Manfred Weber, der Vorsitzender der EVP-Fraktion im Europaparlament ist, erwartet eine "massive Entfremdung" zwischen der Europäischen Union und der Türkei, auch angesichts der dortigen Debatte über eine Wiedereinführung der Todesstrafe. Diese Entfremdung werde für die Türkei auch wirtschaftliche Folgen haben, betonte Weber im Deutschlandfunk.
Die Vorstellung, die Türkei könne Vollmitglied der EU werden, bezeichnete der CSU-Politiker als "irreal". Auch weitere Fortschritte in den Beitrittsverhandlungen seien nun unrealistisch.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan müsse sich die Frage stellen, ob er weiter Keile in die Gesellschaft treiben wolle, oder ob er versöhnen wolle. "Und es wäre gut, wenn er versöhnt", sagte Weber.
Die EU rief er dazu auf, trotz allem mit Besonnenheit zu reagieren. Punktuell sei auch eine Zusammenarbeit mit der Türkei weiter sinnvoll, denn: "Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen."
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Doris Simon: Mitgehört hat Manfred Weber (CSU), Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Guten Morgen!
Manfred Weber: Guten Morgen, Frau Simon.
Simon: In der Nacht von Freitag auf Samstag, da musste man sich Sorgen machen um die Regierung in der Türkei. Muss man sich heute Sorgen machen um die Demokratie in der Türkei?
Weber: Ja, die Entwicklungen machen schon Sorge. Wenn es jetzt innerhalb von wenigen Stunden Tausende von Verantwortlichen gibt, die jetzt der Ämter enthoben werden, dann spricht viel dafür, dass fertige Listen vorgelegen haben. Und wenn Erdogan davon spricht, dass es ein Geschenk Allahs war, dieser Militärputsch, dieser vereitelte Militärputsch, dann sorgt das schon für Sorge bei den Partnern in Europa.
Simon: Das heißt, gehen Sie davon aus, dass der Militärputsch gar kein Militärputsch war?
Weber: Natürlich, doch. Das waren Teile des Militärs, die versucht haben, die Macht zu übernehmen. Und es ist gut, dass dieser Putsch auch vereitelt worden ist, dass es dazu nicht gekommen ist. Wir wollen keine Militärregierungen in Europa und in der Nachbarschaft. Und deswegen ist es gut, dass wir Stabilität zunächst haben in der Türkei, dass es nicht zu weiteren Todesfällen kommt. Und es ist auch gut, dass die verfassungsgemäße Ordnung zunächst wiederhergestellt worden ist. Aber Erdogan muss sich jetzt die Frage stellen, ob er eine Spaltung des Landes will, ob er weiter Keile in die Gesellschaft treiben will. Oder ob er versöhnen will. Und es wäre gut, wenn er versöhnt.
Simon: Das ist viel Hoffen, denn wenn Sie auf die Situation schauen, es sind schon längst die Medien gleichgeschaltet, Journalisten werden unter Druck gesetzt und ins Gefängnis gebracht, die kurdischen Abgeordneten haben ihre Immunität verloren und jetzt dieser Putschversuch mit anschließender Säuberungswelle. Tatsächlich aber ist es doch so: Solange wir in Europa die Flüchtlingskrise haben, das Abkommen mit der Türkei, kann sich Erdogan doch eigentlich alles erlauben.
Weber: Nein, die Türkei kann sich nicht alles erlauben. Sie ist ein enger Partner der Europäischen Union und sie braucht die Europäische Union, gerade in wirtschaftlicher Hinsicht.
Simon: Aber wir sie auch!
Weber: Natürlich. Partnerschaft setzt immer zwei Richtungen voraus. Wir sind Nachbarn. Man kann sich seine Nachbarn nicht aussuchen, wenn ich das so sagen darf. Wir müssen auch mit Putin kooperieren, obwohl der Schwierigkeiten macht, obwohl der im Verhalten natürlich für uns herausfordernd ist. Und so ist es jetzt in der Türkei auch. Wir werden mit den Nachbarn leben müssen, die wir haben. Aber klar ist: Wir stehen für Prinzipien. Und deswegen muss die Türkei wissen: Wenn jetzt ernsthaft über die Einführung der Todesstrafe wieder diskutiert wird, dann wird das zu einer massiven Entfremdung führen. Und das wird die Türkei auch spüren, weil es dann um wirtschaftliche Fragen geht, die dann mittelfristig auch Wirkung haben werden. Wir wollen die Partnerschaft, aber das muss eine Partnerschaft sein, wo man sich auf gemeinsamem Grund bewegt.
Simon: Sie sprechen von Entfremdung und sprechen von wirtschaftlichen Folgen. Was meinen Sie genau, Herr Weber?
