Der Trick funktionierte so: Der abenteuerlustige DDR-Bürger ging zur Polizei und erzählte, dass er etwa nach Rumänien fahren will. Da es eine günstige Zugverbindung über die Sowjetunion gebe, möge man ihm doch bitte ein Transitvisum für die UdSSR ausstellen. Das Dokument verlangte, dass der Reisende auf kürzestem Wege - innerhalb von 48 Stunden - die Transitroute zurücklegte. Doch kurz hinter dem Sowjet-Schlagbaum änderte der Rucksack-Tourist einfach die Richtung - und machte sich auf den Weg ins Baltikum oder in den Kaukasus, zum Baikalsee oder in Richtung Seidenstraße. Per Flugzeug, per Bahn oder Anhalter.
Und wir sind dann wirklich getrampt, auch mit Hubschraubern, die haben uns mitgenommen. Man spricht einen Piloten an, trinkt mit denen eine Flasche Wodka und dann kann man mitfliegen.
So die Erinnerung des Brandenburgers Ulrich Henrici. Der heutige Rentner und 18 weitere Zeitzeugen haben ihre Reiseberichte diktiert beziehungsweise selbst zu Papier gebracht - für den Sammelband "Unerkannt durch Freundesland". Die amüsanten und teilweise skurrilen Erzählungen zeigen, wie die DDR-Rucksackfreunde zuerst einmal eigene Schlafsäcke nähten, eigene Iso-Matten bastelten und eigene Landkarten zeichneten. Hinter der Grenze, im viel gepriesenen sowjetischen Bruderland, ging das Improvisieren oft weiter. Die Dresdnerin Iduna Böhning war unter anderem in Russland und Georgien unterwegs. Sie räumt in ihrem Report ein, dass viele Touren auch Torturen waren:
Das war zum Beispiel der Fall, wenn man drei Tage lang auf dem Flughafen oder Bahnhof übernachten musste, weil keine Tickets mehr zu bekommen waren. Da gab es keine Hilfe, sondern man wartete zusammen mit den Einheimischen: mit den russischen Großmüttern, Kindern, unendlichen Bergen von Gepäck, Hühnern und pausenlos rauchenden Männern. Auch die Zugfahrten waren lang und anstrengend. Man saß zwischen Asiaten, Russen und Kalmücken stundenlang auf Holzpritschen und fuhr durch die Landschaft. Das war unterhaltsam und spannend, aber mitunter auch gewöhnungsbedürftig, besonders was die Benutzung der Toiletten betraf, die manchmal kein Wasser hatten.
Schlechte Verkehrsverbindungen, fehlende Hotelbetten, leere Lebensmittelgeschäfte. Viele Sowjetreisende hatten außerdem mit Geld-Mangel zu kämpfen. Dennoch reizte es junge Ostdeutsche immer wieder, die verbotenen Sowjet-Trips zu machen. Ulrich Henrici etwa war insgesamt 19 Mal illegal in der UdSSR. Der Potsdamer Bergsteiger ließ sich von Cornelia Klauß, der Co-Herausgeberin des Buches, interviewen. Henrici erzählt, wie er die Sowjet-Funktionäre mit einem gefälschten Schreiben überlistete, um den höchsten Berg Russlands - den Elbrus - besteigen zu dürfen.
Und hab mir dann in Potsdam von Stempel-Gottschalk zehn Stempel anfertigen lassen. Und dann in verschiedenen Farben Stempel unter das Dokument geklatscht. Und mit Meyer, Müller, Schulz, Krüger usw. unterschrieben. Die Russen konnten das nicht lesen. Und bei denen wirken runde und dreieckige Stempel ganz besonders. Also wenn irgendwo ein Stempel drunter ist, dann ist das Dokument offiziell.
Frech kommt weiter. So entdeckten die illegalen Besucher an der Schwarzmeerküste die ersten Palmen ihres Lebens. Sie wanderten durch den wilden Kaukasus und besuchten die exotischen Teestuben Usbekistans. Einige "Freaks" bauten sogar einen Eis-Segler - und jagten damit über den zugefrorenen Baikalsee. Die Zeitzeugen schwärmen in ihren Reiseberichten vor allem von den Menschen in der Sowjetunion. Denn die Alternativ-Touristen wurden immer wieder privat eingeladen - vor allem zum Trinken. Kein Wunder, dass sich in der DDR die Erlebnisse herum sprachen - und die Heimkehrer bewundert wurden.
Sie strahlten eine ungezwungene innere Freiheit aus, die im grauen und ängstlichen Umfeld der späten DDR manchmal exotisch, aber immer ausgesprochen sympathisch wirkte.
