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Das Wunder von Helsinki (1/5)
Erinnerungen an eine historische Konferenz

Ein kleines Land als Motor großer Weltpolitik und als Vermittler zwischen den verfeindeten Machtblöcken: Das war Finnland in den 1970er-Jahren. Gekrönt wurde diese Politik der Verständigung durch die Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte am 1.August 1975 in Helsinki. Eine Spurensuche 43 Jahre später.

Von Jenni Roth |
    Bundeskanzler Helmut Schmidt, der Staatsratsvorsitzende der DDR, Erich Honecker, US-Präsident Gerald Ford und der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky (l-r)
    Die politischen Führer von 35 Staaten Europas und Nordamerikas unterzeichneten am 1. August 1975 in Helsinki feierlich die KSZE-Schlussakte (picture-alliance/ dpa)
    Seppo Hentilä steht vor der Finlandia-Halle im Zentrum von Helsinki: ein lang gestreckter, weißer Marmorbau, vom "Nationalarchitekten" Alvar Aalto geplant und errichtet..:
    "... und war fertig, wenn diese Konferenz im August 1975 geöffnet wurde."
    Hentilä sind die 70er-Jahre ein besonders vertrautes Jahrzehnt: Als Historiker hat er sich intensiv mit der finnischen Außenpolitik im Kalten Krieg beschäftigt.
    Auf der Rückseite der Halle: Wasser: die Töölö-Bucht, ein tränenförmiger Ausläufer der Ostsee. Jogger und Radfahrer sind unterwegs, Stand-Up-Paddler stechen ihre Ruder ins Wasser, das gesäumt ist von Silberweiden mit dicken Stämmen und lanzettförmigen Blättern.
    "Damals waren viele Helsinkier böse, weil die schönen Sandgänge hier im Park asphaltiert wurden, weil die Amerikaner es verlangt haben, weil die mit ihren Jeeps besser fahren konnten. Diese Gegend, hinter jedem Busch versteckte sich ein Sicherheitsagent."
    Obdachlose wurden in Zügen aus der Stadt gebracht
    Hentilä erinnert sich, dass damals für die Abschlusssitzung der KSZE rund um die Halle mehrere Quadratkilometer gesperrt wurden, der Verkehr wurde umgeleitet. In einer Sonderoperation wurden Obdachlose von der Polizei in Zügen aus der Stadt gebracht, damit sie das Bild nicht störten. Ausnahmezustand für Helsinki – und für ganz Europa. Die KSZE war ein großes Ereignis: die erste multilaterale Ost-West-Konferenz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
    Seppo Hentilä steht im Foyer der Finnlandia-Halle
    Der Historiker Seppo Hentilä (Deutschlandradio / Jenni Roth)
    Dem finnischen Präsidenten Urho Kekkonen lag viel an einer solchen Konferenz: Er hoffte, damit Zeit zu gewinnen: Denn seit 1969 bestanden die Sowjets darauf, dass Finnland als erster nicht-kommunistischer Staat die DDR anerkennt. Weil Finnland als unparteiisch galt, schaffte Kekkonen, worum sich die Sowjetunion vergeblich bemüht hatte: die USA, Kanada und alle europäischen Länder von dem Gipfeltreffen zu überzeugen. Nur Albanien war nicht dabei.
    Bis dahin hatten die Westmächte und vor allem Westdeutschland die Vorschläge abgelehnt – aus Angst, solche Gespräche könnten die deutsche Teilung zementieren. Aber Anfang der 70er-Jahre war die Zeit reif. Nicht nur wegen Willy Brandts neuer Ostpolitik des "Wandels durch Annäherung", sagt Seppo Hentilä:
    "Die USA hatten den Vietnamkrieg in der Zeit verloren und haben das Gesicht auch verloren. Es war irgendwie eine Rettung von der außenpolitischen Sackgasse. Und die Russen, die waren wegen der Tschechoslowakei 1968 – ohne diese zwei – Vietnamkrieg und Prag 1968 -, wäre es nicht zu Helsinki 75 gekommen. Ein Diplomat hat nachher in seinen Erinnerungen geschrieben, wir haben nicht geglaubt, dass es eine Konferenz wird, höchstens eine Tea Party von Botschaftern."
