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Das Vergessen auf der Bühne

Theater mit Demenzkranken – das klingt nach Therapie in der Tagesklinik, zwischen dem Singkreis und dem Abendessen. Was die Regisseurin Barbara Wachendorff für das Sommerblut-Kulturfestival in Köln inszeniert, soll aber nicht die Kranken beruhigen, sondern die Gesunden provozieren.

Von Silke Offergeld | 18.05.2012
    "Hallo? Ich bin jetzt seit einer Viertelstunde hier unten. Kann vielleicht mal jemand runterkommen oder irgendwie jemand mich abholen, hallo? Ich warte schon die ganze Zeit, mindestens ne halbe Stunde, ich bin zu einem Vorstellungsgespräch hier. Ah! Hallo?!" - "Ja – was machen Sie dann da?"

    Vier gesunde und fünf kranke Darsteller stehen bei "Anderland" zusammen auf der Bühne. Zum Beispiel Marianne Rumpsmüller: Sie ist 81 Jahre alt und sie leidet an Demenz.

    Demenz – das bedeutet "ohne Geist". Die Kranken verlieren ihre Erinnerungen und das logische Denken. Sie sind alt, sie sind schwach – körperlich und geistig. Oder?

    "Aber Sie tanzen gerne, oder?" - "Ja, ich tanze unheimlich gerne." - "Was denn, Walzer?" - "Ja, Walzer. Und Rock’n’Roll!" - "Sie können Rock’n’Roll tanzen? Das glaube ich nicht!" - "Doch, ich kann Rock’n’Roll tanzen!" - "Ja, wie denn?"

    Regisseurin Barbara Wachendorff inszeniert mit "Anderland" zum zweiten Mal Theater mit Demenzkranken.

    "Ganz andere Seiten einer demenziellen Erkrankung zu entdecken ist sicherlich ein Thema des Stücks, und das kann man sehr gut sehen, indem man die Menschen einfach beobachtet und sie erlebt – das ist eine Sensation, ehrlich gesagt, sie zu erleben auf der Bühne."

    Die Lebendigkeit der Alten prallt auf den Alltag einer Pflegestation, die sich Franz Kafka nicht besser hätte ausdenken können. Vera, gespielt von Bettina Muckenhaupt, will dort ihre Tante besuchen – und gerät selbst an den Rand des Wahnsinns.

    "Ja, ja, ja, die Gedanken sind frei – ich könnt die erschießen!" - "Aber welche sind das denn? Ich hab keinen gesehen." - "Die sind jetzt weg." - "Ist doch gut!"- "Die bringen mich an den Rand hier."

    Solche Szenen entstehen immer wieder neu. Die fünf demenzkranken Darsteller reagieren auf Schlüsselsituationen, die ihnen die Profischauspieler vorgeben. "Anderland" ist Expertentheater in der Tradition von "Rimini Protokoll". Getragen wird das Stück von den Kranken und ihren Biografien. Die Fitten, Jungen, Leistungsfähigen müssen sich nach ihnen richten.

    Denn immer fit, jung, leistungsfähig sein – das ist für Barbara Wachendorff ein marktwirtschaftliches Menschenbild. Und an dem will sie mit ihrem Stück rütteln:

    "Ist nicht zum Beispiel diese Anarchie oder diese, ja, Anarchie trifft es eigentlich ganz gut, ist das nicht auch eine Befreiung von bestimmten Werten und Normen, die wir vielleicht auch verwenden könnten – vielleicht wär so ein kleiner Schuss Demenz, vielleicht würd uns das ganz gut tun?"

    Mehr zum Thema:
    Am 18. Mai feiert "Anderland" im Bürgerhaus Stollwerck in Köln Premiere feiert. Weitere Termine gibt es im Internet unter Sommerblut.de