So schreibt und jubelt Joe McGinnis, der gleichsam dem Club und der Stadt als Mitgift des Wunders beschert wurde: näm-lich als Chronist, der die großen und kleinen Taten auf dem Fußballfeld und drumherum in Worte verwandelte, um so das Geschehen aus der Vergänglichkeit der Sportberichte in die ehernen Formen der Epik emporzuheben. Womit gleich zwei wundersame Begebenheiten zusammenkamen.
Denn dem Amerikaner Joe McGinnis war es keineswegs an seiner 1942 bezogenen Wiege gesungen worden, daß er einmal in seinen reifen Jahren von einer haltlosen Fußballeidenschaft befallen werden sollte. Es überkam ihn vielmehr eines Tages ganz überraschend in der Art einer schlagartigen Erleuchtung.
"Daß ich mich plötzlich in einen Fußballbesessenen verwandeln könnte, wäre mir ebenso unvorstellbar erschienen, wie Astronaut zu werden.
Und es begann nicht einmal schleichend. Ich wachte einfach eines Morgens im späten Frühjahr 1994 auf und war hellauf begeistert, daß die USA Gastgeber für die Weltmeisterschaft sein würden. Daß ich noch nie auch nur ein einziges Spiel gesehen hatte, schien dabei keinerlei Rolle zu spielen."
Für seine plötzliche Leidenschaft ließ der Reporter-Star McGinniss kurzerhand einen Millionen-Kontrakt für ein O.J.Simpson-Buch sausen. Lieber wollte er im bukolischen Hinterland der Abruzzen mit den Dorfkickern die Höhen und Tiefen einer italienischen Fußballsaison auskosten. Doch offenbar ließ dem frischbekehrten Fußballnarren der sensationelle Aufstieg von Castel di Sangro in die Seria B auch gar keine andere Wahl.
"Das war jenseits aller Vorstellungskraft, mehr als man sich in den wüstesten Fieberphantasien hätte ausmalen können. Und in der Minute, in der ich davon las - im Juni 1996 im Guerin Sportivo, einem italienischen Fußballmagazin, das ich abonniert hatte -, wußte ich, daß ich nach Castel di Sangro fahren und über das Wunder und was immer darauf fol-gen mochte, schreiben mußte."
Joe McGinniss zog also für die Spielzeit 1996/97 nach Castel di Sangro, was manchem fußball- und europafernen Amerikaner durchaus ähnlich vorkommen mag wie einstmals eine völkerkundliche Expedition in das dunkelste Afrika. Und tatsächlich bediente sich der Fußballfeldforscher einer Methode, die unter dem Namen Going native aus der Ethnologie bekannt ist. Was nichts anderes heißt, als daß der Forscher nicht mehr von außen beobachtet und sein theoretisches Instrumentarium anwendet, sondern in das Leben des von ihm ausgewählten Stammes eintaucht, um es von innen heraus zu begreifen. Jedenfalls verwandelte sich der Amerikaner, kaum daß er die Ortsgrenzen überschritten hatte, in einen glühenden Anhänger der Stadt und ihrer Fußballmannschaft. Er verwandelte sich so sehr, daß ein italienischer Journalist schrieb, der scrittore americano sei sogar zum Italiener geworden, um die Italiener besser zu verstehen. Was zumindest für die vielen nervenzerrenden Neunzig-Minu-ten-Spannen gilt, die McGinnis unter anderen Fans auf den Zuschauerrängen tobend, klagend oder jubelnd durchstand. Vom tifo, dem Typhus des Fußballwahnsinns wurde er ergriffen, wie alle anderen tifosi, was er sich folgendermaßen erklärte:
"Der aus Uruguay stammende Schriftsteller Eduardo Galeano schreibt von dem 'melancholischen Ich, das ein Wir war', wenn man nach Ende eines Spiels auseinandergehen muß und der Fan wieder 'in seine Einsamkeit zurückkehrt'. Aber in Castel di Sangro gab es für mich diese Trennung nicht: Ich und die Mannschaft waren nun die ganze Woche über eins, und wie lächerlich und erbärmlich das auch klingen mag, diese Eintracht war es, die meinem Leben Leidenschaft und Sinn verlieh."
Für seinen rückhaltlosen Einsatz bei der Erforschung der italienischen Fußballprovinz wurde McGinniss denn auch von der Zeitung Il Mattino di Napoli mit einem überschwenglichen Kompliment bedacht:
"Wenn Goethe von den Ähnlichkeiten und Kontrasten zwischen der Antike und dem Italien seiner Zeit bezaubert war, und wenn Stendhal von der weisen Sanftheit der Lebensart in Bann geschlagen wurde, dann hat McGinniss einen mehr plebejischen, jedoch umso volkstümlicheren Zugang gewählt: das Fußballspiel."