Weber: Das sind langfristige Fragen. Jetzt sind wir wirklich in einigen Tagen sozusagen nach diesem Militärputsch.
Simon: Aber die Todesstrafe könnte auch kurzfristig eingeführt werden.
Weber: Visa-Liberalisierung ist in weite Ferne gerückt
Weber: Ja, natürlich. Die Türkei ist Nachbar und die inneren Fragen der Türkei muss die Türkei zunächst selbst lösen. Da werden wir als Europäer beratend sein, da werden wir als Europäer Nachbarn sein, die einen guten Willen zeigen und eine Partnerschaft wollen. Aber die inneren Fragen muss die Türkei zunächst selbst klären. Klar ist, dass die Punkte, die wir zum Beispiel bei der Visa-Liberalisierung diskutiert haben, jetzt in extrem weite Ferne gerückt sind. Wir haben im Europäischen Parlament die Visa-Liberalisierung ja eingefroren, weil die Kriterien dafür nicht umgesetzt worden sind in der Türkei. Und mit dem Wochenende ist eine Visa-Liberalisierung jetzt in weite, weite Ferne gerückt.
Simon: Aber wenn wir noch mal auf die einzelnen Punkte schauen, die Sie auch angesprochen haben: mögliche Wiedereinführung der Todesstrafe, Verhaftung von vielen auch demokratischen Kräften bei dieser Gelegenheit. Es werden ja nicht nur Soldaten und Generäle verhaftet. Reichen da wirklich verbale Warnungen? Kann man da wirklich sagen, das ist eine interne Angelegenheit der Türkei?
Weber: Die Anforderungen von unserer Seite als Partner der Türkei sind: Wir freuen uns, dass die rechtsstaatliche verfassungsgemäße Ordnung erhalten werden konnte. Und im Umkehrschluss bedeutet das, dass wir von der Türkei erwarten, dass sie genau diese Ordnung jetzt anwendet, dass genau die möglichen Putschisten jetzt nach verfassungsgemäßen, nach rechtsstaatlichen Prinzipien abgeurteilt werden. Und das muss man jetzt die nächsten Wochen beobachten, ob das der Fall sein wird. Was jetzt notwendig ist, ist Besonnenheit von beiden Seiten. Wir sollten keine Schnellschüsse an den Tag legen im Sinne von Drohungen aussprechen. Und andererseits ist Besonnenheit bei den türkischen Verantwortlichen notwendig, jetzt die Lage nicht weiter zu eskalieren, sondern Brücken zu bauen, Partnerschaft aufzubauen.
Simon: Wenn Sie sagen, wir sollten keine Drohungen aussprechen, hängt das auch damit zusammen, dass eigentlich Deutschland und die EU - das hat sich ja in den letzten Jahren gezeigt - sehr wenig Einwirkungsmöglichkeiten auf die Türkei haben?
Weber: Wie gesagt, das ist ein souveränes Nachbarland. Wir haben versucht, mit vielen Gesprächen, mit vielen Einzelabkommen mit der Türkei eine positive Entwicklung zu machen. Und in einigen Bereichen ist das auch gelungen. Gerade im wirtschaftlichen Bereich ist die Türkei mit der Europäischen Union engstens vernetzt. Allerdings ist klar, jetzt sind wir an einem Wendepunkt. Und gerade die Grundsatzfrage, ob die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden kann, wird in den nächsten Wochen grundsätzlich auch zu beantworten sein. Ich möchte mir da nichts vormachen. Mit den Entwicklungen, die wir jetzt in der Türkei haben, ist auch diese Frage in weite Ferne gerückt. Und wir sollten da ehrlich miteinander umgehen. Wir brauchen bei einzelnen Themen, beispielsweise Wirtschaft, oder beispielsweise auch bei der Flüchtlingsfrage, wie wir es ja schon praktiziert haben, Einzelabkommen, einzelne Partnerschaftsabkommen, wo wir miteinander einen gemeinsamen Weg gehen. Aber die Frage, dass die Türkei jetzt mit weiteren Beitrittskapiteln kommt, dass wir dort neue Fortschritte machen in den Beitrittsgesprächen, das scheint mir ziemlich irreal zu sein.
Simon: Aber selbst das, was Sie gerade angesprochen haben - Sie, Herr Weber, treten ja seit Langem für punktuelle Zusammenarbeit mit der Türkei ein, etwa in diesen Flüchtlings- und Wirtschaftsfragen -, kann man da wirklich, wie Sie es zuletzt gefordert haben, jetzt in dieser Situation der Türkei ein attraktives Angebot machen?
