Ja, wir sind angekommen in der Welt der Nerds, Neurosen und notorischen Schreibtischarbeiter, wir sind in David Foster Wallace Spiegelkabinett.
Es stimmt, wir befinden uns in einem Text, wir befinden uns in einem Gebilde aus Buchstaben und Wörtern und Papier, 50 Paragrafen, und nicht Kapiteln, obwohl es sich um solche handelt; wir befinden uns wirklich dort, wo all diese Zeichen und Zahlen und dieses Papier von Bedeutung sind: in der Welt der Steuerprüfer im "Internal Revenue Service" der amerikanischen Steuerbehörde, oder auf dem Weg dorthin, am Schreibtisch darin, im Gespräch darüber, bei der Frage, was man denn für einer sein muss, dass man dort landet, was für einer, wenn man dort hin will oder dort sitzt an einem Tag im Jahr 1985.
Jawohl, man muss, um es mit David Foster Wallace oder seinen Figuren zu beantworten, ein Nerd sein. Einer, der mit Schreibtischnamen "Samenstrøm", "Jürgenwürger" oder "Fakowski" heißt, einer der begabt ist einen "fetten Braten zu riechen", einer der hier ist "zur Rechenschaft", einer, mit dem man sich nicht anlegen sollte, weil er von frühster Kindheit an beschädigt ist.
Als "Der bleiche König "von David Foster Wallace im vergangenen Herbst erschien, war der Autor bereits fünf Jahre tot, weil er seinem Leben in Depression ein Ende gesetzt hat, und er war schon ziemlich berühmt. Alle warteten auf das "neue" Buch, weil alle wissen wollten, ob das Buch, an dem er anscheinend immerzu nur zweifelnd saß, auch so ein Ausnahmeroman ist wie "Infinite Jest", das in Amerika bereits 1996 erschienen war, in Deutschland, Dank Ulrich Blumenbachs sechsjähriger unvergleichlicher Übersetzungsarbeit, 2008 unter dem Titel: "Unendlicher Spaß". Ein Roman, der den Postmoderne-Diskurs, die Frage nach dem zeitgenössischen, vielleicht sogar zeitgemäßen Erzählen, nach Weltwahrnehmung und ihrer fiktiven Verschriftlichung neu stellte, sogar neu definierte.
Das neue Buch also, "Der Bleiche König", ist ein sechshundert dicht beschriebene Seiten dickes Fragment, sorgfältig zusammengesetzt von David Foster Wallace’ Lektor, Michael Pietsch, der im Nachwort erzählt, dass Foster Wallace den Roman zum Beispiel verglich mit
"der Arbeit an Balsaholzplatten, die man durch starken Wind zu tragen versuche".
Und wie Wallace Frau und seine Agentin nach dessen Tod nicht nur ein zweihundertfünfzigseitiges Manuskript, sondern ganze Aktenordner, Schnellhefter und Notizhefte voller Manuskriptseiten, Ideen, Anweisungen zu "The Pale King" fanden, aber keinen vollendeten Roman. Manuskriptseiten, die der Lektor Pietsch nach Durchsicht aller Notizen von Wallace in 50 Paragrafen, also Kapitel ordnete, wobei er sich strukturell am Vorbild unendlicher Spaß orientierte, und zwar so, dass uns, den Lesern
"große Teile auf den ersten Blick zusammenhangloser Informationen präsentiert werden, bevor eine Haupthandlung erkennbar wird".
So ungefähr hatte es Wallace vorgesehen.
Es erstaunt nicht, wenn man jetzt für einen Moment an den Lektor Raymond Carvers, Gordon Lish denkt, der an den Carver’schen Kurzgeschichten nach seinem Gutdünken massive Eingriffe vornahm. Aber damit ist man nicht nur auf der falschen Spur, sondern man tut Pietsch vollkommen unrecht. Michael Pietsch zeigt in "Der bleiche König", welch genaue Kenntnis ein Lektor von seinem Autor haben muss, um ein guter Lektor zu sein, wie viel Empathie von Nöten ist, um einem Text sein Eigenleben, seine An- und Unordnung zu lassen, und über was für ein Fingerspitzen- und Taktgefühl er verfügen muss, um nur gerade so viel zu ordnen, wie nötig ist, um
"unbeabsichtigte Ablenkungen und Verwirrungen aus dem Weg zu räumen, damit sich der Leser auf die von David aufgeworfenen großen Themen konzentrieren kann und um die Erzählung so plausibel wie möglich zu machen".
Wie viel Respekt und Achtung also gerade genug ist, damit ein toter Autor in seinem eigenen Text am Leben bleibt.
Worum nun geht es in "Der bleiche König?"
