Thekla Jahn: Überwachung – der ist kaum noch zu entkommen in digitalen Zeiten. Das beginnt schon mit der Videoüberwachung im Säuglingsalter, geht über Lernroboter im Kindergarten bis zu den Lernassistenten in der Schule, und dort hört es ja nicht auf. "Aufwachsen in überwachten Umgebungen: Wie lässt sich Datenschutz in Schule und Kinderzimmer umsetzen?" Darum geht es heute und morgen bei der Jahreskonferenz des Forschungsverbund Forum Privatheit. Mit dabei ist die Medienethikerin Jessica Heesen von der Universität Tübingen, und sie habe ich zwischendurch gefragt - angesichts auch des 30. Geburtstags der UN Kinderrechtskonvention: Wie ist es denn um Kinderrechte bestellt ist in Deutschland?
Jessica Heesen: Die Kinderrechte auf Privatsphäre bestehen genauso gut wie die Erwachsenenrechte auf Privatsphäre. Nur häufig haben wir das nicht so richtig im Blick. Also mit der Privatsphäre von Kindern wird häufig sehr nachlässig umgegangen. Wenn wir uns zum Beispiel vergegenwärtigen, was es alles für Technologien gibt, auch gerade jetzt schon verbunden mit dem schulischen Alltag, also es gibt die Möglichkeiten, Sensoren in den Kinderranzen zu implementieren, sodass wir ständig überwachen können, wo das Kind sich aufhält. Es gibt entsprechende Apps, wo wir sehen könnten, wann ein Kind aus einem bestimmten Kreis herausgeht, also zu weit weggeht, vielleicht von dem Schulweg abweicht. Und wir haben natürlich die gesamten Technologien, die mit der Digitalisierung der Schule immer weiter auch in den Schulalltag hineinwandern.
"Kinder brauchen Umgebung, in der sie was erproben können"
Jahn: Was bedeutet das denn für die Kinder, wenn sie ständig das Gefühl haben müssen, sie werden überwacht, man kann kontrollieren, wo sie sind, was sie sagen, was sie machen?
Heesen: Das bedeutet natürlich ein Verlust an Freiheiten. Also auch Kinder möchten vielleicht auf ihrem Schulweg noch mal beim Süßigkeitenladen vorbeigehen oder ein bisschen länger sich an einem anderen Ort aufhalten als die Eltern vielleicht erwarten, aber vor allen Dingen geht es natürlich um die Schule als demokratischen Lernort. Also Schulen in freien Gesellschaften haben die Funktion, die Kinder vorzubereiten auf ein Leben als mündige Bürgerinnen und Bürger, und für diese Situation brauchen sie natürlich eine Umgebung, in der sie auch was erproben können.
Die Forschung sagt uns, dass Menschen sich anders verhalten, sobald sie sich überwacht fühlen, sobald sie auch das Gefühl haben, überwacht zu sein, und wenn wir jetzt die Schule auch als Erprobungsraum für kindliche Identitäten sehen, dann ist das natürlich eine Beschränkung. Also wenn ich immer das Gefühl habe, ich bin hier in dem Leistungskontext Schule, meine Leistungen werden überwacht, und sogar das, was ich auf dem Pausenhof mache oder wie ich mich verhalte an meiner Mathe-App, dann kann das bedeuten, dass die Kinder sich schon anpassen an so ein Verhalten und gar nichts anderes mehr gewöhnt sind. Also dass wir nachher Erwachsene haben, die in solchen überwachten Umgebungen sich arrangieren und gar nicht mehr als freie Bürgerinnen und Bürger aktiv werden.
Jahn: Ist dieses Problem den Lehrern bewusst in den Schulen, und ist dieses Problem auch den Eltern bewusst? Sie sprachen ja gerade von sozusagen getrackten Schulranzen, wo die Eltern genau sehen können, wo die Kinder sich bewegen. Also ist es allen Parteien bewusst?
Heesen: Also meine Vorgespräche jetzt auch im Zusammenhang dieser Konferenz haben gezeigt, dass Lehrerinnen und Lehrer auch häufig sehr stark anspringen auf dieses Thema, aber gar nicht so sehr in Bezug auf die Kinder, sondern in Bezug auf sich selber, weil die gesamte Arbeit an den Schulen für Lehrerinnen und Lehrer verändert sich. Wir haben solche Dinge wie das digitale Klassenbuch. Also darüber können dann zum Beispiel die Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen archiviert werden oder veröffentlicht werden, dann auch für die Schulaufsichtsbehörden. Aber auch für die Eltern kann sichtbar gemacht werden, was macht der Lehrer? Wie weit geht der Unterrichtsfortschritt voran? Was macht mein Kind im Unterricht?
