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Das Vertrauen schwindet

Russland hat am Mittwoch den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) offiziell außer Kraft gesetzt. Präsident Wladimir Putin hatte bereits im April mit einem Moratorium des Abrüstungsvertrages gedroht und damit auf Pläne der USA für ein Raketenabwehrsystem in Tschechien und Polen reagiert. Das russische Außenministerium betonte, es sei weiter offen für einen Dialog über den KSE-Vertrag. Robert Baag berichtet,

    Alexej Arbatov vom Moskauer Zentrum für Internationale Sicherheit bei der Russischen Akademie der Wissenschaften schätzt das Privileg, sich nicht als Politiker oder Diplomat und damit zurückhaltend äußern zu müssen. Und er glaubt, erkannt zu haben, wo des Pudels Kern liegt, der dazu geführt hat, dass Russland seit Mitternacht den Vertrag über die Konventionellen Streitkräfte in Europa - kurz KSE - ausgesetzt hat:

    "Russland schickt jetzt ein kräftiges Signal an den Westen, dass es mit der gegenwärtigen Situation im Bereich des konventionellen Streitkräfteverhältnisses unzufrieden ist. Aber: Russland bricht nicht die Brücken hinter sich ab. Es ist weiter zu einem Sicherheitsdialog bereit. Allerdings unter Berücksichtigung aller neuen Realitäten. Zu 90 Prozent ist das heutige Problem mit einem ganz einfachen aktuellen politischen Faktor verknüpft. Und der heißt: NATO-Osterweiterung."

    Vor einigen Jahren noch konnte Russland lediglich protestieren gegen die stets misstrauisch beäugte, ungeliebte Erweiterung der Allianz auf sein ehemaliges Vorfeld. Heute fühlt sich Russland auch militärisch zunehmend wieder auf Augenhöhe mit dem Westen und will Ernst genommen werden. Da die NATO-Staaten - anders als vor einigen Jahren Russland, die Ukraine und Weißrussland - die sogenannten Istanbuler KSE-Zusatz-Vereinbarungen aus dem Jahr 1999 immer noch nicht ratifiziert haben, hat die russische Führung jetzt beschlossen, Flagge zu zeigen. Sie setzt einseitig den KSE-Vertrag für Russland aus. Und das bedeutet seit heute morgen null Uhr unter anderem:

    "Wir werden weder Inspektionen auf unserem Territorium zulassen noch selbst Inspektionsmissionen ins Ausland unternehmen."

    So Anatolij Antonov an, Departement-Direktor im russischen Außenministerium, zuständig für Fragen der Abrüstungs- und Sicherheitsfragen. - Allerdings, unterstreicht Konstantin Kossatschov, in der alten Duma der Vorsitzende des Ausschusses für Internationale Angelegenheiten, dass dieser Schritt Moskaus keinesfalls falsch verstanden werden sollte, denn:

    "Wir werden auf keinen Fall eskalierend vorgehen und in unserem europäischen Gebiet die Streitkräftezahl jetzt merklich erhöhen. Viele Handlungen unser Partner verstehen wir gegenwärtig nicht. Warum werden auf einmal in Bulgarien und Rumänien US-Stützpunkte errichtet? - Ich will auch nicht ausschließen, dass zum Beispiel an der estnisch-russischen Grenze auf einmal eine NATO-Basis entsteht. Wir werden das alles sehr genau beobachten. Wenn unsere Partner ihr Potential in unserer allernächsten Nachbarschaft erhöhen sollten.. - klar, dass wir dann entsprechend reagieren werden."

    Aber eben nur dann, beteuert Kossatschov. Westliche Vorhaltungen, auch Russland komme seinen vertraglichen Verpflichtungen nicht nach, kann Abrüstungsexperte Antonov überhaupt nicht nachvollziehen. Ohne die USA beim Namen zu nennen, versucht er den Vorwurf zu entkräften, dass auf dem Gebiet der Moldau-Republik, der früheren Sowjetrepublik Moldawien, im Stützpunkt Kolbasno, absprachewidrig immer noch russische Truppen stationiert und Waffen gelagert seien. Antonov:

    "Ein gewisses Land sagt uns: ‚Solange Russland uns nicht die Seriennummer des kleinsten Einzelteils des letzten Sturmgewehrs im Stützpunkt Kolbasno mitteilt, heißt das für uns, dass Russland seine Istanbuler Verpflichtungen nicht erfüllt hat.' - Der deutsche Vertreter wiederum sagt mir: Das ist Quatsch, das ist nicht unser Verständnis innerhalb der NATO. Da kann ich nur sagen: Liebe NATO-Freunde, werdet euch doch erstmal selbst klar, was ihr eigentlich von uns wollt ."

    Was die russische Seite will, macht hingegen der Abgeordnete Kossatschov von der Putin-Partei "Einiges Russland" deutlich. Ihm und den russischen Sicherheitspolitiker geht es um die Revision der so genannten Flankenbegrenzung an den Nord- und Südgrenzen Russlands, die unter den heutigen Bedingungen - unruhiger Kaukasus, Wegfall des früheren mittelosteuropäischen Vorfeldes - einfach zu niedrig sein. Dort, so das Moskauer Verhandlungsziel, müssten sich mehr russische Truppen hin- und herbewegen dürfen. Und so fordert Kossatschov:

    "Auf der Basis der bislang adaptierten, aber vom Westen nicht ratifizierten KSE-Fassung möchten wir zusätzliche Vereinbarungen, die die aktuellen Interessen aller Beteiligten berücksichtigen. Wenn etwa nur Russland die Flankenbegrenzugs-Vereinbarungen einhalten muss, dann empfinden wir dies zumindest als diskriminierend."

    Den im Westen vereinzelt formulierten Protest, wonach das russische Moratorium rechtlich fragwürdig sei, weil im KSE-Vertrag so nicht vorgesehen, kontert Anatolij Antonov vom russischen Außenministerium kühl und mit einer gewissen Genugtuung:

    "Nach den Normen des internationalen Rechts gehen wir vom anerkannten Prinzip aus, das da heißt: 'Wenn mehr erlaubt ist, dann ist auch weniger erlaubt!' - Ein Austritt aus dem KSE-Vertrag wäre das erlaubte Maximum, ein Moratorium ist von geringerer Tragweite, damit also ebenso erlaubt."