Doch trotz dieser zweifellos schönen Verklärung seiner Bemühungen bleibt unübersehbar, daß McGinniss mit seinem Forschungsgegenstand auch mancherlei Schwierigkeiten hatte. Die er auch gar nicht verheimlicht. Ja ganz im Gegenteil läßt sich sagen, daß derlei Schwierigkeiten, die sowohl in komischem als auch tragischem Gewand auftraten, vermutlich sogar den größten Teil seines Buches füllen: in Form von köstlichen Anekdoten und sonstigen kuriosen Merkwürdigkeiten.
Ein gutes Beispiel dafür ist das Sprachenproblem, das bei der Annäherung an fremde Welten immer sehr zuverlässig für Ver-wicklungen sorgt. Als McGinniss in Italien eintraf, konnte er zwar schon manches in der Gazzetta dello Sport entziffern, doch mit dem Parlieren haperte es noch gewaltig. Was manchen Kontakt einer Belastungsprobe aussetzte. Wie an jenem Tag, als der Amerikaner den Torwart Lotti zu einer bravourösen Partie beglückwünschen wollte.
"'Per te', sagte ich und wußte dann nicht weiter, 'war es un bel pasticcio.' Ein tolles Spiel.
Er sah mich merkwürdig an und neigte den Kopf zur Seite. 'Si davvero?' fragte er, 'perche?' 'Tatsächlich, wieso?' Ich bemerkte zu spät, daß ich Mist gebaut hatte. 'Ah, scusi, scusi, per favore. Bello. Bella. Lei è molto gentile e molto bravo. Bravo! Bravo! Ciao!' [...]
Verdammt! Das war ein derber Schnitzer. Ich hatte das falsche Wort für 'Spiel' benutzt. 'Una bella partita' hätte ich sagen sollen; 'un bel pasticcio' bedeutete unglückseli-gerweise: 'eine schöne Schweinerei'."
Dennoch gelang es dem Fußballethnologen bald, zur italienischen Sprache und zu fast allen Mannschaftsmitgliedern ein gutes wenn nicht herzliches Verhältnis herzustellen. Die Verständigung mit den Vereinshäuptlingen dagegen erforderte keine besonderen sprachlichen Fähigkeiten. Zwar war McGinniss als Beobachter auf deren Duldung angewiesen, aber über solches Gewährenlassen ging der Kontakt auch nicht wesentlich hinaus. Signor Gravina, der Vereinsmanager, ersparte sich gegenüber dem fremden Beobachter ohnehin jedes Wort, weil er niemanden gebrauchen konnte, der ihm in die Karten schauen wollte. Signor Rezza wiederum, der Besitzer des Vereins, ist ein so reicher und mächtiger Mann, daß er sich ohnehin auf wenige Worte und vielsagendes Gebrumm beschränken kann, um seinen Untergebenen, darunter zwei Leibwächtern, seinen Willen kundzutun. Als McGinniss bei ihm seinen Antrittsbesuch macht, lernt er das private Reich eines filmreifen Provinzpotentaten kennen: ein riesiges vollkommen künstlich durchgestaltetes Gelände zwischen den Gipfeln der Berge, deren Form ebenfalls nach Signor Rezzas Geschmack modelliert wurde. Auf den grünen Matten dazwischen tummeln sich Gemsen, Gazellen, Maultiere, Pferde, Schafe und andere, nicht unbedingt heimische Tierarten.
"'Warum?' war die erste Frage, die einem da in den Sinn kam. [...] Nach viel Herumgedruckse von seiten Vitos und hartnäckigem Nachfragen Barbaras kam es schließlich heraus: Steuervergünstigungen. Indem er einen Wildpark für diverse Spezies unterhielt, die nach Meinung der italienischen Regierung gefährdet waren, kam Rezza in den Genuß von Steuernachlässen, die so gewaltig waren, daß es praktisch der italienische Steuerzahler war, der das Anwesen erbaut hatte und unterhielt."
Auch sonst erweist sich Signor Rezza als Mann, der das Geld in seine Taschen zu lenken versteht, aus denen es auch nicht so schnell wieder auftaucht. Gleich ob es sich um Aufstiegsprämien vom Fußballbund handelt, die eigentlich den Spielern zustehen, oder um die Finanzierung des drin-gend erforderlichen Stadionausbaus.
All diese Machenschaften der Häuptlinge betrachtet der teilnehmende Beobachter McGinniss mehr oder weniger aus der Augenhöhe der Spieler, mit denen er sich darüber auch am offensten austauschen kann. Und für die Spieler gehören solche Phänomene eben zum System, dessen Machtgefüge und Mechanismen man besser nicht zu neugierig befragt. Das tut auch McGinniss nicht. Wahrscheinlich zu recht, weil sich sonst seine Fußballsaisonreportage womöglich binnen kurzem in eine Mafia-Recherche verwandelt hätte.
