Ihre Welt ging am Nachmittag unter, kurz vor 17 Uhr.
Um diese Zeit schaltet ein Haitianer in Port-au-Prince sein Handy auf Aufnahme, weil die Erde unter ihm Wellen schlägt. Die ersten drei Schwingungen amüsieren ihn noch.
"Oh mein Gott, oh mein Gott."
45 Sekunden bebt die Erde, schwankt die Erde. 45 Sekunden, in denen Betonbauten in sich zusammenfallen, Schulen, Supermärkte, Kathedralen, Behörden, Präsidentenpalast, Wohnhäuser. 180.000 Gebäude insgesamt. Elendshütten rutschen Berghänge hinab.
Staubwolken verdunkeln die Szenerie, Überlebende irren mit staubweißen Gesichtern wie lebende Tote durch die Trümmer, orientierungslos, fassungslos. Wohin? Bebt es noch mal? Wo ist mein Kind, mein Mann, meine Mutter?
In dem Slum Wharf Jeremie durchlebten auch die Kindersklaven diese Apokalypse, Restavecs, die in fremden Familien schuften müssen. Die 13-jährige Ketlène putzte gerade die Hütte, als Port-au-Prince in Schutt und Asche fiel.
"Ich bin vor Angst aus der Hütte gerannt und hingefallen, wieder aufgestanden, und noch mal hingefallen, weil es so gewackelt hat. Da habe ich gesehen, dass alle Leute im Dreck lagen und bin auch liegen geblieben. Angst habe ich heute noch. Manchmal träume ich nachts vom Erdbeben und dann sehe ich mich im Meer, das Wasser steigt immer weiter und ich sterbe."
Weiter nördlich überlebt Richard Widmaier das Inferno an seinem Schreibtisch. Er leitet das private Informationsprogramm "Radio Metropol".
"Mein Tisch wurde gerüttelt, in den ersten 5 - sechs Sekunden hoch-runter, danach von links nach rechts. Die Radiostation hielt stand. Mein erster Gedanke war: Ich muss unsere drei Kinder suchen, die sind sechs, acht und elf Jahre alt. Eins war im französischen Institut, eins im Gymnasium, eins hatte Tanzunterricht. Drei Kinder an drei verschiedenen Orten. Ich wurde verrückt, ich konnte mich nicht entscheiden, wohin sollte ich gehen, welches Kind zuerst suchen, Brian etwa? Oder wären die anderen vielleicht in größerer Gefahr? Ich sprang ins Auto, kam aber nicht weit, alle Straßen waren voller Trümmer. Ich durchlebte einen Albtraum, joggte 45 Minuten durch die Trümmerlandschaft zum französischen Institut, das lag am nächsten. Es war schon tiefschwarze Nacht, acht Uhr, als ich ankam, nach Brian schrie ... bis ich seine Stimme hörte: "Papa, hier bin ich". Mit dem Kleinen bin ich dann drei Stunden nach Hause gestrauchelt und, Gott sei Dank, die anderen beiden Kinder waren da - in Sicherheit."
Und noch eines der seltenen Happy Ends in diesen Stunden: Michael Kühn von der Welthungerhilfe lebte schon neun Jahre in Haiti. Er hatte gerade seine Tochter von der Schule abgeholt, war spät dran, verwarf den Plan, noch im Supermarkt einzukaufen. Von diesem größten Supermarkt der Stadt blieb nur ein Betonberg übrig. Kühn überlebte auf einer steilen Straße oberhalb der Stadt. Port-au-Prince war von oben nicht mehr zu sehen, nur eine gigantische Staubwolke. Weil er niemanden mehr telefonisch erreichen konnte, kehrte er um Richtung Büro.
"Das sind ja nicht nur die zerstörten Häuser, die man sieht. Man sieht ja auch haufenweise Tote auf den Straßen. Und das ist ja eigentlich das Dramatischste: Ich bin an einer Schule vorbeigekommen und habe 25 Kinderleichen gesehen. Und da steht man und guckt sich das an und denkt: Das kann nicht sein. Ich bin im Film. Das ist irreal, das ist surreal, das ist alles Mögliche – das ist nur nicht wahr."
25 Kinder, in ihren Schuluniformen, aufgereiht am Straßenrand.
Auf dem Hauptfriedhof von Port-au-Prince quellen eilig ausgehobene Massengräber über. Später werden Tote in Lastwagenkolonnen zu leeren Kiesgruben vor der Stadt gebracht.
250-tausend oder 300-tausend Menschen sind ums Leben gekommen, so genau weiß das niemand, wird man es nie wissen. Selbst die Lebenden sind vorher nie gezählt worden in Haiti.
Für Beerdigungsrituale der Voodoo-Gläubigen ist keine Zeit, sagt die Schweizerin Marianne Lehmann, die seit Jahrzehnten Voodoo-Kunstwerke sammelt.
"Was da am ärgsten ist, wenn man da jemanden nur so wegschmeißt, das ist etwas Wahnsinniges für die – oder die Beerdigungen, meistens ist das im Boden – und da war das Wasser, also dann kommt eine Zeremonie, welche sie unter Wasser bringt. Als die Sklaven kamen - welche ruderten da - die waren ziemlich im Wasser und das wird dann in dieser Zeremonie symbolisch wiederholt: die Reise zurück nach Afrika."
