Am 13. November 2015 befand sich der israelische Schriftsteller David Grossman zusammen mit seiner Frau Michal, die Psychotherapeutin ist, in Paris - eigentlich zu einer Tagung. Am gleichen Tag wurde die Stadt an sieben Orten von terroristischen Attentaten erschüttert. Die Tagung zum Thema "Paare. Unbewusste Verbindungen" entfiel. Stattdessen gab Grossman ein Interview und sprach über seine eigenen Erfahrungen mit dem Terror und wie er eine Gesellschaft verändert. Um Unbewusstes ging es auch hier, etwa um die Echowirkung der Erfahrung der Shoah, die das israelische Volk in die ewige Opferrolle drängt.
"Wir sagen, wir wollen nicht mehr Opfer sein, aber wir schaffen pausenlos Situationen, in denen wir es sind oder in denen wir uns so fühlen. Und wenn sich eine Gelegenheit bietet, die uns davon befreien könnte, ergreifen wir sie nicht. Wir sind fasziniert von dem Gefühl, uns in einer Situation zu befinden, in der wir sagen können, niemand versteht uns."
Resonanzraum der Sprache
Keine guten Voraussetzungen für einen lösungsorientierten Dialog. Und auch wenn nicht alles, was David Grossman an diesem schwarzen Pariser Tag von seinem Land Israel erzählt, übertragbar ist auf andere Konfliktregionen und Bedrohungen, machen genau solche Analysen unbewussten Verhaltens seine politischen Reden und Essays so wertvoll. Wie kaum ein anderer erforscht Grossman das, was er als "Resonanzraum" bezeichnet; was mitschwingt, wenn wir sprechen und handeln; was sich bis in Formulierungen hineinschleicht, falls Menschen zu lange Krieg, Terror und Willkür ausgesetzt sind.
"Wir sprechen über das Leben in der Terminologie des Krieges. Alles wird eingeteilt in "diese Person ist Freund oder Feind", als ob es dazwischen nichts gäbe. Zu den Grundbegriffen gehören "Falle", "Misstrauen", "jederzeit alarmbereit sein", oder auch Redeweisen wie "entweder du siegst auf der ganzen Linie, oder du verlierst auf der ganzen Linie", als gäbe es keine anderen Möglichkeiten."
Für die Sprache des Friedens, betont David Grossman, braucht es ein anderes Vokabular; außerdem Mut und Entschlossenheit, den Frieden wirklich herbeiführen zu wollen, mitsamt seinen Folgen. Denn auch das Leben in Freiheit erfordert Kompromisse und Einschränkungen. Es sind keine einfachen Forderungen, die Grossman immer wieder formuliert - im eigenen Land; aber auch in Deutschland, wo er etwa zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises 2008 sprach oder 2015 zum 75. Geburtstag Joachim Gaucks - den er vor allem als "mentsch" würdigt. Das jiddische, mit t in der Mitte geschriebene Wort meine jemanden, "der auch in einer Situation Mensch sein wird, in der es schwer ist, Mensch zu bleiben, und in der es noch schwerer ist, menschlich zu handeln". Doch genau solche Situationen interessieren ihn. Wie begegnen wir Tyrannei und Willkür? Was macht es mit uns, wenn eine Gesellschaft - wie in Israel - in Besatzer und Besetzte eingeteilt ist?
"Ich möchte niemandes Schatten sein, wer es auch ist. Wenn ich aber ein Besatzer bin, werfe ich nicht nur meinen Schatten auf den anderen, sondern stehe auch selbst im Schatten."