Der ehemalige Hallenser Ökoaktivist Michael Beleites vergleicht in dem Buch den typischen DDR-Oppositionellen mit dem typischen Transit-Touristen, der unerkannt durch Freundesland, also "UdF" unterwegs war.
Die UdF-Bewegung war eine ganz und gar kampflose Gegnerschaft zum SED-Staat. Vielleicht wirkten genau deswegen die subversiven Nutzer des Transitvisums viel freier; sie erschienen vom Naturell der Funktionäre viel weiter entfernt als viele Dissidenten. Sie haben die Freiheit nicht gefordert, sondern praktiziert.
Die Sowjetregierung hatte allen ausländischen Touristen das individuelle Reisen verboten - auch um die Armut im Riesenreich zu verheimlichen. Ein Grund für ständige Visa-Kontrollen. Wurden illegale Touristen erwischt, landeten sie bei Miliz oder KGB. Allerdings kamen sie meistens nach einigen Stunden wieder frei. Die Sowjetgenossen setzten sie gern in den nächsten Zug oder Flieger - um sie aus ihrem Verantwortungsbereich loszuwerden. Auch der DDR-Geheimdienst war ratlos. Schließlich wollten die Illegalen nicht in den Westen abhauen, sondern freiwillig ins Herz des kommunistischen Lagers fahren. So zeigen die Herausgeber Cornelia Klauß und Frank Böttcher in zahlreichen Episoden die Hilflosigkeit der Staatsorgane auf.
"Unerkannt durch Freundesland" ist voll aufregender Geschichten über eine liebenswerte DDR-Subkultur. Die Erinnerungstexte sind mit eindrucksvollen Privatfotos bebildert. Historische Aufsätze sowie "Ein kleines ABC des sowjetischen Tourismus" runden die Kapitel ab. Entstanden ist ein Poesiealbum ostdeutscher Rucksacktouristen, produziert mit viel Liebe für's Detail. Kein Wunder: Der Berliner Verleger und Mit-Herausgeber Frank Böttcher war einst selbst illegal im Sowjetreich unterwegs. Eine erste Anthologie über das bislang unbekannte DDR-Thema ist bereits im vergangenen Jahr in einem Radebeuler Verlag erschienen: Sie heißt "Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion" und liest sich ebenso spannend, auch wenn sie weniger Begleit-Texte hat. Beide Werke gehören ins Bücherregal von Weltenbummlern, DDR-Interessierten und Historikern. Unbedingt!
Frank Böttcher/Cornelia Klauß (Hrsg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich. Lukas-Verlag, 444 Seiten, € 24,90, ISBN: 978-3-86732-076-4
Und wir sind dann wirklich getrampt, auch mit Hubschraubern, die haben uns mitgenommen. Man spricht einen Piloten an, trinkt mit denen eine Flasche Wodka und dann kann man mitfliegen.
So die Erinnerung des Brandenburgers Ulrich Henrici. Der heutige Rentner und 18 weitere Zeitzeugen haben ihre Reiseberichte diktiert beziehungsweise selbst zu Papier gebracht - für den Sammelband "Unerkannt durch Freundesland". Die amüsanten und teilweise skurrilen Erzählungen zeigen, wie die DDR-Rucksackfreunde zuerst einmal eigene Schlafsäcke nähten, eigene Iso-Matten bastelten und eigene Landkarten zeichneten. Hinter der Grenze, im viel gepriesenen sowjetischen Bruderland, ging das Improvisieren oft weiter. Die Dresdnerin Iduna Böhning war unter anderem in Russland und Georgien unterwegs. Sie räumt in ihrem Report ein, dass viele Touren auch Torturen waren:
Das war zum Beispiel der Fall, wenn man drei Tage lang auf dem Flughafen oder Bahnhof übernachten musste, weil keine Tickets mehr zu bekommen waren. Da gab es keine Hilfe, sondern man wartete zusammen mit den Einheimischen: mit den russischen Großmüttern, Kindern, unendlichen Bergen von Gepäck, Hühnern und pausenlos rauchenden Männern. Auch die Zugfahrten waren lang und anstrengend. Man saß zwischen Asiaten, Russen und Kalmücken stundenlang auf Holzpritschen und fuhr durch die Landschaft. Das war unterhaltsam und spannend, aber mitunter auch gewöhnungsbedürftig, besonders was die Benutzung der Toiletten betraf, die manchmal kein Wasser hatten.
