir in der Kindheit nicht gern Verstecken? Als ob es darum ginge, den Erwachsenen klarzumachen, dass das, was fehlt, vorhanden sein muss, ansonsten es nicht fehlen könnte.
Und was ist auf dieser Welt nicht alles versteckt und unsichtbar? Der Sinn zum Beispiel – oder: Gründe. Immerhin leben wir ja in einer Welt der Gründe – aber nicht nur der kausalen Gründe, sondern auch der Normen, der Verpflichtungen und Selbstverpflichtungen. Aber Gründe müssen erst gefunden werden. Sie liegen meistens nicht offen auf der Hand oder einfach so herum. Man muss von ihnen überzeugt werden. Warum ist die Banane krumm?
Viel bilden die Naturwissenschaften sich darauf ein, dass sie nur das anerkennen würden, was sich beweisen lässt – dabei gehen sie wie selbstverständlich, blind gegenüber den eigenen Voraussetzungen, vom Vorhandenen aus. Aber lässt sich das Vorhandene beweisen? Der Grund dafür, dass das Vorhandene vorhanden ist, bleibt hartnäckig unsichtbar.
Als Kind ist man viel inniger in die rätselhafte Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren verstrickt als später, wenn man älter ist und erwachsen und glaubt, sich in der Welt einigermaßen auszukennen. Dann ist die Einsicht, dass Verborgenheit nicht mit Nichtigkeit gleichzusetzen ist, vergessen oder wird ausdauernd ignoriert.
Dass es Unsichtbares gibt, galt und gilt in allen Kulturen für ausgemacht. Aber woher bezieht dieses Urteil eigentlich seine Plausibilität, wo das Unsichtbare doch gerade dadurch ausgezeichnet ist, dass es eben unsichtbar ist – nicht wahrnehmbar?
Die Plausibilität kann nicht aus der Theorie stammen, denn die Positivität des Phänomens steht ja außer Frage. Sie kann nur aus der vortheoretischen Erfahrung abgeleitet werden.
Wir sehen, dass es Dinge und Phänomene gibt, die wir nicht sehen – nicht sehen können. Die Liebe können wir zum Beispiel nicht sehen, weswegen wir, wenn wir nur unerfahren oder verunsichert genug sind, Beweise verlangen. Oder wir betreten unser Haus und sehen nicht, dass es vor uns ein anderer betreten hat, weil der Einbrecher sich versteckt hält. Wir wissen, dass die Welt nicht zwangsläufig dort zu Ende ist, wo sie aufhört, erkennbar zu sein.
Nun ist das Unsichtbare aber nicht das Verborgene. Das Unsichtbare besitzt kein Objekt, repräsentiert nichts. Jedoch ist es da, unbezweifelbar.
Es verhält sich sogar so, dass das Unsichtbare an dem, was wir sehen und sehen können, seinen Anteil hat. Wir sehen nämlich, wenn wir sehen, immer beides – Sichtbares und Unsichtbares gleichzeitig. Alles, was wir sehen können, besitzt ja notwendig eine Seite, die wir nicht sehen können – eine Rückseite. Das bedeutet, dass beide Phänomene, Sichtbares wie Unsichtbares ineinandergreifen.
Sichtbares und Unsichtbares wären außerdem nicht hinreichend definiert, betrachtete man sie nur als Aufhebung ihres Gegenteils. Irgendwie hängen sie auf komplexe und nicht bloß dialektische Weise zusammen.
Der Vorsokratiker Anaxagoras sagt: „Die sichtbaren Dinge bilden die Grundlange der Erkenntnis des Unsichtbaren.“ Es gibt etwas Unsichtbares, das unser Leben auf das Unerwartete zutreibt.
Das Spiel zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem muss wohl szenisch verstanden werden, als kontext-sensitiv. Das Unsichtbare wäre damit gar nicht unsichtbar: Zum einen macht es auf die Grenzen der Wahrnehmung aufmerksam. Zum anderen webt es Muster in das Sichtbare ein.
Immanuel Kant bezeichnete es in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ als Skandalon der Philosophie, dass für das „Dasein der Dinge außer uns“ noch kein Beweis erbracht werden konnte. Was ist es, was ein Außen unbezweifelbar – was es wirklich macht? Was garantiert die Existenz dessen, was wir für vorhanden halten?