Nach dieser Katastrophe gibt es keinen Weg zurück nach Afrika mehr.
TAKE Atmo Colette singt
In einem von hunderten Notlagern, in denen zunächst anderthalb Millionen Menschen leben, singt die 14jährige Colette gegen das Trauma an. Erste Hilfsgüter treffen ein, die internationale Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Trinkwasser ist in der Hitze am dringlichsten, dann Lebensmittel, Arzneien, Decken und Planen. Die Verteilung wird zur logistischen Herausforderung, aus der Ferne dringt erste Kritik an den Hilfsorganisationen durch. Die Güter kommen nicht bei allen Betroffenen an. In die Verzweiflung mischt sich hörbar Wut.
Blanc, Weißer, das ist die übliche, nicht unhöfliche Anrede für Fremde. Blanc, warum bekommen wir hier nur Wasser, sonst nichts, klagen die Frauen. Sie seien ausgehungert und sich selbst überlassen. Der Lärmpegel steigt bei der Frage nach der haitianischen Regierung.
"Nichts, nichts, Präsident Préval hat gar nichts für uns getan."
Nur Jesus stehe ihnen bei.
Wenn aber die gesamte Infrastruktur eines Landes zerstört ist, Straßen blockiert sind, Behörden zerstört, 15 von 17 Ministerien, es gibt kein Telefon mehr, keinen öffentlichen Strom, keine Koordination, dann kann nicht alles sofort funktionieren, sagt Michael Kühn von der Welthungerhilfe.
"Die Ausmaße dieser Zerstörung, die waren so extrem, dass weder die Vereinten Nationen noch die Regierung noch wir als Nichtregierungsorganisation überhaupt handlungsfähig waren, und zwar für Wochen, und auch wirklich geschockt und traumatisiert waren. Also, was da an Symbolik zerstört wurde – es war ja nicht nur die Kathedrale und der Nationalpalast: Das UNO-Hauptgebäude mit 110 Mitarbeitern der UNO, der gesamten Chefetage – alle tot. Ich meine, so etwas kenne ich nicht einmal aus dem schlimmsten Film. Ich selber habe 40 Freunde und Bekannte verloren. Und dann innerhalb so einer schon schwierigen Situation auch noch strukturiert zu agieren, das ist fast ein Ding der Unmöglichkeit."
Unmöglich war es allein schon, die Bedürftigen zu erfassen. Sie hausten nicht nur in den Hunderten wilden Camps, sondern überall vor ihren zerstörten oder schwerbeschädigten Häusern. Manche verließen die Stadt Richtung Nord-Haiti, das nicht betroffen war. Tag für Tag irrten auf den Straßen Menschen herum, die nach Verwandten oder Freunden suchten. Das Handynetz war ausgefallen, es gab keinen Nahverkehr. Selbst die Hilfslieferungen blieben stecken, wenn sie es denn ins Land geschafft hatten. Der beschädigte Flughafen funktionierte erst nach Tagen notdürftig, der Landweg aus der Dominikanischen Republik führt über ein Nadelöhr: eine enge Straße durch die Berge, auf der sich LKW schnell gegenseitig blockierten.
Trotz all dieser Probleme habe die internationale Hilfe wahrlich historische Ausmaße gehabt, sagt Marcel Stössel von der Hilfsorganisation Oxfam.
"Im Großen und Ganzen kommt die Hilfe an. Es gab keine Epidemien nach dem Erdbeben. Es gab keine Hungersnot. Und das ist doch auch ein Erfolg der Haitianer selbst, die sich auch selbst geholfen haben, aber auch diese ganzen internationalen Hilfsoperationen, dass es nicht zu einer zweiten Katastrophe kam."
Zunächst hatten die USA an zentralen Punkten das Kommando übernommen: am Airport, im Hafen, bei der Sicherung der Straßen. Die UN-Schutztruppe musste nach der Zerstörung ihres Hauptquartiers erst neu organisiert werden. In Haiti haben fast alle die US-Soldaten begrüßt, trotz ihres martialischen Auftretens. Ein Kriegsschiff ankerte weit draußen in der Bucht, Hubschrauber kreisten über der Trümmerlandschaft. Die Marines verschafften sich Respekt, und der war auch nötig, um Ausschreitungen zu verhindern. So kam es nur vereinzelt zu Plünderungen oder Diebstählen an Verteilstellen von Hilfsgütern. Die Helfer aus aller Welt konnten relativ sicher ihrer Arbeit nachgehen.
Nur im Ausland gab es Kritik: Das sei mal wieder eine Invasion, hieß es, die USA würden Haiti besetzen. Aber wer will dieses elende Land schon haben, spottete darüber eine Geschäftsfrau in Port-au-Prince.
Seit dem Sturz der 30-jährigen Duvalier-Diktatur 1986 haben die USA und die UNO sieben Mal in dem Karibikstaat interveniert. Einen funktionierenden Staat konnten sie nie aufbauen.
