Am kommenden Dienstag (22. August 2023) werden neue Forschungsergebnisse zum DDR-Staatsdoping-System vorgestellt. Akteure, Mechanismen und Verantwortlichkeiten werden nochmal neu beleuchtet – wie viel wussten die Leistungssportlerinnen und -sportler, wie ist ihnen das Doping vermittelt worden, in welchem gesellschaftlichen und geistigen Umfeld ist das alles geschehen?
Damit hat sich ein Team um die Historikerin Jutta Braun und ihrem Kollegen René Wiese beschäftigt. Angestoßen worden ist die Untersuchung von der Thüringer Staatskanzlei und dem Landessportbund Thüringen. Das Ziel dieser Auswertung von Dokumenten aus den Dopingprozessen der 90er Jahre: Opfern des DDR-Staatsdopings bei der Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen Hilfestellung zu geben.
In den 70ern konnte man Anabolika nicht googeln
So berichtete Forscherin Braun im Dlf-Interview von den "Schwierigkeiten, die Geschädigte haben, wenn sie nachweisen wollen, dass sie Opfer einer hoheitlichen Maßnahme waren, dass es sich um einen staatlichen Willkürakt handelte". Wenn Betroffene "Kompensation für ihr Leiden" suchten und etwa vor Gericht Rentenansprüche geltend machen wollten, werde ihnen häufig "nicht geglaubt", Opfer eines Systems gewesen zu sein.
Braun wies im Zuge dessen auch auf die Umstände der Leistungssportlerinnen- und sportler im damaligen Unrechtssystem hin: "Viele verstehen nicht, dass man natürlich 1972 das Wort 'Oral-Turinabol' nicht einfach googeln konnte." Die Informationsmöglichkeiten seien im DDR-Zwangssystem sehr begrenzt gewesen, genau wie die Handlungsoptionen, sich gegen dieses Unrecht und die politische Unterdrückung aufzulehnen.
Top-Down-Diktatur: Sportlerinnen und Sportler ganz unten
Für die Historikerin des Zentrums deutscher Sportgeschichte geht es also nicht primär um die Frage, ob eine Person Bescheid wusste, dass sie gedopt wurde oder eben nicht. Sondern auch darum, unter welchem physischen und psychischen Zwang sie gestanden haben mag. "Das muss alles ins Gesamtbild hineingebracht werden, damit die Geschädigten heute die Möglichkeit haben, dass ihnen Glauben geschenkt wird", sagte Braun.
"Die Systemträger, Mitwisser, Profiteure, verschwinden in dieser Debatte doch sehr stark im Nebel der Geschichte." Deshalb sei ein erneuter, sehr genauer Blick "auf die Funktionäre, die Trainerschaft, die Ärzteschaft, die massiv gegen Gesetze und ihr eigenes Berufsethos verstoßen haben", gerechtfertigt. Braun erklärte: "Es war eine organisierte Verantwortungslosigkeit, eine Top-Down-Diktatur, wo der Sportler ganz unten stand."
Auch in der Wissenschaft gab es "Oppenheimer-Momente"
Wobei anhand der Akten der 90er-Jahre-Dopingprozesse auch auf der Ebene der Trainer- und Ärzteschaft neue Erkenntnisse zu ihrer Rolle im Unrechtssystem zutage gefördert wurden. Braun unterstrich: "Auch hier hat es manchmal Zweifel gegeben. Es hat bei Wissenschaftlern, die Präparate entwickelten, schon den ein oder anderen Oppenheimer-Moment [Erfinder der Atombombe, d. Red.] gegeben. Dass man sich gegruselt und gesagt hat: In dem Moment, wo wir dieses Präparat entwickelt haben, haben wir nachher auf die Anwendungsweise nachher gar keinen Einfluss mehr. Aber was einmal in der Welt ist, ist in der Welt."
Aus der Untersuchung gehe auch hervor, dass das DDR-Staatsdoping eingebettet war in ein breites Feld von Mitwissern – auch außerhalb der DDR. "Es hat einen internationalen Sportbetrug gegeben, eine deutsch-deutsche Kumpanei unter Sportmedizinern. Das heißt, es war eine riesige Kette aus Karrieristen, Drahtziehern, Experimentierfreudigen, im Sport, auch im Militär, der Ärzteschaft." Die Sportlerinnen und Sportler seien laut Braun "ein sehr kleiner, wenn auch besonders gefährdeter Teil" gewesen, "der bis heute diese Lasten trägt".