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Gehen
Kontroverse Debatte um neuen Mixed-Wettbewerb bei Olympia

Gehen gehört seit fast einem Jahrhundert zum Olympischen Kernprogramm der Leichtathletik. Der Parade-Wettkampf, das 50 Kilometer-Rennen, wird bei den Spielen in Paris aber durch eine Mixed-Staffel ersetzt. Das sorgt für große Diskussionen.

Von Raphael Späth |
Christopher Linke beim Wettkampf über 20 Kilometer Gehen der Leichtathletik-WM in Eugene/USA. Der Geher bespritzt sich mit Wasser.
Geher Christopher Linke findet das neue Mixed-Format in vielen Punkten nicht durchdacht. (Michael Kappeler/dpa)
Es war das große Ziel des Internationalen Olympischen Komitees und eines der persönlichen Anliegen von Präsident Thomas Bach:
„The Olympic Games Paris 2024 will be more inclusive, more youthful, and they will be the very first Olympic Games with full gender parity.“
Die Olympischen Spiele in Paris werden die ersten Sommerspiele der Geschichte, an denen genauso viele Frauen wie Männer teilnehmen. Auch in der traditionellen Leichtathletik-Disziplin Gehen wird es erstmals Geschlechterparität geben.
Die 50-Kilometer-Distanz der Männer, seit 1932 im Programm und für die Geher das zweite Medaillenrennen neben den 20 Kilometern, wird in Paris durch eine Mixed-Staffel ersetzt. Je ein Mann und eine Frau gehen dabei abwechselnd insgesamt rund 42 Kilometer. Das Äquivalent zur Olympischen Marathon-Distanz.
„Auf der einen Seite finde ich natürlich gut, dass wir noch eine zweite Strecke haben. Das ist erstmal das Positive. Jedoch sehe ich das noch nicht so ganz durchdacht, diese Mixed-Staffel", sagt Geher Christopher Linke, Silbermedaillengewinner bei der vergangenen EM.
„Eine Staffel ist für mich: Man macht seinen Wettbewerb, ist danach fertig und gut ist. Und jetzt ist aber das Thema: Man macht 10,5 km, wartet 10,5 km und geht dann nochmal 10,5 km. Also 40 Minuten Belastung, nach denen man eigentlich komplett fertig ist, 40 Minuten Pause, was ja eigentlich auch zu wenig ist, um sich zu erholen, um dann nochmal einen Wettkampf zu machen. Das ist halt für mich einfach überhaupt nicht durchdacht.“

Sehr viele negative Reaktionen auf die neue Disziplin

Das sehen viele Athletinnen und Athleten ähnlich. Bianca Dittrich, die die deutsche Bestzeit über die 50-Kilometer-Distanz bei den Frauen hält, hat durch einen Instagram-Post des Leichtathletik-Weltverbandes vom neuen Wettbewerb erfahren.
„Ich hab mir dann mal die Kommentare unter dem Beitrag durchgelesen, die zu 99 Prozent negativ waren. Athleten, Trainer und auch Gehrichter haben gesagt, dass sie die Entscheidung nicht verstehen und vor allem auch nicht wissen, mit wem die Entscheidung abgesprochen wurde.“
Vor allem die im Gehen ungewöhnliche Distanz von knapp über zehn Kilometern sorgt für Verwunderung.

Neue Distanz mit Geher-Technik nicht vereinbar

„Das Problem ist: Im Gehen gibt es eine bestimmte Technik, an die man sich halten kann“, erklärt Christopher Linke.
„Und die ist mittlerweile so ausgefeilt, also sagen wir mal so: Uns ermöglicht diese Technik nicht, noch schneller zu gehen. Also sind diese 20 km so von der Technik her ausgefeilt so schnell geworden, also technisch am Limit, dass es eigentlich gar nicht noch schneller geht. Und demzufolge sind die 10 km ja eigentlich viel zu kurz.“
Linke befürchtet, dass viele Staffeln wegen technischer Ungenauigkeiten disqualifiziert werden. Jon Ridgeon, Geschäftsführer des Leichtathletik Weltverbands meint laut eines offiziellen Presse-Statements hingegen: Das neue Format sei darauf ausgelegt, innovativ, dynamisch und unvorhersehbar zu sein. Aber: Ist das auch ein Garant dafür, mehr Menschen für die Sportart Gehen zu begeistern?