Es liegt nahe, das, was wir tagtäglich vor der Nase haben oder um uns herum erblicken, mit dem, was wirklich ist, zu identifizieren. Aber deckt sich Wirklichkeit tatsächlich mit dem Sichtbaren?
Offenbar nicht, denn selbst, wenn wir den Mond nicht sehen, ist er da. Wir müssen also den Begriff des Sichtbaren ausweiten auf das, was messbar ist – denn das, was messbar ist, ist wahrnehmbar – wenn nicht für das menschliche Auge, dann für Radioteleskope, Elektronenmikroskope oder Detektoren anderer Art.
So verfahren bekanntlich die Naturwissenschaften, für die nur existiert, was messbar ist. Wenn nun das Außen dadurch ausgezeichnet wird, sicht- und messbar zu sein – und das natürlich nicht unter den Bedingungen, die die Auflösung des menschlichen Auges auferlegt –, so wird doch immer noch vorausgesetzt, dass überhaupt etwas vorhanden ist, was gemessen und aufgelöst werden kann. Messbarkeit kann darum kein Kriterium für „die Dinge außer uns“ sein, setzt sie doch stets voraus, was erst bewiesen werden soll.
Descartes hatte gegen Ende der Renaissance die Welt in die res extensa und die res cogitans aufgespalten – in den Bereich des Ausgedehnten und in den des Nicht‑Ausgedehnten, und im genannten Sinn wäre die res extensa dann die sichtbare Welt und die res cogitans die unsichtbare. Beides – Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit – kommen jedenfalls vor und sind in diesem Sinn wirklich, wenn ihr Vorhandensein als solches auch nicht messbar ist.
Vier Wirklichkeitsbegriffe können wir im Verlauf der abendländischen Geschichte unterscheiden. In der Antike gilt das als wirklich, was just im Moment evident ist, was man gerade vor Augen hat. Für Aristoteles hat das Sichtbare den höchsten Anwesenheitscharakter. Insofern ist es in der Antike die Wahrnehmung, die garantiert, dass das, was wir sehen, auch existiert.
Im christlichen Mittelalter muss als Garant, statt dem Kosmos als solchem, der Schöpfergott herhalten. Die Neuzeit wiederum verabschiedet sich von diesem Garantie- oder Gewährleistungsdenken. Sie wird – Stichwort: Descartes – misstrauisch und schöpft Verdacht. Woher, so Descartes, wissen wir, dass unsere Sinne und unser Verstand nicht von einem teuflischen Gott an der Nase herumgeführt werden? Immerhin täuschen wir uns oft genug!
Von nun an wird Wirklichkeit nicht mehr als globale Wirklichkeit begriffen, sondern nur als eine, die wir als solche ansehen und teilen. Wirklichkeit wird anthropomorph und in diesem Sinn lokal. Solange Stimmigkeit von räumlichen und zeitlichen Perspektiven gewährleistet ist, deren Kohärenz, bleibt Wirklichkeit für uns berechenbar – und damit akzeptabel. Kohärenz gibt uns Halt. Das gilt selbst dann, wenn es sich um einen Traum oder eine Simulation handeln sollte. Entscheidend ist, dass es nichts gibt, was die Wirklichkeit zu hacken vermag und ihre Kontinuität unterbricht. Theoretisch könnten wir unter diesen Voraussetzungen auch Gehirne im Tank sein – und gerade Neurowissenschaftler neigen diesem Glauben zu.
Aus diesem dritten Begriff folgt logisch allerdings ein vierter Wirklichkeitsbegriff: Nun gilt gerade die Unterbrechung und Durchtrennung der umfassenden Kontinuität, in der wir Welt erfahren, als Beleg dafür, dass es sich um die Realität handeln muss: Offenbar meldet sich diese in der Störung zurück.
Anders gesagt, ist Wirklichkeit jetzt Widerstand und Trauma.
Was indessen sich nahtlos und ohne Unterbrechung vor einem abspielt, das muss eine Illusion sein, produziert von einem Gehirn, das sich Film oder Simulation errechnet hat und an die Stirnseite der Kalotte projiziert.
In der Gegenwart sagt uns der Szientismus – und das wäre nun der fünfte und vorerst letzte Wirklichkeitsbegriff –, dass nicht Farben, Geruch, Materie und das Aussehen dessen, was uns umgibt, das Wirkliche wären – das Sichtbare –, sondern dass genau umgekehrt nur das Unsichtbare wirklich sei: Alles bestünde aus winzigen Teilchen und Quantenfluktuationen und aus nichts außerdem.
