Alexander Walther von der Universität Jena verlas gleich zu Beginn einen Leserbrief an die Berliner Zeitung, der damals wohl in vielen deutschen Zeitungen hätte stehen können.
"Unter der Überschrift 'Soll die Zeitung das bringen?' wurde der Brief einer Leserin abgedruckt: 'Die Berichte in Ihrer Zeitung von jetzt befreiten KZ-Insassen haben mich erschüttert. Beim Lesen der Erlebnisse spürt man, dass alles noch viel schlimmer gewesen sein muss, als es sich überhaupt sagen lässt. Dennoch muss ich Ihnen schreiben, dass es vielleicht richtiger wäre, nicht länger solche Schilderungen zu veröffentlichen. Ich glaube, man sollte unter alles, was gewesen ist, ein endgültigen Strich ziehen. Wir müssen ja alle von vorn anfangen.' Veröffentlicht wurde der Beitrag am 4. Juni 1945. Kaum vier Wochen also nach der bedingungslosen Kapitulation war schon die Forderung nach einem Schlussstrich zu hören. Die Erforschung der unmittelbaren Vergangenheit war also sozial nicht erwünscht und bald auch politisch nur noch unter Vorgaben gewollt."
Antisemitismus als Ventil
Die Autorin Eike Küstner, die sich mit dem Neubeginn der jüdischen Gemeinden in Erfurt ab 1945 beschäftigt, hat einen undatierten Brief des Juden Hugo Glaser gefunden, der sich nach dem Krieg im thüringischen Sömmerda angesiedelt hat.
"Er habe auf dem Schwarzmarkt gekauft, um seine große Familie gesund zu erhalten. Die Schwarzmarkt-Angelegenheit des Hugo Class wurde nach dessen Wahrnehmung so aufgebauscht, dass man von einer Pogromstimmung der hiesigen Bevölkerung gegen die fünf ansässigen Juden sprechen kann. Ausdrücke wie 'Die Ostjuden sind alle Verbrecher', 'Die Juden müssen stürzen!', beklagt der Briefschreiber an die Gemeinde ebenso wie Wände in Sömmerda, die mit 'Jude' als Schimpfwort beschmiert sind, und die Bevorzugung der deutschen Juden gegenüber den polnischen Juden, welche mit Wohnung, Kleidung und Möbeln besser versorgt werden."
Diese zwei Beispiele verdeutlichen die Stimmung in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Viele andere Dokumente wurden vorgetragen. Problematisch aber war nicht nur der Antisemitismus und Rassismus auf der Straße und in den Verwaltungen, sondern die Unfähigkeit oder der Unwille der marxistischen Historiker, den Holocaust in ihr Geschichtsbild einzupassen. Da machten jüdische Wissenschaftler keine Ausnahme, so Alexander Walther, auch sie hätten den spezifischen Hass auf Juden nicht herausgearbeitet.
"In den Texten fand sich eine marxistische Antisemitismus-Definition, die im Laufe der DDR kaum differenziert wurde. Heymann beschrieb den Antisemitismus als eine im 19. Jahrhundert theoretisierte ökonomische Variante des Rassismus. Die Hetze sei vor allem als ein Krisensymptom des Imperialismus zu begreifen. Denn die herrschende Klasse, so Heilmann, habe sich des Antisemitismus eben nur bedient, um die Wut der unterdrückten Arbeiterklasse auf die Juden umzuleiten. Die Deutung war auch nicht neu: Linke Intellektuelle und Politiker der Arbeiterbewegung hatten schon im Kaiserreich die Erklärung grundlegend skizziert. Die sogenannte 'Judenfrage' wurde von ihnen nicht als eigenständiges Problem gesehen, sondern sei vielmehr ein Symptom der Herrschaft einer Klasse. Nach dem Klassenkampf würde sich das Problem von selbst lösen. Frühe Pioniere der Antisemitismusforschung brauchten lange, bis ihre Forschungen von einem größeren Publikum wahrgenommen wurden; und das nicht nur in der DDR."
"Wir sind als Sozialdemokraten emigriert"
Mehrfach wurde darauf verwiesen, dass auch im Westen die Erforschung des Holocaust erst spät begann und dass die jüdischen Opfer in der DDR durchaus Erwähnung fanden. Aber die Singularität der Shoah und die Besonderheit des Antisemitismus wurden nicht erkannt. Dies hatte ideologische Gründe, darüber hinaus war es eine Machtfrage. "Sie alle haben Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft" - das war ein Satz, der die Haltung vieler ehemaliger politischer Häftlinge und Emigranten aufzeigt. Sie organisierten sich zuerst in den Ausschüssen der Opfer des Faschismus - OdF - und später in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - VVN. Diese Vereinigungen sorgten unter anderem für Anerkennung, Repräsentation, Wohnraum. Die Historikerin und Autorin Annette Leo zitierte den Kommunisten Richard Großkopf, der das KZ überlebt hatte und später Stasi-Offizier wurde:
"'Opfer des Faschismus' ist ein bestimmter Typ von Kämpfern, und den wollen wir erhalten. Wir wollen den Typus des immerwährenden Kämpfers entwickeln.' Und in ein paar Sätze weiter stellte er die Frage: 'Können wir vertreten, dass alle diese Leute nun auf einmal Opfer des Faschismus sind?'"
