"Jeder Mensch hat zwei Herzkammern. Die eine will weg und Anarchist sein, die andere will geborgen sein." Diese Gedichtzeilen von Thomas Brasch wären ein gutes Motto gewesen für Dave Eggers Roman "Bis an die Grenze". Sie beschreiben nämlich den Konflikt, der die Zahnärztin Josie aus einer Kleinstadt in Ohio ausbrechen und im Wohnwagen gen Norden, durch Alaska ziehen lässt. "Into the wild" sozusagen, aber doch auf der Suche nach einem Platz in der Welt, den sie Zuhause nennen mag.
Josie ist vierzig Jahre alt, hat zwei Kinder und musste vor kurzem ihre Praxis verkaufen. Von ihrem Mann Carl hat sie sich auch getrennt. Jetzt ist sie auf der Suche nach dem guten Leben im falschen. Ein Leben, wie es ihre Ziehschwester Sam führt:
"Sam war jetzt Alaskanerin, und das bedeutete, da war Josie sicher, eine schlichte und geradlinige Existenz, die sich um Arbeit und Bäume und Himmel drehte, und nach genau dieser Wesensart sehnte Josie sich bei anderen und sich selbst."
Josies Reise ist der fade Teil des Romans
Dave Eggers hat seinen bekanntesten Roman "The Circle" ebenfalls aus der Sicht einer Frau erzählt. Dessen Heldin Mae gehört aber eher zu den leistungs- und anpassungsorientierten Menschen, vor denen Josie flieht. Sie steht für ein anderes ur-amerikanisches Lebensgefühl: das "Frontier"-Erlebnis, das Gefühl, wie die ersten Siedler auf sich allein gestellt das Leben mit all seinen Gefahren zu meistern. Der Original-Titel des Romans legt dahin eine Spur: "Bis an die Grenze" heißt im Amerikanischen "Heroes of the Frontier".
Josies Reise in die Wildnis ist dann aber gar nicht so abenteuerlich, sondern der eher fade Teil des Romans. Wohl mit Absicht unterläuft Dave Eggers das Genre der spannenden Roadnovel, um Josies Rückblicke in Kindheit, Ehe- und Berufsleben stärker zu betonen. Hier fällt Eggers Sinn für die groteske Komik des Alltags einer vorstädtischen, larmoyanten Mittelschicht auf. Ex-Ehemann Carl ist dafür ein Paradebeispiel. Er zeichnet sich vor allem durch reiche Eltern aus und beschäftigt sich ansonsten extensiv mit seiner Verdauung. "Acht, zehn Stuhlgänge am Tag", resümiert Josie und erinnert sich am Straßenrand irgendwo hinter Anchorage, wie er vor den Kindern zu prahlen pflegte, "da drin", in der Toilette, gute Arbeit geleistet zu haben, "wie ein Mann". Wo zum Teufel sind die Helden hin, fragt Josie sich. Sie lässt durchblicken, dass sie die Vereinigten Staaten auch als Ganzes für ein wenig heroisches Land hält und Emails von "besorgten" Müttern wie die folgende für Dekadenzerscheinungen:
"Liebe Josie, als Service der Schulgemeinschaft für unsere berufstätigen Schülereltern haben wir ein innovatives Programm mit dem Namen 'Gemeinsam sind wir stark' ins Leben gerufen, bei dem jeder Schüler, dessen Eltern nicht zu Schulveranstaltungen kommen können, von einem Elternteil 'adoptiert' wird, der teilnehmen kann. Diese Person wird sich zusätzlich Zeit für dein Kind nehmen, wird bei den Veranstaltungen Fotos machen und sie posten (...)."
Sehnsucht nach dem einfachen Leben
Hemmungslos klischeehaft erzählt Dave Eggers von dieser sozialen Kontrolle und von Josies kindischem Wunsch, in einem Land "aus Bergen und Licht" neu geboren zu werden. Die Sehnsucht nach dem einfachen Leben ist ein zentraler Topos der amerikanischen Literaturgeschichte: von Thoreaus Klassiker "Walden" bis hin zu Jon Krakauers Buch "Into the wild" aus den 90er Jahren, das dem jungen Aussteiger Christopher McCandless gewidmet ist, und 2007 von Sean Penn verfilmt wurde. McCandless’ Ausbruch endet in Realität, Buch und Film tödlich. Diese deutliche Referenz legt also wie die Anspielung auf die brutale Zeit der Siedler eine ungute Ahnung über Josies kopflose Flucht und wird verstärkt durch den roten Widerschein der Waldbrände, die Josie und ihre Kinder schon bald vor sich her treiben.
Wie aber kommt es, dass ein Schriftsteller wie Dave Eggers sich plötzlich der Midlife-Crisis einer Frau wie Josie widmet? Ein Schriftsteller, der eigentlich als Nachfolger von Gesellschaftskritikern wie Aldous Huxley und George Orwell gehandelt wird. Ein "Macher" außerdem, der einen Verlag, diverse Zeitschriften, Ausbildungs- und Förderprogramme gegründet hat. Kurzum: ein Mann, der genau weiß, wie soziales Engagement geht, das seiner egozentrischen Anti-Heldin Josie völlig fern liegt.
Josie ist sicher nicht Dave Eggers Identifikationsfigur, wie manche Rezensenten angenommen haben. Und Eggers schlägt mit seinem neuen Roman weder eine Rückkehr zur Natur vor, noch hält er mittels Sozialromanze ein Plädoyer für Mut und Heldentum. Seine Ironiesignale sind überdeutlich, wenn er Josie penetrant von Tapferkeit und Güte schwärmen, über das "feige Jahrhundert" herziehen und davon schwadronieren lässt, ihre armen Kinder zu Prototypen des "neuen Menschen" formen zu wollen. Viel plausibler ist, dass dieses Buch von einem kollektiven Realitätsverlust erzählt. Von den aggressiven Pathologien der Leistungsgesellschaft auf der einen und den eskapistisch-nostalgischen Phantasien auf der anderen Seite.
Einblicke in das Seelenleben einer sozialen Schicht
Die Menschen in Dave Eggers Amerika sind nur mit sich und ihrem inneren Elend beschäftigt. Sie sind nicht mehr in der Lage konkret altruistisch zu denken und zu handeln, geschweige denn anderen ihre Freiheit zu lassen. Sie sind abschreckende Beispiele und liefern zugleich Einblicke in das Seelenleben einer sozialen Schicht, die mal eine Säule der US-amerikanischen Gesellschaft war.
Folgt man Dave Eggers in seinem Glauben an die transformierende Kraft von Geschichten und hält sich nicht damit auf, funkelnde Sätze und die ästhetische Qualität zu vermissen, hat dieser Roman etwas Zwingendes. Bewusst zugänglich geschrieben, sprachlich oft bis an die Schmerzgrenze schlicht, sagt Eggers auch mit seinem neuen Roman: Weglaufen hilft nicht, also packen wir’s an.
Dave Eggers: "Bis an die Grenze". Aus dem amerikanischen Englisch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 496 Seiten, 23 Euro.