Anders gewendet, scheint das Einzige, was beanspruchen kann, den Status des Wirklichen innezuhaben, ausgerechnet das Unsichtbare oder beinahe Unsichtbare zu sein. Dass also die ganze Welt der Sichtbarkeit von den Naturwissenschaften geleugnet wird, ist von feiner Ironie, bedenkt man, dass gerade die Naturwissenschaften sich auf die kartesische Trennung berufen: Wirkliches ist entweder ausgedehnt oder ausgedacht. Inzwischen ist das Ausgedehnte allerdings so winzig, dass es kleiner kaum noch zu denken ist. Kommt im Nichts womöglich das Ausgedehnte mit dem Ausgedachten zusammen?
Das Sein ist. Zum Wesenszug des Nichts gehört, dass es nicht ist. Mit anderen Worten: Die Fülle des Seins ist unausdenkbar und umfasst Sichtbares und Unsichtbares.
Das Unsichtbare ist nicht Nichts. Es repräsentiert nicht das Nichts. Es repräsentiert nichts. Es ist leer.
Das Sein ist kompakt, voller Farben, Töne, Geräusche, Schwärze. Erstaunlich ist, dass wir Farben wahrnehmen, und dass die Wahrnehmung selbst dann, wenn sie nichts wahrnimmt, wahrnimmt – nämlich eben dieses, nichts wahrzunehmen. Wahrnehmung selbst bildet folglich die nicht weiter aufzulösende Voraussetzung oder Matrix, ohne die es weder Selbst noch Welt noch überhaupt sonst etwas gäbe. Auch nicht das Unsichtbare.
Allerdings gibt es keine Wahrnehmung ohne Welt – und keine Welt ohne, dass sie wahrgenommen würde. Das hat schon Aristoteles gesehen. In der Beziehung zwischen Sehendem und Gesehenem herrscht strenge Reversibilität – oder, zeitgemäß gesprochen: Resonanz.
Das widerspricht der gängigen Vorstellung vom Subjekt, das seine Wahrnehmungen steuert wie der Kapitän das Ruder.
Prägend für die politische Praxis in den westlichen Demokratien ist die Forderung nach Transparenz. Politische Verfahren, Entscheidungsprozesse, Abläufe und Vorhaben sollen Visibilität erlangen, sichtbar sein, um durchschaut werden zu können.
Die Forderung nach Sichtbarkeit hat inzwischen die Sprache erreicht, wo das sogenannte Gendern einen geschlechterbewussten Sprachgebrauch einfordert. Geschlechter jenseits des Männlichen – Frauen, Transmenschen, Diverse – sollen sichtbar gemacht werden, da sie nach Ansicht derer, die das Gendern für unumgänglich halten, übersehen werden. Der männliche Artikel mache alles unsichtbar, was nicht männlich ist.
Dabei wird freilich übersehen, dass das grammatische Genus mit dem sexuellen nichts zu tun hat: Eine Memme kann leicht auch ein Mann sein. In Wirklichkeit, so der Sprachwissenschaftler Olav Hackstein, verhält es sich so, dass das grammatische Maskulinum individuelle Wesenheiten markiert wie der Teich, das grammatische Femininum Kollektiva und Abstrakta wie die Flut oder die Strömung, und das grammatische Neutrum unbestimmte Massen wie das Wasser.
Unsichtbar kann in der Sprache nur sein, was verbal nicht erfasst und formuliert werden kann. Worüber ich nicht sprechen kann, darüber muss ich schweigen, sagt Wittgenstein. So vertreten manche und auch der Verfasser dieses Essays die Auffassung, dass Wirklichkeit nicht vollständig in der Sprache enthalten ist.
Bevor nun die Sprache zu einer Transparenz gezwungen werden soll, die ungrammatisch ist, bleibt festzuhalten, dass es längst das Individuum selbst ist, welches gläsern und durchschaubar geworden ist – und nicht sein sprachlicher Ausdruck – allerdings auf unliebsame Weise. Das Individuum gibt sich gerade massenhaft selbst preis und übt an seiner Souveränität Verrat.
Das Individuum ist in der Renaissance entstanden – und was entstanden ist, kann irgendwann auch sein Ende finden. Läuft seine Zeit in diesem historischen Moment ab?