Also diese Dinge sind zwar so noch nicht in allen Schulen vorzufinden, aber Sie sehen das jetzt auch in den USA, dass hier Transparenz für die Eltern vorhanden ist, also sie können dann die Lehrer kontrollieren, aber auch ihre Kinder. Da sind die Lehrerinnen und Lehrer sehr sensibel, weil sich dieser Bereich auch für sie selber dann verengt in Bezug auf ihre Freiheitsräume in der Schule. Aber bei den Eltern kann man sehen, dass für die vor allen Dingen im Vordergrund steht: Wie kann ich mein Kind beschützen?
Also in der Schule natürlich, was kann ich hier sehen, wie geht man mit dem Kind um, wie verhält sich mein Kind, ist mein Kind lernorientiert oder nicht? Für die Eltern stehen häufig diese Kontroll- und Sicherheitsinteressen im Vordergrund. Hier zu einem richtigen Gleichgewicht zu kommen, also was brauchen Kinder an Freiheitsrechten, und wie kann ich mein Kind auch beschützen, da müssen wir noch viel drüber diskutieren und schauen, wie wir da geeignete Mittel finden, damit umzugehen.
Lernsoftware sammelt Daten, die für viele interessant sind
Jahn: Ein weiterer Aspekt, Sie hatten es schon ein bisschen angesprochen, die Problematik ist ja auch, dass das Lernverhalten, die Fähigkeiten, die Intelligenz zu einem bestimmten Zeitpunkt, die inhaltlichen Interessen der Kinder, auch gespeichert werden, öffentlich werden, möglicherweise missbraucht werden können, oder?
Heesen: Das stimmt. Also wir haben ja das Schlagwort individualisiertes Lernen, das heißt, wir möchten natürlich die Unterrichtsinhalte adäquat zuschneiden auf das Kind und die jeweiligen Begabungen. Das ist ja auch erst mal eine Sache, die sehr begrüßenswert ist.
Diese individualisierte Lernsoftware ist natürlich in der Lage, sehr viel über das Kind auszusagen indirekt. Also wie oft setzt sich das Kind überhaupt dran? Wie oft lernt das? Wie ist der Lernfortschritt? Also wie klug ist das Kind vielleicht? Und man kann auch schon erkennen, vielleicht ist das Kind verhaltensauffällig. Also solche Daten können gesammelt werden über Lernsoftware.
Natürlich sind diese Sachen nicht öffentlich, und die sollen an der Schule bleiben, aber es stellt sich die Frage, haben wir schon die adäquaten Mittel gefunden, um diese Software zu schützen und sie sicherzumachen? Und wie sieht es eigentlich auch mit dem Zugriff der Sicherheitsbehörden auch auf solche Arten von Software? Also im Zusammenhang der Kriminalprävention ist zum Beispiel schon die Rede davon, dass man Kinder in einem möglichst frühen Stadium identifizieren möchte als mögliche Problemkinder.
Das ist natürlich auch wieder etwas, was möglicherweise positiv ist, weil man kann sich dann frühzeitig um Kinder kümmern, aber die Frage ist, inwieweit kommt es hier zum Austausch von Daten aus der Schule an Sicherheitsbehörden, und wo ist eigentlich die Grenze, wo wir sagen, na ja, das ist jetzt wirklich ein illegitimer Austausch, hier geht es gar nicht mehr um das Kind selbst, sondern hier geht es nur noch um Sicherheitsinteressen der Bevölkerung, die vielleicht frühzeitig Gefährdungspotenziale identifizieren möchte?
Jahn: Digitalisierungsoffensive – das ist das Stichwort der Stunde, wenn es um Bildung geht. Die Schulen sollen, wollen schneller über mehr digitale Technologie verfügen, neue Lernmethoden und Lernmittel einsetzen und damit andere Lernerfahrungen ermöglichen. Beim Forschungs Forum Privatheit heute und morgen in Berlin geht es darum alle Player, also Wissenschaft, Lehrer, Eltern und Schüler zusammenzudenken, und Lösungsideen zu entwickeln, damit das Thema Datenschutz und Privatspähre in der Schule nicht außen vor bleibt. Wie könnte das gelingen, habe ich die Medienethikerin Jessica Heesen gefragt?