Deformation durch die Verhältnisse
Am Beispiel Israel erzählt David Grossman von dem erschreckenden Phänomen, dass der Mensch durch die Verhältnisse deformiert wird. Er ruft auf, diesem Phänomen gegenüber wachsam zu sein, um es an sich selbst zu bemerken. "Eine Taube erschießen" ist dieser Sammelband mit Essays und Reden aus den Jahren 2008 bis 2017 überschrieben. Der Titel spielt auf George Orwells Geschichte "Shooting an Elephant" an. Darin geht es um einen Mann, der eigentlich auf Seite der Burmesen steht, aber als Polizeioffizier - wie George Orwell seinerzeit selbst - die imperiale Staatsmacht vertreten soll. Dafür wird er von den Burmesen verachtet. Als er gerufen wird, einen Elefanten zu töten, der einen Menschen totgetrampelt haben soll, zögert er zunächst beim Anblick des friedlichen Tiers. Doch die wütende Menge macht ihm Druck. Weder will er ein Feigling sein noch sich dem Befehl widersetzen. Schließlich schießt er ihn nur an, und der Elefant quält sich lange. Übertragen auf die Taube im Titel bei Grossman, schwingt hier zweierlei mit: Die Identitäts-Konfusion, die entsteht, wenn man nur danach schielt, was andere von einem denken und darüber den menschlichen Impuls vergisst; aber auch die Taube als Friedenssymbol und der Möglichkeit des Friedens - zu oft schon verspielt. Gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg? - Empathie, Selbstbefragung und Demut lauten Grossmans Antworten. Wie weit sie reichen sollten, um Versöhnung anzustoßen, zeigt folgendes Gedankenexperiment aus seinem Buch "Stichwort: Liebe", in dem er sich ausmalt, im Deutschland der Nazizeit gelebt zu haben:
"Was hätte ich dieser völligen Ausradierung meines Selbst, was hätte ich meiner Verwandlung in einen Untermenschen, der mit einer Nummer auf dem Arm zur Vernichtung bestimmt ist, entgegensetzen können? Und wenn ich ein Nazi gewesen wäre oder ein deutscher Bürger, hätte ich mich von der mörderischen Woge mitreißen lassen? - Ich entdeckte, dass sich die beiden Extreme eigenartigerweise nicht grundsätzlich voneinander unterscheiden. Kann es sein, dass genau diese Erkenntnis heute die "wahrhafte" Versöhnung zwischen beiden Völkern ermöglicht?"
Literatur zeigt uns als Menschen
David Grossman zeichnet sich vor anderen Stimmen für den Frieden dadurch aus, dass er immer authentisch wirkt. Sein humanistischer Ansatz macht seine Gedanken allgemeingültig; seine persönliche Erfahrung, von der er offen spricht - 2006 starb sein Sohn Uri im Libanonkrieg - kräftigt seine Reden und Essays aus der Mitte jener tief erlebten Existenz, die er minutiös auch in seinen Werken zu erkunden versucht - eindrucksvoll etwa in seinem 2009 erschienenen Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht", der zugleich Klage und Loblied auf das Leben ist. In einer seiner Reden beschreibt er, wie viel Zeit er darauf verwende, nach einem immer noch treffenderen Wort für ein bestimmtes Gefühl zu suchen. In dieser Sorgsamkeit ruhen Respekt und Hochachtung für die Befindlichkeiten des Anderen als Grundbedingung für ein friedliches Miteinander:
"Die Literatur vermag es, uns allen unser Menschengesicht zurückzugeben."
Im Vorwort zu dieser Ausgabe erzählt David Grossman die Geschichte von einem Mann, der während des Vietnamkriegs jede Woche einen Tag lang vor dem Weißen Haus in Washington gegen den Krieg demonstrierte. Von einem zynischen Journalisten gefragt, ob er glaube, damit die Welt zu verändern, antwortete er erstaunt: "Die Welt verändern? Bestimmt nicht. Ich sorge nur dafür, dass die Welt mich nicht verändert." Auch wenn David Grossman mit seinen Plädoyers für Freiheit und Individualität die Welt nicht verändert, so hilft er doch, dass sie uns nicht verändert; dass uns die täglichen schlechten Nachrichten nicht deformieren. Sich diese Wachsamkeit für den Grad der eigenen Deformation zu erhalten, ist schon viel - und längst nicht alles, was diese bewegenden Texte bei der Lektüre anstoßen.