Das drohende Ende des Individuums begründet sich in der wachsenden Dominanz der Algorithmen, die dazu neigen, die freie Wahl aus unserer Existenz zu eliminieren. Denn was sich berechnen lässt, das berechnen Algorithmen. Da bleibt kein „Spiel“ mehr. Algorithmen sind extrem imperialistisch. Letzten Endes werden sie einen kompakten und undurchlässigen Utilitarismus des größten Glücks der größten Zahl errichten.
Und, ganz nebenher, errichten sie dabei noch etwas. Wie die Harvard-Ökonomin Shoshana Zuboff diagnostiziert, mündet die Entwicklung des ubiquitären data mining unweigerlich im Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Wenn alles erst einmal verdatet ist, wird am Ende alles, was messbar und also Zeit und Raum markierendes Datum geworden ist, gläsern – denn KI meint ja nichts anderes, als Verhalten vorausberechnen zu können. Und das kann sie, weil sie darauf trainiert worden ist, die unterschiedlichsten Bereiche, aus denen die Daten stammen, sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Nach welchen unsichtbaren Kriterien die Daten allerdings wiederum zusammengeführt werden, wäre seinerseits eine Frage – und zwar nach der Ethik der Algorithmen.
In jedem Fall wird auf den gläsernen Abgeordneten, einst Gallionsfigur politisch gewollter Transparenz, das gläserne Individuum folgen – ob als Kunde, Patient, Staatsbürger oder Partnersuchender. Der Philosoph Byung-Chul Han spricht bereits von Transparenzgesellschaft.
Wenn Sichtbarkeit die Souveränität der Existenz bezeugt, bezeugt Gläsernheit, die auf Berechnung und Interpolation beruht, eine verkrüppelte Existenz.
Jenseits davon bleibt zudem völlig unbeachtet, dass im Schatten der KI ein Heer an Phantomarbeitern heranwächst, ohne die Algorithmen unmöglich „lauffähig“ wären. Dieses Heer geht einem Minijob besonderer Art nach. Für weniger als zwei Dollar pro Stunde füttert es die KI mit Millionen von Katzenfotos – oder mit Fotos von Kochtöpfen oder Bergpanoramen oder Gehirntumoren. Die riesigen Datenmengen sind nötig, damit die sogenannte KI – die eben deswegen keine ist – mit etwas Glück einen Ball von einem Kopf und ein Auto von einem Vierbeiner unterscheiden lernt.
Das Lumpenproletariat des 21. Jahrhunderts ist unsichtbar – und besteht aus Hausfrauen in Indonesien oder Peru, aus Körperbehinderten oder Arbeitslosen in Europa, den USA oder Asien. Dieses Proletariat wird als „Mechanical Turks“ bezeichnet – ein Begriff, der an den Schachautomaten des österreichisch‑ungarischen Hofbeamten Wolfgang von Kempelen aus dem Jahr 1769 angelehnt ist, der vorgab, ein denkender Automat zu sein, in Wahrheit aber in seinem Gehäuse einen kleinwüchsigen Menschen türkischer Herkunft verbarg. Auch die KI gleicht wie der altehrwürdige Schachautomat also vor allem einem: einer Finte.
Amazons Mechanical Turk-Website ist eine Crowd-Sourcing-Seite, auf der Unternehmen Jobsuchende aus aller Welt einstellen können – für einen Hungerlohn.
Die KI produziert nicht nur gläserne Facebook-Freunde, sondern im gleichen Zug ein Lumpenproletariat, das seiner wachsenden Größe zum Trotz weitgehend schattenhaft und verborgen bleibt.
Was immer wir auch sehen – wir sehen es als Ganzes – und nicht als das Fragment, als welches es uns auf der Retina erscheint. Obwohl wir nach den Gesetzen der Optik tatsächlich nur Teilwahrheiten sehen, nämlich bestimmte Perspektiven, teilen wir nicht die Auffassung, dass wir in Kulissen wandelten, hinter denen sich nichts befindet.
Wenn wir einen Schrank sehen, sehen wir ihn als Ganzes, obwohl er unseren Augen nur abgeschattet gegeben ist, also von der Seite, die uns zugewandt ist, die anderen Seiten sind nur als Möglichkeiten gegeben. Der Sinngehalt des Objektes Schrank verweist, um es anders zu sagen, auf dessen Seitenwände und Rückseite.
