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Studie zum DDR-Sport
Gerichtsakten geben Einblicke ins DDR-Dopingsystem

Eine neue Studie zum systematischen Doping im DDR-Sport wertet erstmals Akten aus den Dopingprozessen der 1990er-Jahre aus. Betroffen waren demnach nicht nur Spitzenkader. Gerade Athleten aus der zweiten oder dritten Reihe wurden gezielt als Versuchskaninchen benutzt.

Von Henry Bernhard |
Tablettenpackung des Anabolikums "Oral Turinabol" vom Hersteller VEB Jenapharm
Eine von der Thüringer Landesregierung und dem Landessportbund beauftragte Studie gibt neue Einblicke in das System des DDR-Staatsdopings (imago images / Friedel)
"Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern, dass jemals vor 1989 das Thema Doping bei DDR-Sportlerinnen und Sportlern eine mediale oder irgendeine andere Rolle gespielt hat. Ich erinnere mich nicht daran."
Die Präsidentin des Thüringer Landtags, Birgit Pommer, Linkspartei, bis 1989 FDJ- und SED-Funktionärin, spricht ihre blinden Flecken an, als sie eine Kunstausstellung von Opfern des DDR-Staatsdopings im Thüringer Landtag eröffnet.
"Auch, wenn man manchmal gar nicht glauben will, was in der Zeit möglich gewesen ist, ist es doch eine Tatsache."

Berichterstattung damals schnell "verschwunden"

Gleich danach, in einem Podiumsgespräch über die Doping-Gerichtsprozesse der späten 90er-Jahre, erinnert die ehemalige DDR-Spitzenschwimmerin Renate Vogel daran, dass sehr wohl früh über Doping in der DDR berichtet wurde. Und welcher Druck nach ihrer Flucht aus der DDR 1979 auf ihr und den Redakteuren lag, wenn sie Interviews gab. Vogel, die spätestens ab 1973 bunte Pillen und auch Spritzen verabreicht bekommen hatte, teilte ihre Erfahrungen 1991 auch mit der Richthofen-Kommission zur Beratung in Doping-Fragen:
"Ich habe also auch die Leute beim Namen genannt, welche Sachen gemacht worden sind, und danach habe ich nichts mehr davon gehört. Es ist, auf gut Deutsch, verschwunden."
Erst bei den Gerichts-Prozessen gegen DDR-Sportfunktionäre und -Trainer ab 1997 seien die konkreten Tatsachen öffentlich geworden, wie in der DDR systematisch und unter maximaler Geheimhaltung, auch gegenüber den Sportlern, gedopt wurde.

Hunderte Meter unerschlossener Akten über Doping-Praktiken

Sperrfristen seien erst jetzt abgelaufen, es gäbe Hunderte laufende Meter unerschlossener Akten, erklärt die Sporthistorikerin Jutta Braun. Sie hat in Erfurt zusammen mit ihrem Kollegen René Wiese eine neue Studie zu den Strukturen des DDR-Staatsdopings vorgestellt – auf Basis der Gerichtsakten:
"Mit unserem Projekt wollen wir erreichen, dass die gerichtlich erhobenen Schuldbekenntnisse und Opfergeschichten Eingang in das kollektive Gedächtnis finden. Also in einem Forscherleben kann man alle Prozesse gar nicht abarbeiten. Man ist gezwungen, ein bisschen exemplarisch zu arbeiten, und es ist eben nicht so einfach, diese Akten zu benutzen."
Denn: Anders als bei Stasi-Akten dürfe sie aus Gerichtsakten, auch bei Personen der Zeitgeschichte, nur anonymisiert zitieren:
"Sehr zu meinem Bedauern. Ich würde gerne viele Sachen mit vollen Namen ausschreiben. Erst dann kann so richtig gewürdigt werden, was diese Leute zugegeben haben. Wenn man weiß, wer es ist und was er oder sie öffentlich dazu gesagt hat, vorher und nachher – da gibt es nämlich einige wirklich interessante Differenzen."