Als Leser eines Romans sind wir immer abhängig von einem Erzähler. Er ist es, der uns an der Hand nimmt auf dem Weg durch seinen geheimen Plan, der uns Türen in neue Geschichten öffnet und Buchstabenfiguren zu Menschen macht. "Der bleiche König "hat in diesem Sinne aber keinen Erzähler. Er wird erzählt aus einer Vielzahl von Perspektiven und Figuren, mal aus der ersten Person, mal aus der Position des Autors, mal aus der dritten Person. Manche Kapitel sind Short-Stories, andere nur kleine Skizzen, in denen Figuren aufblitzen, um für immer im großen Romanuniversum zu verschwinden, manche sind reine Gespräche, Hörspiele eigentlich oder Bürogesprächsaufzeichnungen, die wir Leser wie über die andere Seite des Schreibtischs mithören können. Es gibt Kapitel, die sich wie Gesetzestexte lesen, und andere wie gründlichste Beschreibungen von Ansicht und Aussicht und Vorgehen der Steuerbehörde IRS. Erst mit zunehmender Zahl der gelesenen Seiten gelangen wir überhaupt zu einer Idee, wo wir uns ungefähr und mit wem befinden, um zwei Kapitel später wieder mit einem Unbekannten im Nichts zu stehen.
Assoziatives Erzählen, plötzliche Rückblenden, chronologische Sprünge in Kapiteln lösen das vorwiegend minutiös abbildende Erzählen des Sichtbaren oder des Hörbaren ab, als sei das detailbesessene Interesse an Orten, Landschaften, Gebäuden, zeitlichen Abläufen, Krankheiten und Neurosen, Hautausdünstungen und Hautaufquellungen selbst dem Erzählenden unerträglich geworden. Wir Leser sind dafür dankbar.
Und wir wollen weiterlesen. Denn David Foster Wallace zwingt uns in seiner ganzen übertriebenen Realitätsversessenheit, noch einmal zu überdenken, wie die Welt funktioniert. Nicht nur die amerikanische Steuerbehörde. Nichts verläuft stringent, und chronologisch schon gar nicht, jede Handlung, die wir tun, wird unterbrochen, tangiert und begleitet von unendlich vielen Nebenhandlungen- und Gedanken und Gleichzeitigkeiten, aufgehenden Möglichkeiten und vernichtenden Grenzen.
"Das Mädchen trug ein dünnes altes kariertes Baumwollhemd mit perlmuttfarbenen Druckknöpfen und runtergekrempelten langen Ärmeln, und es roch immer gut und sauber, wie jemand, dem man vertrauen und den man sehr mögen konnte, auch wenn man nicht verliebt war. Lane Dean hatte ihren Duft von Anfang an gemocht. Seine Mutter nannte sie ‚ein patentes Mädchen’ und hatte sie gern, fand, sie sei ein guter Mensch, das sähe man gleich - das war ihr auf unauffällige Weise anzumerken. Das Flachwasser schwappte aus verschiedenen Richtungen gegen den Baum, fast als wollte es ihn annagen. Wenn er allein war und grübelte und mit sich rang, ob er ein Problem Jesus Christus im Gebet überantworten sollte, stellte er manchmal fest, dass er die Faust in die Handfläche legte und leicht drehte, als spielte er immer noch Baseball und würde mit der Faust in den Handschuh schlagen, um im Zentrum wach und aufmerksam zu bleiben. Jetzt machte er es nicht, jetzt wäre es grausam und ungehörig gewesen".
Das lesen wir zum Beispiel in einem frühen Kapitel über Lane Dean jun. und dessen Not, einem Mädchen weder sagen zu können, dass er es liebt, noch, dass er es nicht liebt, oder dass es wenigstens das gemeinsame Kind zur Welt bringen solle, und dann vergessen wir diese nachdenkliche interessante Figur Lane Dean wieder, weil wir eine Vielzahl anderer Figuren, oder sagen wir lieber: Menschen kennenlernen, um ihn irgendwann an seinem Arbeitsplatz in der Steuerbehörde im Gespräch mit Kollegen zu erleben, das uns langweilt wie ihn auch, und um ihn danach ganz aus den Augen zu verlieren. Oder Toni Ware, das Mädchen, das mit ihrer psychisch kranken und sozial kaputten Mutter in einem Wohnwagenpark lebt, interessiert uns schon in einem der ersten Kapitel des Romans sehr, aber wir bekommen nur einen kleinen Ausschnitt aus ihrem Leben erzählt, um unendlich viele Seiten später mit ihr in einen Autounfall mit der Mutter zu geraten, und mitzuerleben, wie ein Mann die Notlage und Hilflosigkeit der beiden Frauen nutzt und die Mutter tötet. Wir überleben diese schlimme Situation mit Toni Ware, die sich tot stellt. Alles weitere spart der Roman aus. Später werden wir die Frau kurz in der Steuerbehörde treffen. Sie hat es überstanden: So also ist ihr Leben verlaufen. Nichts Großartiges, wir bewegen uns und die Welt um uns herum tut es auch.