Das Ikonische beruht auf einer vom Sehen realisierten Differenz, mit anderen Worten: Wir sehen immer mehr als das, was wir tatsächlich und messbar sehen. Alles ist uns ja nur in einer jeweiligen Perspektive gegeben, doch dem Bewusstsein sind die anderen Perspektiven eben stets mitgegenwärtig.
Wir sehen den Wirrwarr aus Stamm und Ästen und Laub da vorn als Baum – und nächtens sehen wir die Sterne da oben als Sternzeichen; und wir sehen den Mann im Mond und den Scherenschnitt aus mehr oder weniger hohen Balken am Horizont als Silhouette der Stadt. Alles nimmt erst seine Gestalt an, wenn wir es betrachten.
Wir sehen das eine im anderen. Wir sehen das Materielle zusammen mit dem Imaginären – mit dem Sichtbaren zugleich das Unsichtbare. Wir sehen die sechs Striche und das, was sie in der Fantasie für eine Gestalt ergeben. Unsichtbares und Sichtbares verschmelzen im Bild zur Ikone, zur Gestalt, die mehr umfasst als die Summe ihrer Teile. Deshalb konnte Paul Klee behaupten, dass die Kunst nicht das Sichtbare abbilde, sondern das, was zuvor unsichtbar geblieben ist, allererst sichtbare mache.
Ein Bild kann das Unsichtbare sichtbar machen – etwa durch das Motiv des Spiegels. Es kann aber auch Objekte und Menschen ignorieren und in die Unsichtbarkeit verbannen. Edmund Husserl, dessen Phänomenologie wir diese Einsichten über Wahrnehmung und Bewusstsein beziehungsweise Imagination verdanken, nennt das den Horizont der Dinge – nicht den fernen, sondern den nahen.
Imaginatio, Einbildungskraft, ist verwandt mit: magnet, magia, imago.
Die Einbildungskraft ist nicht ein bloßes Seelenvermögen, das wie bei Kant zwischen Wahrnehmung und Begriff gezwängt wird – vielmehr ist sie ein Seelenorgan, mithilfe dessen der Mensch eine Verbindung zwischen kognitiver und visionärer Welt zustande bringt. Dazu sind, wie zu Anfang gehört, zumal Kinder begabt.
Jedes Bild ist zunächst Erinnerung. Wir erkennen seine Formen und Gestalten, weil wir uns erinnern, dass wir sie schon einmal gesehen haben. Erinnerung und Einbildungskraft werden miteinander verschmolzen. Bezüge zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem werden verknüpft. Das eine kann das andere sichtbar werden lassen.
Einbildungskraft ist von daher mehr als eine Form des Erkennens. Sie ist vielmehr eine Form der Wirklichkeit, weil Wirklichkeit selbst, im tiefsten Innern, aus Widersprüchen besteht, Rissen – aus Sichtbarem und Unsichtbarem, Anwesendem und Abwesendem.
Die Einbildungskraft ist deshalb zentral. Sie bildet das Unendliche ins Endliche ein. Sie besitzt das Vermögen, Gegensätze zu vermitteln – sie ist ein Medium.
Bei einem Bild, etwa einem Gemälde, sieht man neben dem, war dargestellt wird, auch Rahmen und Leinwand, Struktur und Strich. Auch ein Foto ist ein Bild – bei einem Foto sieht man jedoch nur das, was das Foto dem Auge präsentiert, niemals aber sehen wir das Foto selbst; dieses bleibt mehr oder weniger unsichtbar. Man könnte meinen, dass das Foto wie dazu geschaffen sei, um als Anwalt des Sichtbaren zu fungieren, als dessen Verteidiger. Das kommt, weil das Foto, wie Roland Barthes in „Die helle Kammer“ schreibt, seltsam tautologisch ist: Eine Pfeife ist auf einem Foto tatsächlich eine Pfeife. Es besitzt eine undurchlässige Evidenz.
Gleichzeitig heiligt das Foto das Sichtbare. Es tut so, als gäbe es auf ihm für das Unsichtbare keinen Platz. Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Ein Foto ist ein Bild, auf dem der Betrachter nämlich Dinge entdecken kann, die seiner Wahrnehmung entgangen sind. Auf Umwegen findet das Unsichtbare also auf der Fotografie sehr wohl ihren Platz. Insofern ist es die Geschichte der Fotografie von der Daguerreotypie bis zur digitalen Fotografie, die Sichtbarkeit immer wieder neu bestimmt. Und das Foto ist, da es augenscheinlich das Sichtbare feiert, die genuine Antwort auf das Pathos der Unsichtbarkeit.
