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DDR vs. BRD

Die Aufgabe der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR bestand darin, sich selbst abzuschaffen. Eine historisch einmalige Situation. Diesen dramatischen Weg schildert Ed Stuhler, und zwar aus der Perspektive der ostdeutschen Regierungsmitglieder.

Von Henry Bernhard |
    "Die letzten Monate der DDR" lautet der Titel des Buches. Man möchte ausrufen: "Nicht schon wieder! Nicht noch einmal Bärbel Bohley, Egon Krenz, der Mauerfall und die singenden alten Herren am Schöneberger Rathaus. Nicht nach diesem Erinnerungsherbst!" Aber schon im erfrischend leicht geschriebenen Vorwort wird der Leser eines Besseren belehrt. Es gibt da doch noch etwas, was bislang wenig beachtet blieb: Die Arbeit der letzten DDR-Regierung, der letzten DDR-Volkskammer. Wohl kaum ein Nichtfachmann kann aus dem Stegreif drei Minister der Regierung de Maizière benennen. Es sind die Protagonisten einer fast vergessenen, verwegenen Regierung, die 199 Tage im Amt war und eine einzige Aufgabe hatte: Die DDR und damit sich selbst abzuschaffen. Denn das war der eindeutige Wählerwille. Mit dabei war damals Matthias Gehler – als Regierungssprecher:

    "Mut und Naivität – beides haben wir gebraucht –, ohne hätten wir es vielleicht gar nicht gemacht! Wir haben gar nicht nachgedacht, ob wir das können! Wir haben es einfach getan. Und ich denke, wenn wir heute zurückblicken, haben wir es ganz gut getan, mit allen Abstrichen. Und das haben wir gemacht in einer Weise. Ich habe zwei Fahrer gehabt, die haben Überstunden gemacht! Ich weiß heute nicht, wann ich geschlafen habe in dieser Zeit!"
    Der Autor Ed Stuhler lässt sie alle zu Wort kommen, die Minister und Staatssekretäre und die Fraktionsvorsitzenden der frei gewählten Volkskammer. Es ist anregend zu lesen, wie mutig und kurz entschlossen damals von Menschen Politik gemacht wurde, die dies nie als ihr Lebensziel gesehen hatten und die sich wenig um Parteipolitik scherten. Und so kam der designierte Regierungschef Lothar de Maizière am Wahlabend mit dem Opel Manta seines Sprechers ins Berliner Medienzentrum.

    Gehler: "Ja, ich habe ihn gefahren! Es war mein erstes Westauto! Bei allen Manta-Witzen: Ich bin das Ding gefahren und es war gut! Es war so ein silbriges Auto mit roten Sitzen. Bin vorgefahren; keiner hätte gedacht, dass es de Maizière ist. Und so sind wir dann durch die Massen durchgekommen. Es war ziemlich hart: Wir haben alle blaue Flecken gehabt!"

    Ebenso ist es aber auch amüsant zu lesen, wie hemdsärmelig im wahrsten Sinne des Wortes Politik betrieben wurde, sodass sich der Kulturbürger und Ministerpräsident Lothar de Maizière die Haare raufen musste. Etwa, wenn die stellvertretende Regierungssprecherin Angela Merkel in Jesuslatschen zur Arbeit erschien oder wenn die Naivität über die realen Möglichkeiten triumphierte:

    "Machen sie mal mit einer Reihe von Pastoren Gesetze. Auweia. Gesetze kann man mit so einem Gutmenschenansatz nicht machen, die müssen einfach logisch stimmen. Da können sie noch soviel Herz-Jesu-Sauce haben und drüberkippen wollen – das bringt nichts."

    Max Streibl, damals Bayerns Ministerpräsident, sprach damals abschätzig von einer "Laienspielschar", traf damit sicher einen wunden Punkt, aber doch nicht den Kern der Sache. Denn die letzte DDR-Regierung und die Volkskammer haben viel geleistet im Rahmen ihrer personellen, logistischen und finanziellen Möglichkeiten. In sechs Monaten wurden 164 Gesetze verabschiedet. Von der Vorlage im Kabinett bis zur 2. Lesung in der Volkskammer verging selten mehr als eine Woche. Auf dem internationalen Parkett (aber) duldeten Kohl und Genscher keine weiteren Deutschen neben sich. Staatssekretär Misselwitz erinnert sich:

    Ab Juli 1990 war klar, dass die Vertretung der DDR in dem Prozess eher als notwendiges Übel oder als eine notwendige Zutat gesehen wurde.

    Spannend ist das Buch immer da, wo es um das Verhältnis DDR vs. BRD, DDR-Regierung vs. BRD-Regierung, Kanzler Kohl vs. Ministerpräsident de Maizière geht. Hier entfaltet sich ein diffiziles Wechselspiel zwischen gerade erstrittenem Selbstbewusstsein, Anpassung, Behauptung und Resignation gegenüber der ökonomischen Macht des Westens auf der Ostseite und gutgemeinter, selbstloser Hilfe, Vereinnahmung, Bevormundung auf der Westseite.

    Sehr interessant sind die Erzählungen darüber, wie die frisch ernannten Minister dem alten DDR-Personal in ihren Ministerien begegnen. Pfarrer aus der alternativen Protestkultur standen da plötzlich hackenschlagenden Funktionären vor. Packend sind auch die Schilderungen des heiklen Umgangs mit den Russen, die gerade in der ihnen entgleitenden DDR das letzte Faustpfand dafür sahen, dass die Welt ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg anerkannte.

    Noch einmal sehen wir Helmut Kohl in paternalistischer Geste die Ostdeutschen umarmen, auf dass es ihnen Wohl und Bange wurde, noch einmal den zaudernden Oskar Lafontaine das Thema deutsche Einheit und damit die Wahl für die SPD vergeigen.

    Der Autor konnte sich für seine Arbeit auf Interviews stützen, die der RBB für eine Fernsehdokumentation zum Thema geführt hatte. Und genau hier liegen Vor- und Nachteil des Buches eng beieinander: Ähnlich wie im Fernsehen reiht sich Zeitzeugen-Aussage an Zeitzeugen-Aussage. Das macht die Lektüre unterhaltsam und abwechslungsreich. Im Fernsehen entsteht so Dramatik, schließlich sieht man ja auch immer, wer spricht. Zu oft aber geht dem Leser der Überblick verloren: Wer spricht gerade? Der Autor, ein ehemaliger Minister, ein Staatssekretär? Und wenn ja, welcher? Da wäre eine deutlich übersichtlichere Gliederung nötig. Auch die O-Töne könnten mitunter lese-gefälliger aus der gesprochenen Sprache transkribiert werden.

    Was fehlt, mitunter schmerzlich, sind Wertungen von außen, vom Autor, von Experten. Dem Leser bleibt nur, sich aus den mitunter widersprüchlichen Aussagen der Zeitzeugen ein Bild zu machen, etwa, was die sehr kontrovers diskutierte Frage der Rolle der Westberater in den DDR-Ministerien angeht.

    Dennoch bleibt "Die letzten Monate der DDR" ein sehr lesenswertes, informatives und mitunter auch komisches Buch über Menschen, die für Momente Weltgeschichte schrieben.

    Henry Bernhard über "Die letzten Monate der DDR". Das Buch von Ed Stuhler ist seit heute im Buchhandel, im Ch. Links Verlag erschienen, 248 Seiten für 19 Euro 90 (ISBN: 978-3-86153-570-6).