Dabei war Haiti einst so stolz auf die Weltbühne getreten: als erste freie Schwarzen-Republik der Erde, nach einer Sklavenrevolte vor 200 Jahren. Aber so blutig, wie die Befreiung von der französischen Kolonialmacht war, so blutig verlief die Geschichte weiter, erklärt Reginald Boulos, Präsident der haitianischen Industrie- und Handelskammer.
"Seit dem Tag unserer Unabhängigkeit bekämpfen wir uns untereinander. Erst kämpften wir gegen den Rest der Welt, der unsere Unabhängigkeit nicht akzeptieren wollte. So entwickelten wir eine Kampf-Kultur. Und wenn wir außerhalb niemanden zu bekriegen hatten, kämpften wir gegeneinander. Das haben wir auch in den letzten Jahrzehnten gemacht, seit wir Duvalier aus dem Land getrieben haben. Bei uns gibt es politische Instabilität, den Kampf um die Macht, Gewalt."
200 Jahre Haiti, das waren 200 Jahre Diktaturen, Machtintrigen, Palastpoker. Es herrschten die Mächtigsten, und mächtig ist, wer Gewalt ausübt. "Demokratie", sagt ein haitianischer Rechtsanwalt resigniert, "ist ein Luxus, den sich satte Menschen leisten". 80 Prozent der Haitianer aber hungerten auch vor dem Beben schon.
So haben sich nie staatliche Institutionen gefestigt. Und das Land wurde ausgeplündert statt entwickelt. Von den Kolonialherren, von den eigenen Diktatoren, von denen, die Gewalt ausüben konnten. Und zuletzt von der Globalisierung, von den USA vor allem, klagt Haitis Botschafter in Berlin, Jean-Robert Saget.
"Der ehemalige Präsident Bill Clinton hat um Verzeihung gebeten, weil er die Landwirtschaft in Haiti kaputt gemacht hat durch seine Subventionspolitik. Man verlangt von den kleinen Ländern da wie Haiti, dass sie die Grenzen öffnen für die Waren aus dem Ausland, und dann schickt man Waren, zum Beispiel diese Reisgeschichte aus Amerika, die subventioniert ist. Dann macht man natürlich die Reisbauern in Haiti kaputt."
Importeure sind die Wohlhabenden des Landes, nicht die Produzenten. Und korrupte Beamte und Politiker.
Haiti war schon vor dem 12. Januar 2010 ein klassischer "failed state", ein gescheiterter Staat. Mit einer Hauptstadt Port-au-Prince, in der vier Fünftel der Menschen in Elendsvierteln leben: ohne Strom, ohne Trinkwasseranschluss, ohne Kanalisation, ohne Müllabfuhr, ohne Perspektiven für die Jugend. Schulen oder Ausbildung können sie sich nicht leisten, schon kleine Kinder müssen im informellen Sektor arbeiten, damit die Familie durchkommt.
Und dann kam auch noch das Erdbeben. Angesichts der desolaten Lage vorab spricht Reginald Boulos, Präsident der haitianischen Industrie- und Handelskammer, nicht gerne von Wiederaufbau, lieber von einem "Neubeginn". Und geht mit Selbstkritik voran.
"Wenn schon vor dem Beben 90 von 1000 Kindern im Säuglingsalter starben, ist das nicht die größte Menschenrechtsverletzung, die man sich vorstellen kann? Ich sehe jeden Tag, wie in diesem Land Menschenrechte verletzt werden. Einfach nur, indem zum Beispiel Kindern das Grundrecht auf Bildung vorenthalten wird. Dazu kommen Vergewaltigungen, Gewalt. Das sind kriminelle Taten, aber für fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung sind wir verantwortlich, als Staat. Wir sind also auch kriminell."
Dabei war in den Jahren vor dem Erdbeben etwas Hoffnung aufgekeimt: die UN-Mission MINUSTAH war im Juni 2004 angetreten. Die rund 10.000 Soldaten und Zivilisten organisierten die Polizei, berieten Regierung und Verwaltung, überwachten demokratische Prozesse. Ihr sichtbarster Erfolg war die Bekämpfung krimineller Banden, die die Hauptstadt unsicher machten. Selbst als Ausländer konnte man berüchtigte Slums wie Cité Soleil wieder unbehelligt betreten, die zuvor grassierenden Entführungen hörten auf.
Noch im Dezember 2009 hatte sich UN-Missionschef Hédi Annabi daher noch vorsichtig optimistisch gezeigt:
"Wir hatten jetzt vier fünf Jahre, in denen das Land stabiler wurde. Aber das ist noch sehr zerbrechlich, und es wird zerbrechlich bleiben, wenn sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen nicht verbessern. Denn Leute, die Arbeit haben, wollen Stabilität. Wer aber hungrig ist und ums Überleben kämpft, der nicht."
Vier Wochen nach diesem Interview ist Hédi Annabi beim Erdbeben im UN-Hauptquartier ums Leben gekommen. Die Banden, die er so erfolgreich bekämpft hatte, kontrollieren inzwischen wieder einige Slumviertel.
