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Das Wunder von Sao Paulo
Querschnittsgelähmte bekommen wieder etwas Muskelkontrolle

Querschnittslähmungen gelten als unheilbar. Obwohl seit Jahrzehnten nach Möglichkeiten gesucht wird, den Betroffenen Bewegungsfreiheit zurückzugeben, hat sich daran grundsätzlich nichts geändert. Jetzt berichten Forscher über eine unerwartete Entdeckung, die zumindest eine deutliche Besserung verspricht.

Von Anneke Meyer |
    Ein Fußball und zwei Beine, mit Schienen und Kabeln versehen, sind in einem Labor zu sehen
    Die Fußball-WM 2014 wurde von Juliano Pintos in einem Exoskelett symbolisch eröffnet. (dpa)
    Es ist der Sommer 2014. Millionen von Menschen fiebern vor dem Fernseher und im Stadion der Eröffnung der Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien entgegen. Am Rande des Spielfeldes steht ein Mann in grünem Trikot. Auf dem Kopf trägt er einen Helm. Ein Wust von Kabeln wächst daraus hervor und endet in einem imposanten Gestell, das die Beine umschließt. Dieses gedanken-gesteuerte Exoskelett soll dem querschnittsgelähmten Juliano Pintos ermöglichen, den symbolischen Anstoß zum Eröffnungsspiel zu geben.
    "Und der bewegendste Moment auf dem Spielfeld – da gibt es keinen Zweifel - war: Als er im Schießen schrie 'Ich habe den Ball gespürt!'", erinnert sich Miguel Nicolelis, während eines Vortrags auf dem Brain Forum in Lausanne letztes Jahr. Der Neurowissenschaftler von der Duke University in North Carolina arbeitet seit Jahrzehnten daran, Brain-Machine-Interfaces zu entwickeln. Maschinen die durch Gedanken gesteuert werden. So wie Julianos Roboteranzug: Elektroden greifen die Hirnaktivität von der Kopfhaut ab. Stellt man sich vor den Ball zu schießen, bewirkt das eine charakteristische Änderung der Aktivität der Nervenzellen. Diese kann durch einen Computer ausgelesen und in einen Befehl umgesetzt werden, der das Exoskelett bewegt. Dass sich das anfühlt wie die Bewegung des eigenen Körpers, dafür sorgt sensorisches Feedback. Die Augen sehen, wie der Fuß den Ball trifft. Die Berührung wird durch Sensoren in einem speziellen Hemd von den tauben Beinen auf die Unterarme umgelenkt. Ein einfacher Trick für täuschend echtes Ballgefühl mit überraschenden Folgen, erklärt Miguel Nicolelis im Telefoninterview:
    "Unser Ziel war es ursprünglich ein neues prothetisches Hilfsmittel zu entwickeln. Aber ein halbes Jahr nachdem wir die Technologie bei der Weltmeisterschaft zum ersten Mal vorgestellt hatten, bemerkten wir, dass unsere Patienten neurologische Funktionen wiedererlangten. Sie konnten Berührungen an vorher tauben Körperstellen spüren. Und sie bekamen die Kontrolle über einen Teil ihrer gelähmten Muskeln zurück! Das ist ein sehr unerwartetes Ergebnis!"
    Deutliche Besserungen nach einem Jahr Training
    Sensorische und motorische Fähigkeiten, die etwa ein Jahr nach der Verletzung nicht zurückgekehrt sind, galten bislang als für immer verloren. Weltmeisterschaftsschütze Juliano Pintos und die anderen sieben Querschnittsgelähmten, die an dem Projekt teilnahmen, waren bereits über viele Jahre gelähmt. Nach zwölf Monaten regelmäßigen Trainings mit dem Brain-Machine-Interface, hatte sich bei vier von ihnen die vollständige zu einer inkompletten Lähmung verbessert. Sie konnten selbstständig Hüftbeuger oder Knie bewegen. Eine Frau sogar ihre Beine. Eine deutliche Besserung war bei allen Teilnehmern eingetreten. Wie ist das möglich?
    "Unsere Hypothese ist, dass das intensive Training eine Reorganisation im Nervensystem angeregt hat. Anders als frühere Geräte lässt sich unser Brain-Machine-Interface nicht nur über Gedanken steuern, es gibt auch taktiles und visuelles Feedback zurück. Dadurch bekommen die Patienten das Gefühl, sie würden wirklich sich selbst bewegen. Falls nun einige Nerven nicht zerstört wurden, könnten sie erwachen und wieder anfangen, Botschaften vom Gehirn an den Körper zu senden."
    Hintergründe der Veränderungen unklar
    Veränderungen in der elektrischen Hirnaktivität geben Hinweise darauf, dass so ein "Wieder-Erinnern" im Nervensystem stattfindet. Die Hypothese tatsächlich zu überprüfen, ist für die Wissenschaftler allerdings schwierig. Jeder der Patienten hat zur Stabilisierung der verletzten Wirbelsäule einen Metallstab eingesetzt bekommen. Deshalb ist es nicht möglich, die Patienten mit einem Magnetresonanztomografen auf funktionelle und strukturelle Veränderungen in Hirn und Rückenmark zu untersuchen. Bis ein alternatives Verfahren der Bildgebung gefunden ist, bleibt unklar, warum die Kontrolle über den Körper zurückkehrt.
    "Wir sind wirklich sehr aufgeregt. Ich denke das ist ein Meilenstein auf dem Gebiet der Brain-Machine-Interfaces. Sie sind von Hilfs- zu potenziellen Heilmitteln geworden." Miguel Nicolelis und sein Team haben inzwischen angefangen, weitere Probanden zu rekrutieren. Sie wollen herausfinden, wo die Möglichkeiten an ihre Grenzen stoßen. Ob bei einer der nächsten Fußball-Weltmeisterschaften ein Querschnittsgelähmter mit seinem eigenen Bein den Anstoß geben können wird, bleibt abzuwarten.