Und wenn wir dann irgendwann das Gefühl haben, wir wissen, wer wie und mit wem was zu tun hat, wenn wir uns ein paar Knoten gemacht haben im Romannetz, an denen wir uns fortan entlang hangeln wollen, fällt uns wieder der Autor in seinem Vorwort ein:
"Die echte Wahrheit lautet: Das Folgende ist eigentlich wahr und zutreffend. Zumindest ist es eine großteils wahre und zutreffende Teilaufzeichnung davon, was ich gesehen, gehört und getan habe, wen ich kannte, wer neben und über mir arbeitete (...) Der bleiche König ist mit anderen Worten eine berufliche Autobiographie. (...) Um mit offenen Karten zu spielen, sollte ich allerdings ausdrücklich erwähnen, dass sich das Bestimmungswort in ‚eigentlich wahr und zutreffend’ nicht nur auf die unvermeidliche Subjektivität und Voreingenommenheit aller Autobiographien bezieht. Die Wahrheit ist, dass es in diesem Sachbericht leichte Änderungen und strategische Umstellungen gegeben hat
(...)".
(...)".
Ein Chamäleon wechselt die Farbe abhängig von seiner Stimmungslage und Gefühlsregung. David Foster Wallace, der uns im Spiel mit der Selbstreferenzialität als Autor selbst begegnet, und in der Figur des Chris Fogle wieder erscheint, (was wir mitunter durch eine spätere Fußnote versichert bekommen werden), und den wir als jungen Mann und entstellten "Akne-Prinzen" auf dem Weg in die amerikanische Steuerprüferzentrale begleiten, wo er verwechselt werden wird mit dem höheren Steuerbeamten David Wallace, was ihm zwar Oral-Sex einbringt, aber auch ein Trauma, das dazu führt, dass er fortan David F. Wallace heißen wird, dieser David Foster Wallace macht sich das Prinzip der Wandlung und Verwandlung zu eigen. ‚Ich’ ist immer ein anderer, und jede erzählte Figur muss ganz unabhängig von ihrem ersten Auftritt bei jedem weiteren neu gelesen werden, denn dort, wo sie sich jetzt befindet, war sie zuvor nie.
"Ich erinnere mich" wird dabei in den Kapiteln, die in der ersten Person erzählt werden, zur Formel für Wahrheit, der Versicherung des Realitätsgehalts des Erzählten, der Vergewisserung der eigenen Geschichte, und sogar zur Formel der Bestätigung der Echtheit des Autor-Ichs, wenn es heißt:
"Auch hier stammt vieles aus dem Notizbuch."
Dass der Autor irgendwann in seinem eigenen Text verschwindet oder verloren geht, wie eine ganze Reihe anderer Figuren, verwundert aufgrund der Behauptung, dass wir uns in einem ‚Sachbericht’ befinden, nicht, und hört sich zum Beispiel so an:
"Alle GS-9-Prüfer wollen GS-11-Prüfer werden. Alle GS-11-Prüfer wollen Revisoren werden. In der Abt. Inkasso wollen alle zur Steuerfahndung. Alle Revisoren wollen Rechtsbehelfsberater oder Teamleiter werden. In der Steuerfahndung ist es allen egal, was sie werden, Hauptsache es hat nichts mit Vor-Ort-Überwachung zu tun. Manche Rechtsbehelfsberater wollen Gruppenmanager werden. Alle Gruppenmanager wollen stellvertretende Bezirksdirektoren werden, oder sie träumen davon, wieder als Steuerprüfer zu arbeiten, allein an einem Schreibtisch, wo einen keiner nervt."