Juden wurden damals eher verharmlosend als "Opfer der Nürnberger Gesetzgebung" bezeichnet, nicht als Juden. Susan Neiman, Philosophin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam, sieht dies jedoch nicht so problematisch:
"Dieses Phänomen war nicht nur auf die DDR beschränkt. Ich kenne einige linke Sozialdemokraten, die emigriert worden sind, die sich vor den Nürnberger Gesetzen nie als Juden verstanden hatten. Und nach dem Krieg: Man kannte sich natürlich, man wusste irgendwie, dass man diesen jüdischen Hintergrund hat, aber es war für die nicht wichtig. Also, da hat die Angst keine Rolle gespielt, sondern es war einfach die Sozialisation. Die haben auch ihren Kindern gesagt: Wir sind als linke Sozialdemokraten emigriert, nicht, weil wir Juden sind. Also das wurde dann der nächsten Generation weitergegeben. Und ich finde, es soll man auch im Vergleich sehen."
Kampfgemeinschaften mit NSDAP-Mitgliedern
Bei politischer Unbotmäßigkeit konnte es Juden in der DDR passieren, dass sie ihren Opferstatus verloren - wie es auch dem jüdischen fahrenden Händler Max Levinson drohte, der 1948 in Mecklenburg wegen angeblicher Wucherpreise angezeigt wurde. Nachdem die Polizei seine Waren beschlagnahmt hatte, wandte sich Levinson an den örtlichen OdF- und VVN-Chef, einen SED-Genossen, der den Vorfall nach Berlin weitermeldete, berichtet Annette Leo:
"Wegen der verlangten Wucherpreise habe Levinson nach Malachinskis Ansicht das Ansehen der OdF und der VVN auf das Schändlichste beschmutzt. Deswegen habe er ihm beide Ausweise abgenommen und sie zum OdF-Hauptausschuss nach Berlin geschickt. Wäre es nach dem Güstrower VVN-Vorsitzenden gegangen, wäre der Gewerbetreibende wohl aus der VVN ausgeschlossen worden, weil er sich da nicht mehr würdig erwies. Und überdies hätte ihm die Aberkennung des Verfolgten-Status gedroht, was damals durchaus nicht selten vorkam."
Die stalinistischen Säuberungen in der DDR ab 1949 erschütterten das Verhältnis zwischen den verschiedenen Opfergruppen nachhaltig, so Annette Leo.
"Vertreter des sozialdemokratischen, des bürgerlichen, des christlichen Widerstands, Zeugen Jehovas, Kämpfer in der jugoslawischen Partisanenarmee, Rückkehrer aus dem West-Exil wurden als 'Trotzkisten', 'Tito-Faschisten', 'Renegaten' und 'Agenten des Imperialismus' stigmatisiert, ausgegrenzt oder sogar verhaftet, während zur gleichen Zeit die VVN-Mitglieder aufgefordert wurden, Kampfgemeinschaften mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern und Wehrmachts-Offizieren zu bilden, die nun beim sozialistischen Aufbau mitmachen durften."
Stalinistische Verfolgung von Juden
Die antisemitische Verfolgungswelle in den sozialistischen Staaten, die ausgehend in der Sowjetunion viele Todesurteile, Berufsverbote und andere Diskriminierungen mit sich brachte, ließ zu Beginn der 50er-Jahre viele Juden aus der DDR in den Westen fliehen.
"Mir kommt diese Situation, die mit dem Tod Stalins im März 1953 übrigens abrupt endete, wie ein Dammbruch vor, der den nach wie vor in der Gesellschaft schwelenden Antisemitismus wieder ans Licht brachte und eine Menge hässlicher Eigeninitiativen übereifriger Funktionäre auslöste. Die Polizei durchsuchte die Büros der Jüdischen Gemeinde und beschlagnahmte Akten. In Leipzig und anderen Städten verlangten MfS-Mitarbeiter von den dortigen VVN-Organisation die Namenslisten der jüdischen Mitglieder. Es kam sogar Fälle vor, dass lokale Verwaltungen anerkannten jüdischen Verfolgungsopfern die Lebensmittelkarten verweigerten und dass sie mit der Ausweisung aus der Wohnung drohten und laufende Rentenverfahren abgebrochen wurden."
Auf Anweisung des SED-Politbüros musste sich die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes 1953 selbst auflösen. Sie wurde ersetzt durch das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer, das rein repräsentative Aufgaben erfüllte. Juden und auch andere NS-Opfer-Gruppen hatten fortan keine politische Vertretung mehr in der DDR. Die Gemeinden, die wie auch die Kirchen eine Randexistenz führten, konnten und durften diese Rolle nicht ausfüllen. Zumal sich viele von den insgesamt nur wenigen Juden in der DDR von den Gemeinden nicht repräsentiert sahen, da Religion in ihrem Leben keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielte. SED-Genossen mussten sich zudem entscheiden zwischen Partei und Gemeinde. Susan Neiman versuchte am Ende der Tagung dennoch eine Ehrenrettung des DDR-Antifaschismus:
"Es gab in einem Teil von Deutschland eine klare Botschaft, eine klare, einfache Botschaft, und die heißt: Die Nazis waren Verbrecher und sie zu besiegen war eine Befreiung. Und diese Botschaft gab es in einem Teil von Deutschland und im anderen nicht. Und das macht schon was aus."