Ein Jahr nach der erfolgreichen Nothilfe ist Haiti kaum
vorangekommen. "2010 war ein Jahr der verpassten Chancen", resümiert die Hilfsorganisation Oxfam. Erst im September wurden überhaupt Aufträge zur Trümmerbeseitigung erteilt, 95 Prozent der zerstörten Gebäude liegen noch da wie am Tag nach dem Beben. Selbst von den beschädigten Häusern sind erst 15 Prozent wieder bewohnbar. Folge: Noch immer lebt eine Million Haitianer in Zelten und Nothütten. Für die zunächst 1,5 Millionen Obdachlosen wurden gerade mal 35.000 neue Häuschen errichtet, oft scheitern Vorhaben schon an den ungeklärten Besitzverhältnissen von Grund und Boden.
Die Regierung und die UN-Verantwortlichen versuchen zwar, die Arbeit der Hilfsorganisationen zu koordinieren, aber sie wissen noch nicht einmal, wie viele im Land arbeiten. Neben den seriösen NGOs gibt es viele kleine, oft ideologisch oder religiös motivierte, die sich gar nicht erst registrieren lassen.
Die US-Marines sind längst abgezogen, die haben die Kontrolle wieder an Polizei und Blauhelm-Soldaten übergeben.
Bill Clinton, der frühere US-Präsident und heutige Koordinator für internationale Hilfe, äußerte sich zum Jahrestag des Bebens frustriert: Es gehe viel zu langsam voran.
Der Präsidentschaftskandidat und Unternehmer Charles Baker macht dafür vor allem die Korruption verantwortlich.
"Erstmal braucht man doch eine Regierung, die für die Haitianer arbeitet, und nicht drei Viertel des rein kommenden Geldes stiehlt. Venezuela hat uns zum Beispiel 150 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Bis heute weiß niemand, was damit passiert ist. Korruption ist der größte Feind Haitis. Und die Korruption geht von der eigenen Regierung aus."
Schon traditionell läuft ohne Bestechung fast nicht. Selbst Hilfsorganisationen mussten wochenlang kämpfen, um etwa dringend benötigte Güter durch den Zoll zu bekommen. Die 10.000 Nicht-Regierungs-Organisationen, NGOs, die seit dem Beben im Land arbeiten, erfüllen soziale und Versorgungsaufgaben. "NGO-Republik" nennt das der neue UN-Missionschef Edmond Mulet das.
Die Unzuverlässigkeit von Regierung und Verwaltung bremst den Zufluss an Hilfsgeldern: Fast 10 Milliarden Dollar waren auf einer Geberkonferenz im März versprochen worden, davon zwei Milliarden allein für 2010. Laut Oxfam kam aber nicht einmal die Hälfte der Summe tatsächlich an. Die Europäische Union etwa fordert stabile politische Verhältnisse, bevor sie mehr auszahlt. Die Präsidentschaftswahl im November aber endete in Chaos und Betrug, verlässliche Ergebnisse gibt es bis heute nicht. Die am Wochenende vorgesehene Stichwahl musste verschoben werden. Ob und wann sie stattfinden wird, ist ungewiss.
Trotz der großen Schwierigkeiten müssten die Haitianer ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen – unter internationaler Kontrolle, meint Handelskammerpräsident Reginald Boulos. Sein Verband hat Zukunftspläne erarbeitet.
"Wir glauben an eine gute Zukunft für Haiti, wenn wir lernen, unser Land zu lieben. Die Haitianer wollen bisher nur eins: ein Visum, um nach Europa oder in die USA zu gehen. Sie wollen weg! Wir brauchen eine Mittelschicht, das wären Hunderttausende kleine Unternehmen. Wir haben hier fünf Sektoren, die eine Schlüsselrolle für die Entwicklung von Haiti spielen müssen: Landwirtschaft, Geflügel- und Rinderzucht, Textilindustrie, Tourismus und jetzt, nach dem Erdbeben, Häuserbau und Stadtentwicklung. Das Erdbeben ist unsere Chance auf einen Neuanfang. Das alte Spiel ist vorbei und der Schiedsrichter pfeift ein ganz Neues an."
Der Radiojournalist Richard Widmaier dagegen vertraut zunächst nicht auf die eigenen Leute. Er fordert einen Marshall-Plan.
"So wie es in Europa nach dem Krieg gemacht wurde. Haiti einfach so wieder aufzubauen, wie es vorher war, bringt langfristig nichts. Wenn die internationale Gemeinschaft wirklich den Willen hat, könnte Haiti ein Beweis für andere Regierungen, für den Währungsfonds und für die Weltbank werden, dass sie so was schaffen kann."
Allerdings sind die internationalen Helfer, vor allem die UN-Soldaten aus Nepal, im Oktober in Misskredit geraten. Eine Choleraepidemie brach aus, 3.600 Haitianer sind bislang daran gestorben, 400.000 erkrankt. Der Erreger soll aus Asien stammen. Schon dieses Gerücht hat Sprengkraft: Die Helfer werden zu Schuldigen gemacht von immer mehr der rund eine Million Menschen, die auch nach einem Jahr noch in Zelten hausen müssen.
Für sie war es ein verlorenes Jahr.