Viel ergiebiger fallen da für den Feldforscher die Auseinandersetzungen mit dem Trainer über die wahre Lehre des Fußballs aus. Osvald Jaconi, der sich selbst als "Bulldozer" versteht, gehört, neben einigen Spieler, fraglos zu den wichtigsten Protagonisten des Buches. Und das nicht nur, weil die Mannschaft von seinen Entscheidungen abhängt, sondern weil er dramaturgisch gesehen auch der große Kontrahent des scrittore americano ist. Beide tragen außerhalb der Linien ihr eigenes Match aus, das beispielsweise so geht:
"'Osvald', erklärte ich, 'mir wäre es lieber, du würdest Rimedio nicht einsetzen.'
'Leck mich am Arsch', erwiderte er.
'Entschuldige, Osvald. Ich rede wirklich nicht gerne so, aber -'
'Leck mich am Arsch.'
'Du kannst Remedio unmögich einsetzen!'
'Du kannst mich kreuzweise.'
Wir schienen in eine Sackgasse geraten zu sein.
'Tut mir leid, aber ich kann mich deiner Entscheidung nicht anschließen', sagte ich.
'Verpiß dich.'" [
Jaconi setzte auf den Charakter, die Mentalität und den guten Mut seiner Spieler und ansonsten auf eine starre Defensivtaktik, bei der die Angst, ein Tor zu kassieren, immer größer war als der Wille, eines zu schießen. McGinniss verabscheute diese spielfeindliche Strategie der Angst und macht daraus bei der Beschreibung der vielen Begegnungen, die er miterlebte, auch keinen Hehl.
"Und dann fing das Spiel an. Als die Mannschaften auf den Platz kamen, verschlug es mir vor Bestürzung die Sprache - obwohl der heutige Gegner seit zehn Spielen nicht mehr gewonnen hatte, [...] hatte Jaconi sich wieder in seinen 4-5-1-Bunker verkrochen. [...]
Während der ersten Viertelstunde wies kaum etwas darauf hin, daß das Spiel überhaupt schon angefangen hatte. Die beiden arteriosklerotischen, überbevölkerten Mittelfeldabteilungen wechselten sich dabei ab, den Ball zu verlieren oder ins Seitenaus zu kicken. Nach zwanzig Minuten schrieb ich in mein Notizbuch: Reggina, eine grauenhafte Mannschaft! Die schlechteste des Jahres! Aber ein Tor von Castel di Sangro so wahrscheinlich wie die Entdeckung von Leben auf dem Mars."
Das klingt vernichtend, für die Mannschaft, den Trainer und einen nicht unbeträchtlichen Teil des italienischen Fußballs. Denn den Ermittlungen von McGinniss zufolge vertrat Jaconi mit seiner Defensivtaktik nichts Geringeres als die offizielle Lehre der italienischen Trainerakademie. Gleichzeitig aber sind solche rabenschwarzen Spielberichte auch nur ein Reflex der Verzweiflung des Fans auf der Tribüne. Bei günstigerem Spielverlauf klingt das alles völlig anders, ganz zu schweigen von jenem Schicksalsspiel, dem vorletzten der Saison, das über den Verbleib in der Seria B entscheiden sollte. Vorher hatte ein verantwortungsvoller junger Mann die Verteilung von Beruhigungstabletten unter den Fans organisiert. Was sich als sinnvolle Maßnahme er-wies, als der Gegner Pescara in der 77. Minute zum 1:1 ausglich.
"'Entsetzen machte sich breit', schrieb Il Corriere dello Sport. 'Zu diesem Zeitpunkt schien der Albtraum Abstieg Gestalt anzunehmen.'
Doch drei Minuten später, bei nur noch zehn verbleibenden Spielminuten und einer so extremen Anspannung, daß ein Massenherzinfarkt drohte, tankte sich Claudio vor das gegnerische Tor durch und zog aus achtzehn Metern zum härtesten Knaller seines Lebens ab. [...]
Es war vorbei. Die Pforten des Paradieses standen offen, und mit Claudio Bonomi an der Spitze waren wir hindurchgestürmt."
