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Das Volk der Jäger und Sammler

Jäger und Sammler ist eine Zivilisationsform, die heute beinahe ausgestorben ist. Doch im Norden Tansanias hat das kleine Volk der Hadza seine archaische Lebensweise beibehalten können.

Von Jürgen Hanefeld |
    Es ist nicht leicht, sie überhaupt zu finden. Nachts, bei bedecktem Himmel, herrscht absolute Finsternis im Herzen Afrikas. Kein Lichtreflex verleiht der Dunkelheit Kontur, hilft bei der Orientierung.

    Wir tasten uns durch das weglose Gelände voller Dorngestrüpp, geleitet nur vom Wispern und Geraune fremder Stimmen. Dann endlich, überraschend nah, ein roter Punkt: die Glut einer Zigarette, die uns an ein fast schon erloschenes Feuer führt. Jetzt sind sie plötzlich unterscheidbar, Silhouetten nackter Oberkörper, fünf, sechs junge Männer, ein Alter dazwischen und ein Kind – vom Volk der Hadza.

    "Sie sind mit keinem anderen Volk verwandt. Das haben auch genetische Tests erwiesen. Man dachte eine Zeit lang, weil sie eine sehr ähnliche Sprache haben mit den Klicks, dass sie mit den San im südlichen Afrika verwandt sind. Das ist nicht der Fall. Und sie sind ja die ursprünglichen Menschen hier."

    Christian Schmeling lebt auf seiner Farm am Lake Eyasi, einem der Salzseen im Großen Afrikanischen Grabenbruch. Seine Eltern waren kurz vor seiner Geburt, 1969, aus Deutschland nach Tansania ausgewandert, wo er aufgewachsen und zuhause ist. In dieser Gegend ziehen die Hadza durch den Busch - Nomaden, die ihr Lager alle paar Wochen wechseln. Sie haben keine Häuser, sie hüten kein Vieh, sie bestellen kein Land. Sie leben so, wie alle Menschen auf der Welt bis vor 10.000 Jahren lebten, gehören heute aber zu den allerletzten ihrer Art. Außer an verborgenen Orten in Afrika gibt es nur am Amazonas und in Papua Neuguinea noch Jäger und Sammler - kleine Völker wie die Hadza, die man auf 800 bis 1200 Menschen schätzt.

    Die Männer am Feuer vertilgen gerade einen Mungo. Das gut halbmeterlange Raubtier ist die Beute der Nacht. Die Jäger brüsten sich mit ihrer Treffsicherheit. Jeder behauptet, er habe das Tier erlegt. Doch wer will das entscheiden, wo doch drei Pfeile gleichzeitig trafen.

    Nach der nächtlichen Mahlzeit beginnt der zweite Teil der Jagd, bei dem touristische Begleiter geduldet sind. Gegen Gebühr, sagt Schmeling und wirbt um Verständnis:

    "Das Geld, das sie durch Tourismus verdienen, wird genutzt, um das, was sie nicht mehr finden oder jagen können, zuzukaufen.Sie können nicht mehr so vom Land leben, wie sie es gewohnt sind, durch Jagen und Sammeln. Es reicht eben nicht mehr."

    Die Jagd ist keine Show. Wer die seltene Chance nutzen will, einen Einblick in diese archaische Kultur zu gewinnen, muss rechtzeitig Kontakte knüpfen, sehr früh aufstehen, dornenfeste Kleidung tragen und gut zu Fuß sein.

    Im ersten Tageslicht geht es im Laufschritt durch das Gestrüpp. Kein Trampelpfad, keine Richtung ist erkennbar. Schon nach wenigen Minuten würden wir den Rückweg nicht mehr finden. Mächtige Affenbrotbäume und zart gefächerte Schirmakazien ragen aus dem mannshohen und messerscharfen Elefantengras. Keuchend, stolpernd und immer wieder strauchelnd bemühen wir uns, den Anschluss nicht zu verlieren an die fünf jungen Jäger, die auf ihren Plastiklatschen viel schneller, leiser und leichtfüßiger sind als wir in klobiger Outdoormontur. Während uns zahnstocherlange Dornen die Ärmel aufritzen, bekommen die flinken Bogenschützen in ihren knappen Shorts nicht einmal Kratzer ab. Ihre Oberkörper sind nackt bis auf Trophäen: Einer trägt den Schwanz einer Wildkatze als Kopfschmuck, ein anderer ein Pavianfell auf dem Rücken. Ein Häuptling?

    "Nein. Hierarchien sind absolut verpönt. Gelegentlich gibt es mal einen Hadza, der sich mehr oder weniger als Anführer aufspielt, aber das wird gar nicht gern gesehen. Einerseits mögen und haben die Hadza keine Hierarchien, andererseits sind sie sehr konfliktscheu. Wenn irgendwo jemand in ihre Gegend zieht und Druck auf sie ausübt, ziehen sie lieber weg, als sich dem Druck zu stellen."

    Die Gruppe hat sich aufgeteilt. Zwei der fünf Männer sind im Gebüsch verschwunden. Durch vogelähnliche Pfeiflaute halten sie Kontakt zueinander. Hadza leben in kleinen Verbänden mit etwa 30 Männern, Frauen und Kindern. Ehen gibt es nicht, aber jeder hat nur einen Partner zurzeit. Die Stellung der Frauen ist stärker als die der Männer, sagt Christian Schmeling:

    "Das hat meines Erachtens auch damit zu tun, dass die Frauen etwa 80 Prozent zur täglichen Ernährung beitragen. Und die 20 Prozent, die die Männer erjagen, sind sozusagen der Proteinbonus, der zwar schön ist, aber nicht wichtig für das tägliche Überleben. Frauen sammeln, was immer saisonal verfügbar ist: Knollen, Wurzeln, Früchte, Beeren, was immer. Interessanterweise wird Honig vorwiegend von Männern gesammelt, allerdings auch von Frauen."