Weber: Türkei bleibt strategischer Partner der EU
Weber: Wir brauchen jetzt sicher erst mal eine Phase der Abkühlung, auch des Durchatmens. Wir sind jetzt wenige Tage nach diesem Militärputsch. Deswegen brauchen wir jetzt Besonnenheit. Aber mittelfristig müssen wir uns die Frage stellen, wie denn die Partnerschaft mit unseren Nachbarstaaten ausschaut. Und die Türkei ist da ein zentraler strategischer Partner für die Europäische Union.
Simon: Egal wie sie intern undemokratisch vorgeht?
Weber: Frau Simon, sehen Sie, wir werden auch bei der Flüchtlingsfrage mit Libyen auch mit Ägypten reden müssen, weil Nordafrika dabei strategische Partner ist, wenn es um Flüchtlingsfragen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen wird. Wir können uns unsere Nachbarn nicht aussuchen. Sie sind so wie sie sind. Wir können anbieten, dass wir ein gutes Vorbild sind, dass wir Europäer unsere Prinzipien ernst nehmen, dass wir sie umsetzen. Aber wir können nichts erzwingen. Und deswegen glaube ich schon, dass es Sinn macht, mit allen unseren Nachbarn partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Wir sollten uns aber von mancher irrealer Vorstellung trennen. Und dazu zählt für mich, dass die Türkei ein Vollmitglied der Europäischen Union werden kann. Wir brauchen Ehrlichkeit in den Beziehungen, sachliche Zusammenarbeit wie beispielsweise bei der Flüchtlingsfrage. Der Flüchtlingspakt funktioniert ja relativ gut. Die Türkei hat bisher vertragstreu gearbeitet und auch wir Europäer. Wenn die Menschen in der Türkei und auch in Europa sehen, dass eine punktuelle Zusammenarbeit Sinn macht, dann entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens und des Miteinanders. Und mit den Beitrittsgesprächen haben wir eher eine Atmosphäre der Sorge und auch der Angst bei den Menschen, dass dieser Beitritt kommen könnte. Deswegen hin zu Ehrlichkeit, hin zum Realismus.
Simon: In Sachen Beitritt sind Sie, ist Ihre Partei ja schon sehr viel länger als nach diesem Putschversuch und die Repressionen danach dagegen. Man könnte das aber auch umdrehen. War das am Ende nicht ein Fehler, die Türkei schon früher aufzunehmen in die EU, denn man sieht ja bei EU-Ländern, wenn die aus der Spur geraten, dann haben die Institutionen zwar nicht viele, aber doch ein paar Druckmittel?
Weber: Konzept der Vollmitgliedschaft stößt an Grenzen
Weber: Wir haben in der Entwicklung mit der Türkei Aufs und Abs gehabt in den letzten Jahren. Und ich glaube, dass das Konzept, das wir im Moment Staaten die Mitgliedschaft in der Europäischen Union anbieten, dass dieses Konzept jetzt an seine Grenzen gestoßen ist. Das hat in der Europäischen Union, in Europa sehr, sehr klar funktioniert, aber spätestens wenn es jetzt um unsere Nachbarregionen geht, an die Ukraine, an die Türkei, oder auch in Nordafrika, brauchen wir neue Konzepte der Partnerschaft. Da ist dieses Konzept der vollen Mitgliedschaft keines mehr, das trägt.
Simon: Auch wenn man dann keinen Einfluss hat?
Weber: Wir haben Einfluss. Ich wiederhole das noch mal. Aber das sind begrenzte Einflussmaßnahmen. Ich wage mal die Behauptung, wir verhandeln ja mit der Türkei seit über zehn Jahren. Was haben denn diese zehn Jahre Verhandlungen an Fortschritten in der Türkei gebracht? Deswegen sollten wir ganz ehrlich miteinander umgehen, dass der jetzige Ansatz, die Vollmitgliedschaft, nicht trägt. Und ganz ehrlich gesagt: Ein Mitglied, ein Staat, der sich nur positiv entwickelt, weil er die Mitgliedschaft in Europa angeboten bekommt, das scheint mir eine nicht sehr tragfähige Grundlage zu sein. Ich glaube, dass die inneren Fragen, die inneren Strukturen eines Landes doch eigentlich ausschlaggebend sein müssen, dass man sich demokratisiert und dass man Richtung Rechtsstaatlichkeit geht. Es ist jetzt positiv, dass der Militärputsch niedergeschlagen worden ist, dass wir die verfassungsgemäße Ordnung haben. Und es ist jetzt eine Riesenchance für die Türkei zu beweisen, dass man diese Ordnung auch ernst nimmt und jetzt auch rechtsstaatlich mit den Problemen umgeht.
Simon: ... sagt Manfred Weber (CSU), der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Herr Weber, danke für das Gespräch.
Weber: Ich bedanke mich.
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