Um diese Zeit schaltet ein Haitianer in Port-au-Prince sein Handy auf Aufnahme, weil die Erde unter ihm Wellen schlägt. Die ersten drei Schwingungen amüsieren ihn noch.
"Oh mein Gott, oh mein Gott."
45 Sekunden bebt die Erde, schwankt die Erde. 45 Sekunden, in denen Betonbauten in sich zusammenfallen, Schulen, Supermärkte, Kathedralen, Behörden, Präsidentenpalast, Wohnhäuser. 180.000 Gebäude insgesamt. Elendshütten rutschen Berghänge hinab.
Staubwolken verdunkeln die Szenerie, Überlebende irren mit staubweißen Gesichtern wie lebende Tote durch die Trümmer, orientierungslos, fassungslos. Wohin? Bebt es noch mal? Wo ist mein Kind, mein Mann, meine Mutter?
In dem Slum Wharf Jeremie durchlebten auch die Kindersklaven diese Apokalypse, Restavecs, die in fremden Familien schuften müssen. Die 13-jährige Ketlène putzte gerade die Hütte, als Port-au-Prince in Schutt und Asche fiel.
"Ich bin vor Angst aus der Hütte gerannt und hingefallen, wieder aufgestanden, und noch mal hingefallen, weil es so gewackelt hat. Da habe ich gesehen, dass alle Leute im Dreck lagen und bin auch liegen geblieben. Angst habe ich heute noch. Manchmal träume ich nachts vom Erdbeben und dann sehe ich mich im Meer, das Wasser steigt immer weiter und ich sterbe."
Weiter nördlich überlebt Richard Widmaier das Inferno an seinem Schreibtisch. Er leitet das private Informationsprogramm "Radio Metropol".
"Mein Tisch wurde gerüttelt, in den ersten 5 - sechs Sekunden hoch-runter, danach von links nach rechts. Die Radiostation hielt stand. Mein erster Gedanke war: Ich muss unsere drei Kinder suchen, die sind sechs, acht und elf Jahre alt. Eins war im französischen Institut, eins im Gymnasium, eins hatte Tanzunterricht. Drei Kinder an drei verschiedenen Orten. Ich wurde verrückt, ich konnte mich nicht entscheiden, wohin sollte ich gehen, welches Kind zuerst suchen, Brian etwa? Oder wären die anderen vielleicht in größerer Gefahr? Ich sprang ins Auto, kam aber nicht weit, alle Straßen waren voller Trümmer. Ich durchlebte einen Albtraum, joggte 45 Minuten durch die Trümmerlandschaft zum französischen Institut, das lag am nächsten. Es war schon tiefschwarze Nacht, acht Uhr, als ich ankam, nach Brian schrie ... bis ich seine Stimme hörte: "Papa, hier bin ich". Mit dem Kleinen bin ich dann drei Stunden nach Hause gestrauchelt und, Gott sei Dank, die anderen beiden Kinder waren da - in Sicherheit."
Und noch eines der seltenen Happy Ends in diesen Stunden: Michael Kühn von der Welthungerhilfe lebte schon neun Jahre in Haiti. Er hatte gerade seine Tochter von der Schule abgeholt, war spät dran, verwarf den Plan, noch im Supermarkt einzukaufen. Von diesem größten Supermarkt der Stadt blieb nur ein Betonberg übrig. Kühn überlebte auf einer steilen Straße oberhalb der Stadt. Port-au-Prince war von oben nicht mehr zu sehen, nur eine gigantische Staubwolke. Weil er niemanden mehr telefonisch erreichen konnte, kehrte er um Richtung Büro.
"Das sind ja nicht nur die zerstörten Häuser, die man sieht. Man sieht ja auch haufenweise Tote auf den Straßen. Und das ist ja eigentlich das Dramatischste: Ich bin an einer Schule vorbeigekommen und habe 25 Kinderleichen gesehen. Und da steht man und guckt sich das an und denkt: Das kann nicht sein. Ich bin im Film. Das ist irreal, das ist surreal, das ist alles Mögliche – das ist nur nicht wahr."
25 Kinder, in ihren Schuluniformen, aufgereiht am Straßenrand.
Auf dem Hauptfriedhof von Port-au-Prince quellen eilig ausgehobene Massengräber über. Später werden Tote in Lastwagenkolonnen zu leeren Kiesgruben vor der Stadt gebracht.
250-tausend oder 300-tausend Menschen sind ums Leben gekommen, so genau weiß das niemand, wird man es nie wissen. Selbst die Lebenden sind vorher nie gezählt worden in Haiti.
Für Beerdigungsrituale der Voodoo-Gläubigen ist keine Zeit, sagt die Schweizerin Marianne Lehmann, die seit Jahrzehnten Voodoo-Kunstwerke sammelt.
"Was da am ärgsten ist, wenn man da jemanden nur so wegschmeißt, das ist etwas Wahnsinniges für die – oder die Beerdigungen, meistens ist das im Boden – und da war das Wasser, also dann kommt eine Zeremonie, welche sie unter Wasser bringt. Als die Sklaven kamen - welche ruderten da - die waren ziemlich im Wasser und das wird dann in dieser Zeremonie symbolisch wiederholt: die Reise zurück nach Afrika."