    Wilder Honig spielt eine besondere Rolle bei den Hadza. Er ist das Zahlungsmittel für Dinge, die sie im Wald nicht finden: Pfeilspitzen aus Metall und Schmuck für die Frauen. Beides liefert ihnen das Hirtenvolk der Datoga, die mit den Hadza seit Menschengedenken in Symbiose leben. Die höchstgestellte Person in jedem Datoga-Dorf ist der Schmied.

    Während der ein Rot glühendes Stück Eisen mit dem Hammer bearbeitet, erklärt unser Dolmetscher Mudi die Machart der Pfeilspitzen. Gegossen aus Aluminium sind sie nicht nur mit Widerhaken versehen, sondern auch mit einer feinen Rinne, durch die Gift in den getroffenen Körper läuft und ihn binnen Minuten lähmt. Die Hadza gewinnen es aus dem milchigen Saft der Wüstenrose. In hoher Konzentration kann es auch für Elefanten tödlich sein. Mudi nennt den Preis der Pfeilspitzen: Fünf Stück kosten fünf Kilo Honig. Oder, falls gerade kein Honig da ist, das Fell eines Kudu, einer großen Antilope.

    Pfeilspitzen sind also – auch wenn sie aus geschmolzenen Cola-Dosen hergestellt werden -, teuer für die Hadza. Kein Wunder, dass sie nach jedem Fehlschuss den Pfeil im hohen Gras der Steppe suchen – egal wie lang es dauert. Doch allzu häufig kommt das nicht vor an diesem Morgen. Die Hadza sind zwar keine Krieger, aber gleichwohl Meisterschützen. Schneller als unser untrainiertes Auge gucken kann, hat einer der drei jungen Männer in einem Baum eine Taube entdeckt, schleicht sich mit durchgezogenem Bogen in Schussposition und zieht ab.

    Dumpf ist das Geräusch, mit dem das Tier aufschlägt, getroffen, aber nicht getötet. Mit wachem, ungerührtem Blick kommt der Jäger auf uns zu, zieht den Pfeil aus der Flanke des zitternden Vogels und – beißt ihm den Hals durch.

    Es ist ein Bild, das in Erinnerung bleibt. Das Durchbeißen des Genicks wirkt animalisch, genauso, wie die katzenhafte Mühelosigkeit, mit der Hadza aus Wasserlöchern trinken, ohne die Hände zu benutzen. Sie beherrschen Techniken, die unsere Kultur längst verloren hat: wie man mit einem Stein und einem Stöckchen in Sekundenschnelle Feuer macht, wie man essbare Knollen und heilende Pflanzen findet, wie man ohne Geld oder Besitz satt wird. Und dabei nie mehr nimmt als man braucht. Was sie töten, essen sie – der Rest bleibt unberührt. Sie hinterlassen keine Spuren im Busch, sie sind der Busch. Für Christian Schmeling sind sie Naturschützer par excellence:

    "Es gibt einige, die leben weit weg von hier und ziemlich isoliert. Und es gibt auch Bestrebungen von verschiedenen Organisationen, den Hadza Landrechte zu verschaffen. Es gibt da ein Gebiet, wo es fast schon dazu gekommen ist, dass das Land unter ihrer Ägide verwaltet wird. Und dort ist es erstaunlich, zu sehen, wie sich die Natur wieder erholt hat, seit fremde Leute nicht mehr zuziehen und das Vieh herausgehalten wird."

    Aber sichert das auf Dauer ihr Überleben? Oder sollten sie sich nicht doch - wie es die Regierung Tansanias wünscht - "integrieren", also ihre Identität aufgeben?

    "Sie müssen ja alle zur Schule gehen, zumindest zur Grundschule. Und ich würde sagen, dass vielleicht 50 Prozent derjenigen, die die Schule abschließen, sozusagen moderne Tansanier werden, während die anderen 50 Prozent zurückgehen in den Busch und so leben wie ihre Vorfahren. Es gibt beides."

    Und gibt es zwischen beiden Wegen eine Brücke? Christian Schmeling nennt ein Beispiel, einen jungen Mann, auf den er auch persönlich stolz ist.

    "Der war von Anfang an sehr gut in der Schule, also auf dem Gymnasium. Als er im zweiten Jahr war, war er der beste von 120 Schülern. Er hat unheimliches Potenzial, er möchte gerne an die Uni, um dort Jura zu studieren, um sich für seine Leute und deren Landrechte einsetzen zu können. Und wir würden ihn auf jeden Fall auch weiter unterstützen."

    Die Sonne steht hoch am Himmel, als der Jagdausflug mit einem Taubenfrühstück endet. Mithilfe ihrer Pfiffe haben sich die Jäger wieder zusammengefunden und ihre Beute ins Feuer geworfen. Auch die Jüngsten rauchen - irgendein Kraut. Die Treffsicheren haben sich Federn ins krause Haar gesteckt. Mit Asche und Blut verkrustete Finger reichen mir ein Stück frisch gegrilltes Brustfleisch. Einer der Jäger trägt die Plastikschale eines Handys als Gürtelschnalle – Zivilisationsmüll und Menetekel.

    Bei unserer Rückkehr zum Lagerplatz begrüßen Frauen und Kinder die erfolgreichen Jäger mit Tanz und Gesang. Der Rückweg führt durch ein trockenes Flusstal – überspannt von einer modernen Betonbrücke. Noch fehlt die Straße. Aber es kann nicht mehr lange dauern, bis Autolärm die Vögel vertreibt – und mit ihnen die Hadza.