Wirtschaftliche Interessen haben Vorrang

Spotsoziologin Christiana Schallhorn von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz forscht über die Sehgewohnheiten des TV-Publikums. Sie glaubt, dass dieses neue Format das Fachpublikum eher abschreckt als anlockt.
„Aber für die Allgemeinheit, die vielleicht nicht so ein Expertentum in diesen Langstrecken hat, könnte es durchaus interessanter werden, weil sich einfach mehr tut, weil mehr Abwechslung drin ist, weil mehr Spannung durch diese Wechsel erzeugt wird. Und darauf wird es am Ende auch ankommen: Mehr Attraktivität zu haben, um die Einschaltquoten hochzuhalten, um eben infolgedessen auch für Sponsoren usw. interessant zu sein.“
Wirtschaftliche Interessen - im Sport und auch für das IOC sind sie inzwischen einer der entscheidenden Faktoren.
Das neu kreierte Event sorgt aber auch dafür, dass es für Geherinnen und Geher im nächsten Jahr vermutlich weniger Startplätze geben wird.
„Das heißt, aus ehemals sieben Leuten zu Olympia sind jetzt nur noch vier Leute bei Olympia“, sagt Christopher Linke.
„Das ist natürlich vor allem förderungstechnisch für uns Geher immer schwierig. Wenn man nicht beim internationalen Höhepunkt startet, dann ist die Förderung fast gleich null. Das ist natürlich für die Leute, die bisher die lange Strecke gemacht haben, mehr oder weniger ein Todesurteil förderungstechnisch.“

Dittrich startet Petition gegen neues Format

Trotzdem hat sich Langstreckenspezialistin Bianca Dittrich dazu entschieden, das neue Format zu boykottieren.
„Wenn wir von fairen Bedingungen reden, von fairen Vorbereitungsbedingungen auf Olympische Spiele, dann kann man nicht innerhalb des Qualifikationszeitraumes, in dem wir uns jetzt schon befinden, einfach so eine drastische Änderung der Streckenlänge und auch des Formats ins Leben rufen.“
In einer Petition, die inzwischen mehr als 800 Unterstützer hat, fordert sie den Leichtathletik-Weltverband und das IOC dazu auf, den neuen Mixed-Wettbewerb noch einmal zu überarbeiten.
„Ich fand es einfach wichtig, in der Öffentlichkeit anzusprechen, dass wir damit nicht zufrieden sind. Dass es nicht unsere Meinung vertritt. Und ich finde, unsere Sportart besteht aus drei Protagonisten: Die Athleten, deren Trainer, und dann die Gehrichter. Ohne diese drei Komponenten oder Protagonisten mag man es nennen, wie man es will, gibt es unsere Sportart nicht, gibt es keine Wettkämpfe in unserer Sportart. Und ich finde, man muss definitiv diese Parteien befragen und mit einbeziehen in so eine Entscheidung.“
Der Leichtathletik-Weltverband schreibt auf Anfrage, dass eine achtköpfige Beratergruppe aus Athleten, Trainern und Gehrichtern in den Prozess involviert gewesen sei. Außerdem werde das neue Format Stand jetzt nur in Paris, und nicht bei anderen Wettbewerben, wie etwa den Weltmeisterschaften in diesem Jahr, durchgeführt. Unklar ist noch, wie die Qualifikationskriterien für diesen einzigartigen Wettbewerb aussehen. Im Presse-Statement heißt es nur: Weitere Informationen folgen in Kürze. Wann genau, weiß bisher niemand.