Nach dieser Katastrophe gibt es keinen Weg zurück nach Afrika mehr.
TAKE Atmo Colette singt
In einem von hunderten Notlagern, in denen zunächst anderthalb Millionen Menschen leben, singt die 14jährige Colette gegen das Trauma an. Erste Hilfsgüter treffen ein, die internationale Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Trinkwasser ist in der Hitze am dringlichsten, dann Lebensmittel, Arzneien, Decken und Planen. Die Verteilung wird zur logistischen Herausforderung, aus der Ferne dringt erste Kritik an den Hilfsorganisationen durch. Die Güter kommen nicht bei allen Betroffenen an. In die Verzweiflung mischt sich hörbar Wut.
Blanc, Weißer, das ist die übliche, nicht unhöfliche Anrede für Fremde. Blanc, warum bekommen wir hier nur Wasser, sonst nichts, klagen die Frauen. Sie seien ausgehungert und sich selbst überlassen. Der Lärmpegel steigt bei der Frage nach der haitianischen Regierung.
"Nichts, nichts, Präsident Préval hat gar nichts für uns getan."
Nur Jesus stehe ihnen bei.
Wenn aber die gesamte Infrastruktur eines Landes zerstört ist, Straßen blockiert sind, Behörden zerstört, 15 von 17 Ministerien, es gibt kein Telefon mehr, keinen öffentlichen Strom, keine Koordination, dann kann nicht alles sofort funktionieren, sagt Michael Kühn von der Welthungerhilfe.
"Die Ausmaße dieser Zerstörung, die waren so extrem, dass weder die Vereinten Nationen noch die Regierung noch wir als Nichtregierungsorganisation überhaupt handlungsfähig waren, und zwar für Wochen, und auch wirklich geschockt und traumatisiert waren. Also, was da an Symbolik zerstört wurde – es war ja nicht nur die Kathedrale und der Nationalpalast: Das UNO-Hauptgebäude mit 110 Mitarbeitern der UNO, der gesamten Chefetage – alle tot. Ich meine, so etwas kenne ich nicht einmal aus dem schlimmsten Film. Ich selber habe 40 Freunde und Bekannte verloren. Und dann innerhalb so einer schon schwierigen Situation auch noch strukturiert zu agieren, das ist fast ein Ding der Unmöglichkeit."
Unmöglich war es allein schon, die Bedürftigen zu erfassen. Sie hausten nicht nur in den Hunderten wilden Camps, sondern überall vor ihren zerstörten oder schwerbeschädigten Häusern. Manche verließen die Stadt Richtung Nord-Haiti, das nicht betroffen war. Tag für Tag irrten auf den Straßen Menschen herum, die nach Verwandten oder Freunden suchten. Das Handynetz war ausgefallen, es gab keinen Nahverkehr. Selbst die Hilfslieferungen blieben stecken, wenn sie es denn ins Land geschafft hatten. Der beschädigte Flughafen funktionierte erst nach Tagen notdürftig, der Landweg aus der Dominikanischen Republik führt über ein Nadelöhr: eine enge Straße durch die Berge, auf der sich LKW schnell gegenseitig blockierten.
Trotz all dieser Probleme habe die internationale Hilfe wahrlich historische Ausmaße gehabt, sagt Marcel Stössel von der Hilfsorganisation Oxfam.
"Im Großen und Ganzen kommt die Hilfe an. Es gab keine Epidemien nach dem Erdbeben. Es gab keine Hungersnot. Und das ist doch auch ein Erfolg der Haitianer selbst, die sich auch selbst geholfen haben, aber auch diese ganzen internationalen Hilfsoperationen, dass es nicht zu einer zweiten Katastrophe kam."
Zunächst hatten die USA an zentralen Punkten das Kommando übernommen: am Airport, im Hafen, bei der Sicherung der Straßen. Die UN-Schutztruppe musste nach der Zerstörung ihres Hauptquartiers erst neu organisiert werden. In Haiti haben fast alle die US-Soldaten begrüßt, trotz ihres martialischen Auftretens. Ein Kriegsschiff ankerte weit draußen in der Bucht, Hubschrauber kreisten über der Trümmerlandschaft. Die Marines verschafften sich Respekt, und der war auch nötig, um Ausschreitungen zu verhindern. So kam es nur vereinzelt zu Plünderungen oder Diebstählen an Verteilstellen von Hilfsgütern. Die Helfer aus aller Welt konnten relativ sicher ihrer Arbeit nachgehen.
Nur im Ausland gab es Kritik: Das sei mal wieder eine Invasion, hieß es, die USA würden Haiti besetzen. Aber wer will dieses elende Land schon haben, spottete darüber eine Geschäftsfrau in Port-au-Prince.
Seit dem Sturz der 30-jährigen Duvalier-Diktatur 1986 haben die USA und die UNO sieben Mal in dem Karibikstaat interveniert. Einen funktionierenden Staat konnten sie nie aufbauen.