Funktionäre, Ärzte, Trainer - ein geschlossenes System des DDR-Staatsdopings

Die Untersuchung von Jutta Braun und René Wiese wirft ein Licht auf die Strukturen des DDR-Staatsdopings: Weg von den einzelnen Sportlern, hin zu Funktionären, Ärzten, Trainern, die ein geschlossenes System des Dopings gebildet hätten. Die Frage, ob ein Sportler "wissentlich oder unwissentlich“ gedopt habe, rücke damit eher in den Hintergrund. Das begrüßt Silvia Oberhack vom Dopingopfer-Hilfeverein ausdrücklich:
"Die ehemaligen Sportler werden immer gefragt: War das bewusst oder unbewusst?, oder: Warum habt ihr das genommen? Ich habe noch nicht einmal die Frage an einen Sportarzt gehört, die jetzt auch noch aktiv sind: Du wusstest doch, was du gibst! Denn die wussten, was sie geben! Warum hast du das gemacht? Das finde ich total verheerend."
Auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow erkennt einen neuen Blickwinkel: "Die erste Frage ist: Wie war das System, in dem die Normalität war, dass du nie wusstest: Wirst du gedopt, wirst du nicht gedopt? Und wenn du aber gesagt hast: Ich wusste, dass ich Spritzen kriege, und ich wusste, dass das irgendwie komisch ist – dann galt es schon als Mittäterschaft."

"Versuchskaninchen" für die Olympia-Kader

Braun und Wiese wollen herausarbeiten, wie massiv der SED-Staat Druck auch auf minderjährige Sportler und deren Angehörige ausübte, um Doping geschehen zu lassen. Erschreckend sei für sie gewesen, dass es 1984 geradezu einen Dammbruch gegeben habe, Sportler bis in die dritte Reihe massiv zu dopen.
Der oberste DDR-Sportchef Manfred Ewald wies sogar an, bei bislang unerprobten Mitteln gerade die zweite und dritte Reihe zu dopen, so Jutta Braun: "Mit der Bemerkung: 'Unreife Kastanien kann man nicht an Olympia-Kader verfüttern.' Die 'unreifen Kastanien', sprich, die noch unausgegorenen Methoden der Leistungssteigerung, sollten mithin fortan ausschließlich bei Anschlusskadern ausprobiert werden."

Dopingopfer-Hilfeverein fordert gesundheitliche Aufklärung

Ariane Speckhahn, ebenfalls vom Dopingopfer-Hilfeverein, war selbst als Teenager an einer DDR-Sportschule. "In dem Moment, wenn du an einer Sportschule warst, ging das mit dem Dopingprogramm los, und wir haben davon nichts gemerkt. Das war im Essen drin, das war in Getränken drin. Wir waren wie Versuchskaninchen."
Deshalb will Speckhahn für sich und die vielen Hundert ehemaligen Sportler, die sich beim Dopingopfer-Hilfeverein beraten lassen, wissen:
"Was hat die Chemie mit unseren Körpern gemacht und vor allen Dingen auch mit der zweiten Generation mit unseren Kindern? Was passierte in unseren Körpern langfristig gesehen? Und auch diese ganze Konstellation, wie das alles funktioniert hat mit den Trainern, mit den Sportmedizinern. Wie kam das dazu, dass da keiner so richtig mal ausgebrochen ist und gesagt hat: Leute, was ihr hier macht, ist Mist!“
Das Ziel des Hilfevereins, aber auch der Doping-Forscher Braun und Wiese, ist, dass zukünftig Doping-Schäden auch ohne juristisch belastbaren individuellen Nachweis anerkannt und stattdessen die systematischen Strukturen berücksichtigt werden .
Silvia Oberhack ergänzte: "Das Problem ist: Bei so einer verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung muss der Einzelne sozusagen nachweisen, was da passiert ist. Der Verwaltungsrichter sagt: "Also wenn ich es auf Papier habe, okay, dann ist es passiert. Wenn ich nichts habe, dann war nix. Oder du machst mir das so plausibel, dass ich das verstehen kann und in Zusammenhang bringen kann!“