    Kekkonen: "Sicherheit heißt nicht, Zäune errichten, sondern Tore aufmachen"
    Nach vier Vorbereitungskonferenzen trafen sich in Helsinki am 3. Juli 1973 die Außenminister der beteiligten Staaten – um über den eigentlichen Text der Schlussakte zu verhandeln. Die Kommissionsphase der KSZE begann zwei Monate später in Genf. Dort mahnte Staatspräsident Urho Kekkonen bei seiner Eröffnungsrede am 18. September 1973: "Sicherheit heißt nicht, Zäune errichten, sondern Tore aufmachen." Doch das fiel beiden Seiten nicht leicht.
    Deckblatt der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975
    Die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 (Deutschlandradio / Jenni Roth)
    "Mein ehemaliger Chef war in der finnischen Delegation in Genf und hat erzählt, dass als die Zeit zu Ende gehen drohte. Um 23 Uhr hat er im Saal die Uhr verstellt, um zwei Stunden Zeit zu gewinnen. Und alle waren zufrieden: Es war ein gemeinsamer Schluss von allen Delegationen, wir verlegen die Zeit."
    Der Leiter der damaligen finnischen Delegation hieß Jaakko Iloniemi. Als Vertrauter von Präsident Kekkonen war er der zentrale Beamte, der die Konferenz mit vorbereitete. Heute lebt er in Kruununhaka, einem Stadtteil im Zentrum von Helsinki, im selben Jugendstilhaus wie zu Konferenzzeiten. Eine Wohnung voller Geschichte: Regalmeter voller Bücher und Dokumente, noch am Boden stapeln sich die Papiere. Iloniemi ist heute 86 Jahre alt. 1973 zog er mit Familie für zwei Jahre nach Genf – für die schwierigen, oft zähen Vorverhandlungen:
    "Zwischendurch haben wir gezweifelt, ob das alles was wird. Manchmal ging es zwei, drei Wochen keinen Schritt vorwärts. Dann merkte man, vielleicht gibt's hier doch eine Möglichkeit. Dann gab es 18-Stunden-Tage und es ging doch weiter. Dann stockte es wieder."
    Jaakko Iloniemi, Leiter der damaligen finnischen Delegation, sitzt in seinem Wohnzimmer
    Jaakko Iloniemi war Leiter der damaligen finnischen Delegation (Deutschlandradio / Jenni Roth)
    Erste Unterschrift ist von Helmut Schmidt
    Als die Minister am 1. August 1975 in Helsinki zur Unterzeichnung zusammenkommen, ist alles fertig ausgehandelt, bis aufs letzte Komma stehen die drei sogenannten Körbe fest: Fragen der Sicherheit in Europa (Korb 1), Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt (Korb 2). Und die Fragen der Menschenrechte (Korb 3).
    "Die Grenzfrage war für die Sowjetunion besonders wichtig: Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es ja nie einen Friedensvertrag mit Deutschland gegeben. Und jetzt wurde endlich die Unverletzlichkeit der Grenzen beschlossen – also auch die Teilung Deutschlands in DDR und BRD anerkannt."
    Aber in der Schlussakte steht auch, dass die Grenzen friedlich und im Einvernehmen verändert werden dürfen – für den Fall, dass die politische Lage eines Tages eine Wiedervereinigung erlauben würde.
    Iloniemi zieht aus einem der Regale ein daumendickes Heft: das Dokument in sechs Sprachen.
    Die erste Unterschrift ist die gezackte Handschrift von Helmut Schmidt – die Sitzordnung der Delegationen richtete sich nach dem französischen Alphabet: Nur in diesem kommt die BRD vor der DDR. Und: Die Vertreter beider deutscher Staaten saßen nebeneinander:
    Seppo Hentilä: "Niemals hat Honecker so breit gelächelt, aber Helmut Schmidt war natürlich nicht so zufrieden, weil er mit dem östlichen Nachbarn sitzen musste."
    Für DDR-Chef Erich Honecker ist der Tag ein voller Erfolg – und für Kekkonen der Höhepunkt seiner Karriere. Er hat sein Maximalziel erreicht: die Anerkennung Finnlands als neutraler Staat.