Dabei war Haiti einst so stolz auf die Weltbühne getreten: als erste freie Schwarzen-Republik der Erde, nach einer Sklavenrevolte vor 200 Jahren. Aber so blutig, wie die Befreiung von der französischen Kolonialmacht war, so blutig verlief die Geschichte weiter, erklärt Reginald Boulos, Präsident der haitianischen Industrie- und Handelskammer.
"Seit dem Tag unserer Unabhängigkeit bekämpfen wir uns untereinander. Erst kämpften wir gegen den Rest der Welt, der unsere Unabhängigkeit nicht akzeptieren wollte. So entwickelten wir eine Kampf-Kultur. Und wenn wir außerhalb niemanden zu bekriegen hatten, kämpften wir gegeneinander. Das haben wir auch in den letzten Jahrzehnten gemacht, seit wir Duvalier aus dem Land getrieben haben. Bei uns gibt es politische Instabilität, den Kampf um die Macht, Gewalt."
200 Jahre Haiti, das waren 200 Jahre Diktaturen, Machtintrigen, Palastpoker. Es herrschten die Mächtigsten, und mächtig ist, wer Gewalt ausübt. "Demokratie", sagt ein haitianischer Rechtsanwalt resigniert, "ist ein Luxus, den sich satte Menschen leisten". 80 Prozent der Haitianer aber hungerten auch vor dem Beben schon.
So haben sich nie staatliche Institutionen gefestigt. Und das Land wurde ausgeplündert statt entwickelt. Von den Kolonialherren, von den eigenen Diktatoren, von denen, die Gewalt ausüben konnten. Und zuletzt von der Globalisierung, von den USA vor allem, klagt Haitis Botschafter in Berlin, Jean-Robert Saget.
"Der ehemalige Präsident Bill Clinton hat um Verzeihung gebeten, weil er die Landwirtschaft in Haiti kaputt gemacht hat durch seine Subventionspolitik. Man verlangt von den kleinen Ländern da wie Haiti, dass sie die Grenzen öffnen für die Waren aus dem Ausland, und dann schickt man Waren, zum Beispiel diese Reisgeschichte aus Amerika, die subventioniert ist. Dann macht man natürlich die Reisbauern in Haiti kaputt."
Importeure sind die Wohlhabenden des Landes, nicht die Produzenten. Und korrupte Beamte und Politiker.
Haiti war schon vor dem 12. Januar 2010 ein klassischer "failed state", ein gescheiterter Staat. Mit einer Hauptstadt Port-au-Prince, in der vier Fünftel der Menschen in Elendsvierteln leben: ohne Strom, ohne Trinkwasseranschluss, ohne Kanalisation, ohne Müllabfuhr, ohne Perspektiven für die Jugend. Schulen oder Ausbildung können sie sich nicht leisten, schon kleine Kinder müssen im informellen Sektor arbeiten, damit die Familie durchkommt.
Und dann kam auch noch das Erdbeben. Angesichts der desolaten Lage vorab spricht Reginald Boulos, Präsident der haitianischen Industrie- und Handelskammer, nicht gerne von Wiederaufbau, lieber von einem "Neubeginn". Und geht mit Selbstkritik voran.
"Wenn schon vor dem Beben 90 von 1000 Kindern im Säuglingsalter starben, ist das nicht die größte Menschenrechtsverletzung, die man sich vorstellen kann? Ich sehe jeden Tag, wie in diesem Land Menschenrechte verletzt werden. Einfach nur, indem zum Beispiel Kindern das Grundrecht auf Bildung vorenthalten wird. Dazu kommen Vergewaltigungen, Gewalt. Das sind kriminelle Taten, aber für fehlende Bildung und Gesundheitsversorgung sind wir verantwortlich, als Staat. Wir sind also auch kriminell."
Dabei war in den Jahren vor dem Erdbeben etwas Hoffnung aufgekeimt: die UN-Mission MINUSTAH war im Juni 2004 angetreten. Die rund 10.000 Soldaten und Zivilisten organisierten die Polizei, berieten Regierung und Verwaltung, überwachten demokratische Prozesse. Ihr sichtbarster Erfolg war die Bekämpfung krimineller Banden, die die Hauptstadt unsicher machten. Selbst als Ausländer konnte man berüchtigte Slums wie Cité Soleil wieder unbehelligt betreten, die zuvor grassierenden Entführungen hörten auf.
Noch im Dezember 2009 hatte sich UN-Missionschef Hédi Annabi daher noch vorsichtig optimistisch gezeigt:
"Wir hatten jetzt vier fünf Jahre, in denen das Land stabiler wurde. Aber das ist noch sehr zerbrechlich, und es wird zerbrechlich bleiben, wenn sich die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen nicht verbessern. Denn Leute, die Arbeit haben, wollen Stabilität. Wer aber hungrig ist und ums Überleben kämpft, der nicht."
Vier Wochen nach diesem Interview ist Hédi Annabi beim Erdbeben im UN-Hauptquartier ums Leben gekommen. Die Banden, die er so erfolgreich bekämpft hatte, kontrollieren inzwischen wieder einige Slumviertel.