Heesen: Es geht natürlich vor allen Dingen darum, dieses Thema in den Schulen selber auch in den Unterricht hineinzuholen und die Kinder in ihren Erlebniswelten abzuholen. Also soziale Medien, das Smartphone, das gehört inzwischen zum normalen Alltag von Kindern auch schon dazu. Wir können jetzt nicht sagen, benutz diese Dinge nicht, genauso wenig wie wir Erwachsene natürlich auch unsere ganzen digitalen Dienste benutzen wollen, sondern es geht darum, Medienmündigkeit zu vermitteln, also zusammen mit den Kindern darüber zu sprechen, was sind Bereiche, die möchtet ihr schützen, und was sollen anderen nicht wissen, um sie auch sensibel dafür zu machen, dass es verschiedene Abstufungen gibt, also dass es bestimmte Adressaten gibt von privaten Informationen und andere, die das eben nicht wissen sollten.
Also allein schon diese Themen zu erörtern, schafft Bewusstsein, und das muss natürlich in Technik übersetzt werden. Also da ist natürlich der Gesetzgeber aufgefordert, auch zu schauen, dass wir gerade auch in Deutschland Dienste benutzen können, die datenschutzkonform sind. Da hilft uns natürlich die Europäische Datenschutz-Grundverordnung schon sehr weiter, aber das muss auch umgesetzt werden. An erster Stelle natürlich, diese Dinge müssen in der Schule selber zum Thema gemacht werden, in den verschiedenen Fächern zum Thema gemacht werden, auf technischer Ebene, aber auch auf sozialwissenschaftlicher Ebene oder auch von mir aus im Deutschunterricht.
Sichere Apps für die Schule
Jahn: Das heißt, die Schule muss eine Art Vorbildfunktion haben, was die Wahrung von Privatsphäre angeht.
Heesen: Unbedingt, und sie muss natürlich auch gleich über die Eltern gehen. Also es geht nicht nur, dass die Kinder - die sind ja häufig mit solchen Fragestellungen überfordert, also in diesen Diskussionen zu diesen Themen - sondern es geht natürlich vor allen Dingen auch darum, teilweise die Eltern fast zurückzupfeifen und zu sagen, wir möchten nicht, dass die Kinder beobachtet werden über Apps auf ihrem Weg zur Schule. Man kann sich dann auf solche Dinge einigen. Wenn alle ihren Kindern mehr Freiräume lassen, dann ist das auch legitimer, und man hat auch als Eltern nicht das Gefühl, man würde vielleicht seine Pflichten vernachlässigen, wenn man nicht jeden Mediendienst benutzt, um sein Kind möglichst große Sicherheit zu gewährleisten.
Jahn: Daten preisgeben oder nicht, das ist ja auch ein riesiges Problem, gerade in der Schule, wenn in Facebook-Gruppen und in WhatsApp-Gruppen Hausarbeiten besprochen werden beziehungsweise Ankündigungen von der Schule stattfinden, also eine Art sozialer Zwang, der da aufgebaut wird auch von den Schulen. Da sind die Schulen – so verstehe ich Sie richtig – gefragt, da etwas gegenzusetzen. Sie machen es sich bislang vielleicht zu einfach.
Heesen: Nein, also es ist ganz unterschiedlich. Da sind die Schulkulturen unterschiedlich, aber grundsätzlich ist es natürlich so, dass es den Schulen nicht erlaubt ist, also auch aus Datenschutzgründen, zum Beispiel WhatsApp-Gruppen zu betreiben oder auch auf Facebook Kontakt aufzunehmen zu ihren Schülerinnen und Schülern. Das sind eigentlich Bereiche, die sind getrennt vom schulischen Alltag, und die Schulen müssen eher …
Jahn: Sind aber Realität ganz oft.
Heesen: In der Realität sieht es häufig anders aus, aber eigentlich muss die Schule selber Dienste anbieten, die datenschutzkonform sind und wo es diese klare Trennung gibt zwischen dem schulischen Bereich und dem außerschulischen Bereich. Da ist es natürlich so, dass die Ressourcenausstattung an den Schulen dann häufig viel zu gering ist.
Also ist es meistens so, dass der Physiklehrer die Softwareadministration macht, weil es dem irgendwie dann zugewachsen ist, aber wir haben hier viel zu wenige Infrastrukturen, um hier, sagen wir mal, sichere Applikationen anzubieten auch für den schulischen Bereich. Vor allen Dingen, wir haben auch keine standardmäßige Überprüfung von Lernsoftware, oder auch die gesamte Infrastruktur an Schulen ist natürlich anfällig. Da werden dann teilweise Zeugnisnoten zum Beispiel über E-Mail versendet, und man hat noch nicht mal auf diesen einfachen Ebenen einen anständigen Schutz für Daten.
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