McGinniss gehört nicht zur Spezies der intellektuellen Fuß-ballfreunde, die diesem Sport mit allerlei ausgeklügelten Analysen und Deutungen eine hochgeistige Aura verleihen wollen. Ebensowenig ist er ein objektiver Reporter, der sein Bild des Geschehens aus scharfsichtigen Beobachtungen und vielsagenden Kombinationen zusammensetzt. Genaugenommen ist er etwas, was er eigentlich gar nicht sein dürfte, wenn er als Berichterstatter ernst genommen werden will: nämlich ein ziemlich egozentrischer Ich-Erzähler, dem es offenbar auch noch gefällt, auf recht hemdsärmelige amerikanische Art am Schauplatz seiner Nachforschungen den großen Zampano zu geben. Unter diesem kritischen Blickwinkel ließen sich dem Buch eine ganze Reihe von Mängeln ankreiden.
Dreht man aber die Sache ein wenig anders ins Licht, dann bietet sich ein günstigeres Urteil an, das möglicherweise auch den Intentionen des Autors näher kommt. Dann könnte man McGinniss' italienisches Fußballabenteuer schlichtweg als Selbstversuch klassifizieren, bei dem es gewiß auch um eine Kleinstadt in den Abruzzen und ihre Fußballmannschaft geht, hauptsächlich aber um die Frage: Wie ist es und was erlebt man, wenn man sich hundertprozentig dem Delirium des Fuß-ballfiebers ausliefert? Das würde auch erklären, warum unter den handelden Figuren des Buches der Autor selbst sicher die wichtigste ist. Was nicht heißt, daß es nicht eine Vielzahl von liebevoll porträtierten, manchmal auch knapp karikierten Nebenfiguren gäbe - wie es McGinniss überhaupt an Lobeshymnen und Würdigungen auf die aufrechten Spieler und Bewohner von Castel di Sangro nicht fehlen läßt.
Schade nur, daß nach dem Happy-End des Klassenerhalts die bösen Mächte in diesem "italienischen Fußballmärchen" doch noch die Oberhand gewonnen haben. Nachdem nämlich Castel di San-gro seinen Platz in der Seria B gesichert hatte, verabredete die Vereinsleitung für das letzte Spiel der Saison eine abgekartete Partie. Das behauptet zumindest McGinniss. Durch einen geschenkten Sieg habe man Bari ebenfalls vor dem Abstieg bewahrt. So sei eben das System mit seinen wechselseitigen Verpflichtungen, hätten die Spieler ihren Chronisten McGinniss zu beschwichtigen versucht. Doch der raste vor Enttäuschung und scheute auch vor einem Eklat auf dem Marktplatz von Castel di Sangro nicht zurück. Womit er sich den Fluch des undurchsichtigen Managers Gra-vina einhandelte.
"'Sollten Sie in Ihrem Buch irgend etwas über una busta-rella schreiben, darüber, daß mit dem Bari-Spiel irgend etwas nicht in Ordnung wäre, dann wird das Ihnen so leid tun, daß Sie nie wieder etwas schreiben möchten. Haben Sie das kapiert?' Dabei blickte er zu Signor Rezza hinüber, als wolle er mich dadurch einschüchtern."
Nun, Joe McGinniss hat sein Buch über "Das Wunder von Ca-stel di Sangro" trotzdem geschrieben, und auch die dubiosen Vorkommnisse nicht nicht verschwiegen. Was Fußball- und Italien-freunde gewiß nicht unvorbereitet trifft. Viel wich-tiger ist jedoch, daß dieses Buch für sie und andere Leser reich-lich Spannung, Amüsement und interessante Einblicke bietet. Denn Joe McGinniss ist nicht nur ein begnadeter Fußballnarr sondern auch ein lebendiger und gewitzter Erzähler.
Ob man allerdings in Italien nach Goethe und Stendhal nun auch bald in den Spiegel von McGinniss blicken kann, ist inzwischen zur juristischen Frage geworden. Manager Gravina hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Publikation zu verhindern. Überhaupt ist ja der Sprengsatz, der für den italienischen Fußballverband in diesem Buch steckt, nicht zu unterschätzen. Verglichen damit gleichen die Nachtretereien, die sich McGinniss und Trainer Jaconi seit Erscheinen der amerikanischen Ausgabe liefern, fast schon wieder einem Gerangel unter alten Kumpeln. Behauptete doch Jaconi glatt in einer Zeitung:
"Er hat einfach über Dinge geschrieben, die er nicht kennt und von denen er nichts versteht."
Worauf McGinniss ohne Zögern mit einem Fax konterte:
"Osvaldo, per carità! Um Gottes willen! Wie kannst du sowas sagen? Ich bin wirklich stinksauer!"
Und wenn sie sich nicht versöhnen werden, was eher unwahrscheinlich ist, dann wird die Partie zwischen dem scrittore americano und dem italienischen Fußball noch in einige Ver-längerungen gehen. Zumal McGinniss unlängst eine ganz große Keule ausgepackt hat, als er die Machenschaften gegen sein Buch als Indiz für einen "neuen Faschismus" bewertete.