Ein Jahr nach der erfolgreichen Nothilfe ist Haiti kaum
vorangekommen. "2010 war ein Jahr der verpassten Chancen", resümiert die Hilfsorganisation Oxfam. Erst im September wurden überhaupt Aufträge zur Trümmerbeseitigung erteilt, 95 Prozent der zerstörten Gebäude liegen noch da wie am Tag nach dem Beben. Selbst von den beschädigten Häusern sind erst 15 Prozent wieder bewohnbar. Folge: Noch immer lebt eine Million Haitianer in Zelten und Nothütten. Für die zunächst 1,5 Millionen Obdachlosen wurden gerade mal 35.000 neue Häuschen errichtet, oft scheitern Vorhaben schon an den ungeklärten Besitzverhältnissen von Grund und Boden.
Die Regierung und die UN-Verantwortlichen versuchen zwar, die Arbeit der Hilfsorganisationen zu koordinieren, aber sie wissen noch nicht einmal, wie viele im Land arbeiten. Neben den seriösen NGOs gibt es viele kleine, oft ideologisch oder religiös motivierte, die sich gar nicht erst registrieren lassen.
Die US-Marines sind längst abgezogen, die haben die Kontrolle wieder an Polizei und Blauhelm-Soldaten übergeben.
Bill Clinton, der frühere US-Präsident und heutige Koordinator für internationale Hilfe, äußerte sich zum Jahrestag des Bebens frustriert: Es gehe viel zu langsam voran.
Der Präsidentschaftskandidat und Unternehmer Charles Baker macht dafür vor allem die Korruption verantwortlich.
"Erstmal braucht man doch eine Regierung, die für die Haitianer arbeitet, und nicht drei Viertel des rein kommenden Geldes stiehlt. Venezuela hat uns zum Beispiel 150 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Bis heute weiß niemand, was damit passiert ist. Korruption ist der größte Feind Haitis. Und die Korruption geht von der eigenen Regierung aus."
Schon traditionell läuft ohne Bestechung fast nicht. Selbst Hilfsorganisationen mussten wochenlang kämpfen, um etwa dringend benötigte Güter durch den Zoll zu bekommen. Die 10.000 Nicht-Regierungs-Organisationen, NGOs, die seit dem Beben im Land arbeiten, erfüllen soziale und Versorgungsaufgaben. "NGO-Republik" nennt das der neue UN-Missionschef Edmond Mulet das.
Die Unzuverlässigkeit von Regierung und Verwaltung bremst den Zufluss an Hilfsgeldern: Fast 10 Milliarden Dollar waren auf einer Geberkonferenz im März versprochen worden, davon zwei Milliarden allein für 2010. Laut Oxfam kam aber nicht einmal die Hälfte der Summe tatsächlich an. Die Europäische Union etwa fordert stabile politische Verhältnisse, bevor sie mehr auszahlt. Die Präsidentschaftswahl im November aber endete in Chaos und Betrug, verlässliche Ergebnisse gibt es bis heute nicht. Die am Wochenende vorgesehene Stichwahl musste verschoben werden. Ob und wann sie stattfinden wird, ist ungewiss.
Trotz der großen Schwierigkeiten müssten die Haitianer ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen – unter internationaler Kontrolle, meint Handelskammerpräsident Reginald Boulos. Sein Verband hat Zukunftspläne erarbeitet.
"Wir glauben an eine gute Zukunft für Haiti, wenn wir lernen, unser Land zu lieben. Die Haitianer wollen bisher nur eins: ein Visum, um nach Europa oder in die USA zu gehen. Sie wollen weg! Wir brauchen eine Mittelschicht, das wären Hunderttausende kleine Unternehmen. Wir haben hier fünf Sektoren, die eine Schlüsselrolle für die Entwicklung von Haiti spielen müssen: Landwirtschaft, Geflügel- und Rinderzucht, Textilindustrie, Tourismus und jetzt, nach dem Erdbeben, Häuserbau und Stadtentwicklung. Das Erdbeben ist unsere Chance auf einen Neuanfang. Das alte Spiel ist vorbei und der Schiedsrichter pfeift ein ganz Neues an."
Der Radiojournalist Richard Widmaier dagegen vertraut zunächst nicht auf die eigenen Leute. Er fordert einen Marshall-Plan.
"So wie es in Europa nach dem Krieg gemacht wurde. Haiti einfach so wieder aufzubauen, wie es vorher war, bringt langfristig nichts. Wenn die internationale Gemeinschaft wirklich den Willen hat, könnte Haiti ein Beweis für andere Regierungen, für den Währungsfonds und für die Weltbank werden, dass sie so was schaffen kann."
Allerdings sind die internationalen Helfer, vor allem die UN-Soldaten aus Nepal, im Oktober in Misskredit geraten. Eine Choleraepidemie brach aus, 3.600 Haitianer sind bislang daran gestorben, 400.000 erkrankt. Der Erreger soll aus Asien stammen. Schon dieses Gerücht hat Sprengkraft: Die Helfer werden zu Schuldigen gemacht von immer mehr der rund eine Million Menschen, die auch nach einem Jahr noch in Zelten hausen müssen.
Für sie war es ein verlorenes Jahr.