Der Terrorismusforscher Afzal Ashraf von der Universität Nottingham glaubt, dass das Daten-Leck den IS in einen "Krisen-Modus" stürzt. "Der Verlust dieser Daten wird sich für die Terrormiliz verheerend auswirken", sagte er dem britischen 'Independent'. "Es ist vor allem ein schwerer Schlag für ihren Rekrutierungs-Prozess, da die Listen nicht nur Hinweise auf die neuen IS-Kämpfer geben, sondern auch auf solche Personen, die sie radikalisiert oder ihre Reise in die IS-Gebiete vorbereitet haben." Dazu kommt, so Ashraf: "Wenn ein möglicher IS-Rekrut davon ausgehen muss, dass er mit ziemlicher Sicherheit von den Geheimdiensten als solcher identifiziert wird und dann irgendwann die Konsequenzen tragen muss, dann ist seine Überzeugung, in den Dschihad zu ziehen, vielleicht nicht mehr ganz so groß."
Rückschlag für die Rekrutierung neuer Kämpfer
Ähnlich sieht es der Internet-Soziologe und Sicherheitsexperte Dr. Stephan G. Humer von der Hochschule Fresenius, der auch dem "Netzwerk Terrorismusforschung" vorsteht. Auch er glaubt, dass das Auftauchen der Listen einen Rückschlag für die Fähigkeiten der Terrormiliz darstellt, neue Kämpfer zu rekrutieren: "Vor allem Unentschlossene könnten sich denken: 'Vielleicht bin ich beim IS doch nicht so gut aufgehoben, wenn es dort Verräter gibt, die solche Daten weitergeben'", sagte Humer dem Deutschlandfunk.
Der Terrorexperte Charlie Winter von der Georgia State University spricht von einem "wirklich bemerkenswerten Fang der Sicherheitsdienste" – wenn die Listen denn echt seien. Allerdings könne das Daten-Leck auch eine positive Auswirkung für den IS haben, so Winter gegenüber dem Guardian. Das Auftauchen der Dokumente könnte potenzielle Abtrünnige davon abhalten, den IS zu verlassen. "Ein desillusionierter Milizionär könnte ja denken: 'Es gibt für mich jetzt keine Chance einer Heimkehr ohne Haftstrafe mehr'".
"Die wollen es nur hinter sich haben"
Stephan Humer glaubt das nicht: "Manche empfinden ihre Situation in Syrien oder im Irak als so hart, dass ihre Motivation, den IS zu verlassen, größer ist als die Sorge vor einer späteren Strafverfolgung", sagte er dem DLF. "Die wollen nur weg, denen ist eine mögliche Strafe egal. Die wollen es nur hinter sich haben."
Lässt der Fund der Daten Schlüsse über einen zunehmend schlechteren inneren Zustand der Terrormiliz zu? Shashank Josi vom unabhängigen britischen Forschungsinstitut Rusi glaubt das nicht. Er sagte der Süddeutschen Zeitung, daraus, dass ein Mann die Daten gestohlen und an die Medien weitergereicht habe, könne man nicht unbedingt Rückschlüsse auf Stimmung und Moral innerhalb der Organisation ziehen.
Terrormiliz unter wachsendem Druck
Stephan Humer sieht das anders: Die Weitergabe der Daten passt nach seiner Auffassung ins Bild einer IS-Terrormiliz unter wachsendem Druck. Die Luftschläge und die Maßnahmen der internationalen Gemeinschaft zur Unterbindung der Finanzierung des IS zeigten Wirkung: "Die Verfassung des IS ist bei Weitem nicht mehr so glorios, wie es in den Propaganda-Videos dargestellt wird. Die Expansion der Dschihadisten ist ins Stocken gekommen, und viele Kämpfer müssen auf ihren Sold warten oder andere spürbare Abstriche machen."
Afzal Asraf von der Uni Nottingham glaubt sogar, dass das Datenleck nicht nur Zeichen einer inneren Zerrüttung des IS ist, sondern diese Zerrüttung auch vorantreiben wird: "Das wird einen großen Riss innerhalb der Terrormiliz verursachen. Das Datenleck könnte innere Säuberungen, Exekutionen und interne Grabenkrieg auslösen."
Korruption ein großes Problem für den IS
Für die "Südddeutsche Zeitung", die die deutschen Daten zusammen mit NDR und WDR veröffentlichte, haben ihre Recherchen zumindest gezeigt, dass die Korruption inzwischen ein großes Problem beim IS zu sein scheine. Denn überall in der Region könne man heute Videos und Dokumente aus dem Kalifat finden. Manches sei von kurdischen Kämpfern erbeutet, anderes aber erkennbar von IS-Kämpfern gestohlen.
Die Forscher und Experten äußern sich unter dem Vorbehalt, dass die in Großbritannien und Deutschland aufgetauchten IS echt sind. Davon geht das Bundeskriminalamt aus, dass erklärte, dass es sich "mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit um echte Dokumente handelt". Andere Experten äußern dagegen Zweifel: Charlie Winter von der Georgia State University machen Details in den Listen stutzig. So verweist er darauf, dass die Verfasser das Wort "Todesdatum" benutzen, obwohl die gängige Bezeichnung unter Dschihadisten der Begriff "Märtyrertum" ist. Dem Dschihadismus-Experten Romain Caillet fällt zudem auf, dass in einigen Dokumenten ein bislang unbekanntes IS-Logo auftaucht.
Solche Unstimmigkeiten könnten aber schlicht daher kommen, dass die Dokumente bereits einige Jahre alt sind. Darauf verweist Dalia Ghanem-Jasbeck vom Carnegie-Zentrum in Beirut: Die Listen stammten aus dem Jahr 2013 – aus einer Zeit also, als der IS seine staatsähnlichen Strukturen erst aufgebaut habe. Die Unstimmigkeiten könnten also auf die damals erst in der Entstehung befindliche IS-Bürokratie zurückzuführen sein.