Schlechte Verkehrsverbindungen, fehlende Hotelbetten, leere Lebensmittelgeschäfte. Viele Sowjetreisende hatten außerdem mit Geld-Mangel zu kämpfen. Dennoch reizte es junge Ostdeutsche immer wieder, die verbotenen Sowjet-Trips zu machen. Ulrich Henrici etwa war insgesamt 19 Mal illegal in der UdSSR. Der Potsdamer Bergsteiger ließ sich von Cornelia Klauß, der Co-Herausgeberin des Buches, interviewen. Henrici erzählt, wie er die Sowjet-Funktionäre mit einem gefälschten Schreiben überlistete, um den höchsten Berg Russlands - den Elbrus - besteigen zu dürfen.
Und hab mir dann in Potsdam von Stempel-Gottschalk zehn Stempel anfertigen lassen. Und dann in verschiedenen Farben Stempel unter das Dokument geklatscht. Und mit Meyer, Müller, Schulz, Krüger usw. unterschrieben. Die Russen konnten das nicht lesen. Und bei denen wirken runde und dreieckige Stempel ganz besonders. Also wenn irgendwo ein Stempel drunter ist, dann ist das Dokument offiziell.
Frech kommt weiter. So entdeckten die illegalen Besucher an der Schwarzmeerküste die ersten Palmen ihres Lebens. Sie wanderten durch den wilden Kaukasus und besuchten die exotischen Teestuben Usbekistans. Einige "Freaks" bauten sogar einen Eis-Segler - und jagten damit über den zugefrorenen Baikalsee. Die Zeitzeugen schwärmen in ihren Reiseberichten vor allem von den Menschen in der Sowjetunion. Denn die Alternativ-Touristen wurden immer wieder privat eingeladen - vor allem zum Trinken. Kein Wunder, dass sich in der DDR die Erlebnisse herum sprachen - und die Heimkehrer bewundert wurden.
Sie strahlten eine ungezwungene innere Freiheit aus, die im grauen und ängstlichen Umfeld der späten DDR manchmal exotisch, aber immer ausgesprochen sympathisch wirkte.
Der ehemalige Hallenser Ökoaktivist Michael Beleites vergleicht in dem Buch den typischen DDR-Oppositionellen mit dem typischen Transit-Touristen, der unerkannt durch Freundesland, also "UdF" unterwegs war.
Die UdF-Bewegung war eine ganz und gar kampflose Gegnerschaft zum SED-Staat. Vielleicht wirkten genau deswegen die subversiven Nutzer des Transitvisums viel freier; sie erschienen vom Naturell der Funktionäre viel weiter entfernt als viele Dissidenten. Sie haben die Freiheit nicht gefordert, sondern praktiziert.
Die Sowjetregierung hatte allen ausländischen Touristen das individuelle Reisen verboten - auch um die Armut im Riesenreich zu verheimlichen. Ein Grund für ständige Visa-Kontrollen. Wurden illegale Touristen erwischt, landeten sie bei Miliz oder KGB. Allerdings kamen sie meistens nach einigen Stunden wieder frei. Die Sowjetgenossen setzten sie gern in den nächsten Zug oder Flieger - um sie aus ihrem Verantwortungsbereich loszuwerden. Auch der DDR-Geheimdienst war ratlos. Schließlich wollten die Illegalen nicht in den Westen abhauen, sondern freiwillig ins Herz des kommunistischen Lagers fahren. So zeigen die Herausgeber Cornelia Klauß und Frank Böttcher in zahlreichen Episoden die Hilflosigkeit der Staatsorgane auf.
"Unerkannt durch Freundesland" ist voll aufregender Geschichten über eine liebenswerte DDR-Subkultur. Die Erinnerungstexte sind mit eindrucksvollen Privatfotos bebildert. Historische Aufsätze sowie "Ein kleines ABC des sowjetischen Tourismus" runden die Kapitel ab. Entstanden ist ein Poesiealbum ostdeutscher Rucksacktouristen, produziert mit viel Liebe für's Detail. Kein Wunder: Der Berliner Verleger und Mit-Herausgeber Frank Böttcher war einst selbst illegal im Sowjetreich unterwegs. Eine erste Anthologie über das bislang unbekannte DDR-Thema ist bereits im vergangenen Jahr in einem Radebeuler Verlag erschienen: Sie heißt "Transit. Illegal durch die Weiten der Sowjetunion" und liest sich ebenso spannend, auch wenn sie weniger Begleit-Texte hat. Beide Werke gehören ins Bücherregal von Weltenbummlern, DDR-Interessierten und Historikern. Unbedingt!
Frank Böttcher/Cornelia Klauß (Hrsg.): Unerkannt durch Freundesland. Illegale Reisen durch das Sowjetreich. Lukas-Verlag, 444 Seiten, € 24,90, ISBN: 978-3-86732-076-4