Die amerikanische Steuerbehörde, die so etwas wie die Schaltzentrale des ‚bleichen Königs’ darstellt, über die eine Menge Figuren im Buch miteinander verbunden sind, zeigt sich als ein Ort der Sicherheit für psychisch zuweilen Steuerlose, aber auch als deren Verhängnis. Wer hier aufgrund unerwarteter Zufälle, veränderter Prioritätensetzung oder nur durch den Besuch eines falschen Seminars gelandet ist, ist nicht unversehrt. Leonard Stecyk, Verwaltungsbeamter in der Steuerbehörde, war als Kind bereits ein hypergründlicher vereinsamter Streber, Ausnahmealtruist, der aus Liebesnot selbst seine Mitschüler, die ihn vergewaltigt haben, noch in Schutz nimmt. David Cusk leidet unter Schwitzattacken, die eigentlich Angstattacken sind, denn wenn er schwitzt, bekommt er Angst, dass jemand sieht, wie er schwitzt, und wenn er Angst bekommt, schwitzt er noch mehr. David Wallace und Chris Fogle verbindet ihre Erfahrung mit allerlei Medikamenten, die zur Konzentration verhelfen, und allerlei solcher, die zum "Obertrollen" führen, was für den Autor übersetzt heißt: sich verdoppeln. Chris Fogle hat außerdem zuschauen müssen, wie sein Vater, mit dem er auch im Augenblick dieses Unfalls im Konflikt war, von einer U-Bahn mitgeschleift und an allerlei Gegenständen zerschmettert wurde. Das kaum sprechende Kleinkind eines Gruppenmanagers in der Steuerzentrale mimt, wenn es angesprochen wird, den Sprachgestus des Vaters nach und wird als Babymonster erzählt. Um nur einige Figuren zu nennen. Der bleiche König ist ein Neurosen-Pop-up der allerbesten Art. Und die Steuerbehörde ist ein Struktur gebender Ort für all diese Menschen, die irgendwann einmal in ihrem Leben, aus welchen Gründen auch immer dem Wahnsinn nahe waren:
"’Abschweifungskönig’ Chris Fogle blättert eine Seite um. Howard Cardwell blättert eine Seite um. Ken Wax blättert eine Seite um. ‚Groovy’ Bruce Channing heftet ein Formular in eine Akte. Ann Williams blättert eine Seite um. Anand Singh blättert aus Versehen zwei Seiten auf einmal um und blättert eine zurück, was sich etwas anders anhört. David Cusk blättert eine Seite um".
Dass so viel monotone Schreibtischarbeit, so viel immer gleiche Alltäglichkeit, so viel Abwechslungslosigkeit nicht gerade aufregend sind, können und müssen wir als Leser genauso miterleben, wie jene, die diese Arbeit tun. Und immer wieder stellen wir uns die Frage, womit wir besser leben könnten: als zwangshandelnder Neurotiker mit Zählwahn, als Dauerpsychiatriepatientin mit Ritztrieb, als immerfort nass geschwitzter Angstphobiker mit Sehnsucht nach Geschlechtsverkehr oder als ein von Papierstaub und Zahlen sedierter tagaus-tagein Akten blätternder Schreibtischbeamter mit Steuertrüffelnase. Bis wir es schließlich mit Lane Dean erfahren:
"Er glaubte jetzt, voller Gewissheit sagen zu können, dass die Hölle nichts mit Feuer oder erstarrten Armeen zu tun hatte. Man schloss einen Mann in einem fensterlosen Raum ein, ließ ihn Standardarbeiten erledigen, die gerade schwierig genug waren, dass er dabei denken musste, aber trotzdem Arbeiten, bei denen es um Zahlen ging, die mit nichts zusammenhingen, was er je gesehen oder was ihn je beschäftigt hatte, ein Stapel von Arbeiten, der nie kleiner wurde, man nagelte eine Uhr so an die Wand, dass er sie sehen konnte, und dann überließ man ihn sich selbst und seinem Hirn. Wies ihn an, den Hintern zu falten und an Strände zu denken, wenn er Hummeln im Hintern bekam, genau wie seine Mutter."
David Foster Wallace erzählt in diesem nachgelassenen Roman darüber, in welcher Spannung wir uns zwischen innerer psychischer Unordnung und äußerer physischer Ordnung bewegen. Verlust der Selbstkontrolle steht gegen Langeweile. Eine Erlösung davon gibt es nicht. Doch durch seine große psychologische Menschenkenntnis, durch seine enorme Neurosenbeschreibungsbegabung und Fähigkeit zu blitzwachen dichten Short-Cuts, und durch den von Ulrich Blumenbach in der Übersetzung fantastisch herausgearbeiteten lässigen Alltagston, der manchmal an Schlingensief’sche Diktiergerätaufzeichnungen erinnert, bringt er uns diese Not ziemlich nahe. Wenn wir auf der anderen Seite der schnörkellos und radikal kahlen Erzählung der Steuerbehörde, verstehen wir vollends, dass "Ich" gerne immer ein anderer sein möchte. Oder, mit Claude Sylvanshine, einer seiner Hauptfiguren gesprochen:
"Was, wenn mit mir irgendetwas von Grund auf verkehrt ist, was mit anderen Menschen stimmt".
So einfach ist das.
David Foster Wallace: "Der bleiche König", Kiepenheuer&Witsch, 640 Seiten, 29,99 Euro, ISBN 978-3462045567