Das Unsichtbare berührt, weil es sich seiner Sichtbarmachung radikal verweigert.
Eine ontologische Stufe höher gedacht können wir mit Heidegger sagen: Der Tisch, an dem wir arbeiten, existiert. Wir können ihn sehen und wahrnehmen. Was wir nicht sehen und auch nicht wahrnehmen können, ist das Existieren. In Heideggers Worten: das Sein des Seienden.
Was sichtbar ist, ist anwesend: der Tisch, der Baum, mein Nachbar, die Sonne, der Mond, die Sicherheitsnadel. All diese Dinge existieren. Es gibt sie. Das, wovon dieses „Es gibt“ gegeben wird, ist abwesend und unsichtbar: das Sein. Das Abwesende kann freilich anwesender erscheinen als das Anwesende – so etwa in der Erinnerung.
Wie das Sichtbare mit dem Unsichtbaren, so ist auch Präsenz mit Absenz durchwirkt, Anwesenheit mit Abwesenheit. Das Sein weist Risse auf, Klüfte und Furchen. Diese verleihen der Welt Struktur und Relief.
Vielleicht ist das Unsichtbare dasjenige, was dem Sichtbaren den Raum einräumt, den es braucht, um zur Erscheinung zu kommen?
Wenn etwas nicht da ist, ist es nicht nicht da, sondern nur woanders.
Wir existieren in einem Körper, in einem Leib. Wir können nicht in ihn hineinsehen. Wir sehen nicht, was in unserem Rücken ist. Wir können nicht durch die Dinge hindurchsehen. Da, wo wir nicht sind, können wir auch nicht hinsehen. Mein Leib ist, um mit dem französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty zu sprechen, Inauguration des Wo und des Wann.
Nur dank meines Leibes kann ich sehen – und ich kann nur das sehen, was meinen Leib umgibt. Selbst im Traum sehe ich leiblich, ich sehe mich zum Beispiel auf einem Balkon stehen und sehe alles von oben, oder ich sehe mich im Bett liegen und bemerke, wie sich jemand über mich beugt.
Wieso teilen wir ein- und dieselbe Wirklichkeit? Wenn ich träume, mit Paul ins Kino gegangen zu sein, kann er sich nicht daran erinnern – wohl aber kann er das, wenn wir wirklich zusammen im Kino waren.
Unsere Leiber, unser Seh- und Denkvermögen müssen mit denen der anderen auf eine irgendwie noch nicht erschlossene Weise in Verbindung stehen, in Resonanz – anders ist das nicht zu erklären.
Bei der Betrachtung der sichtbaren Dinge (visibilia) werde, so Paulus nach dem Zitat von Augustinus, die Einsichtsfähigkeit (intelligentia) in das Unsichtbare (invisibilia) der göttlichen Ordnung gesteigert.
Die naturwissenschaftliche Sicht auf die Welt besitzt eine Perspektive. Das ist nicht das Problem, sondern der Szientismus, der diese Perspektive verabsolutieren will.
Alles besitzt eine Perspektive. Du, ich, wir. Und trotzdem teilen wir eine Wirklichkeit, eine Zone des Sichtbaren und Unsichtbaren. Wir leben in einer einzigen Welt.
Der naturwissenschaftliche Blick besitzt eine Perspektive, ebenso der literarische Blick, die Musik, die Malerei und so weiter. Alle haben ihre Berechtigung.
Das Unsichtbare ist diskret, es plappert nicht. Es ist so diskret, dass wir es noch nicht einmal wahrnehmen.
Das Unsichtbare ist da. Es repräsentiert nichts. Es ist leer.
99 Prozent des Universums sind unsichtbar. Nach den Erkenntnissen der Physik ist das Universum flach und dehnt sich immer schneller immer weiter aus. Unvermeidlich wird der Tag kommen, wo im Universum alles schneller voneinander wegstrebt, als das Licht noch irgendeinen anderen Stern erreichen kann.
Eines Tages werden die Sterne der etwa 100 Milliarden Galaxien, die wir jetzt am Himmel sehen, hinter den Horizont, denn das Licht aufspannt, verschwunden sein. Dann wird es am Himmel nichts mehr zu sehen geben. Absolut nichts.